Das Boot ist faul

Die aktuelle „Flüchtlingskrise“, wie sie in der Öffentlichkeit fälschlicherweise genannt wird, bohrt den Finger in die Wunden der westlich-demokratischen Spähre. Je länger die Diskussion dauert, desto weniger scheint es, als könnten sich menschenrechtskonforme Lösungen durchsetzen.

Die Hardliner*, die Ignorant*innen von Demokratie und Menschenrechten, die Vereinfacher*, die Lobbyist*innen der militärischen Lösungen und Abschotter[1] setzen sich durch. Das Ergebnis: Grenzzäune hoch, Kontrollen ausbauen, Flüchtlinge loswerden, am besten sie dort festhalten, wo sie jetzt sind. Merkels Reise in die Türkei hat nur einen Zweck – faule Kompromisse aushandeln; mit Geld ein fragwürdiges Regime Erdogan in seinem menschenrechtswidrigen Handeln bestätigen.

Der heisse Sommer der Hoffnung, denn wir in den letzten Monaten in Europa erlebten und der eng mit der Haltung Deutschlands und Österreichs in Verbindung stand, gekennzeichnet von einem freien Geleit der Flüchtlinge, vom Aussetzen der Dublin Verordnung und der großzügigen Aufnahme der Flüchtlinge, der steht kurz vor dem Ende. Selbst das mächtige Deutschland scheint gegen das herrschende EU-Regime machtlos zu sein und sich nicht durchsetzen zu können. Die Reise Merkels in die Türkei mit dem Ziel, die Flüchtlinge abzuhalten nach Europa zu kommen, ist der sichtbareste Beweis und die Kapitulation vor einer Lösung, die die Menschenrechte im Mittelpunkt des Handelns sieht. Jeder Tag, der ohne europaweite Lösung vergeht, rückt das Ende der Flüchtlingsaufnahme näher. Die Hoffnung schwindet, es würde eine neue EU Doktrin etabliert werden können.

Die öffentlichen Diskurse verengten sich mit Eintritt der offiziellen Politik, mit Eintritt der Innenminister und Rats- und Ministerpräsidenten. Mit einem Male gab es zur herrschenden Politik keine Alternativen mehr.

„Realität“

Wir haben keine Flüchtlingskrise, sondern eine Politikkrise und eine Krise der demokratischen Institutionen sowie der Verantwortlichen (Innenminister, Regierungschefs), die es nicht schaffen, ein Asylsystem europaweit zu etablieren, das auf der europäischen Menschenrechts- und Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Europäischen Grundrechtecharta basiert. Es ist eine Politik, der es in kurzer Zeit gelingt, Konflikte – wie Brandbeschleuniger – zum Eskalieren zu bringen und der es aber auch nicht gelingt, Kriege und gewalttätige Konflikte, die bereits viele Jahre[2] dauern, zu beenden. Es ist die große Krise dieser Realität, die uns permanent vorgegaukelt wird, als sei es die einzig mögliche.

Diese „Realität“ zwingt uns EU_BürgerInnen, die Augen zu verschließen vor den tausenden Toten[3] vor unseren Toren. Es wird uns aber auch leicht gemacht, da die Probleme sich fernab der Wohlstandszonen auftürmen und ein leichtes ist, so zu tun, als hätten wir damit nichts zu tun. Menschen müssen unmenschliche Bedingungen für ihre Flucht auf sich nehmen. Sie werden von Mauern, Grenzzäunen, Nachtsichtgeräten, patroullierenden Sicherheitskräften und Kriegsschiffen und vielem mehr, was militär-technisch alles möglich ist, abgehalten, einen sicheren Hafen für ihr Leben zu finden. All das treibt sie – die Hilflosen, die Ohnmächtigen, die Schutzsuchenden – in die Arme von Schleppern und Menschenhändlern und nicht selten in den Tod.

Und wenn sie es trotzt allem geschafft haben, werden sie mit Bürokratie, mit langen Verfahrensdauern, mit schlechten Unterkünften und mangelndem Rechtsbeistand weiter bedrängt. Ihnen wird mißtraut und sie werden als „Asylanten“ denunziert. Sie bleiben marginalisiert, ausgegrenzt, werden als kulturell anders punziert und rassistisch bedroht. Sie dienen als „Gruppe“ politisch als Faustpfand für eine rechtsgerichtete Innen- und Medienpolitik, die hetzt, gegeneinander ausspielt und die Entsolidarisierung in Demokratien vorantreibt.

Aufgehört, westlich demokratisch zu sein

Wenn die EU-Doktrin der „Festung Europa“[4] in dieser Form bestehen bleibt und so wie es jetzt aussieht auch noch ausgebaut wird, dann haben die europäischen Staaten und die „westliche Welt“ aufgehört, westliche Welt zu sein. Dann haben sie aufgehört, sich auf Menschenrechte und Demokratie berufen zu dürfen.

Die Folgen und Kosten[5], die gesellschaftlich, ethisch, sozial, juristisch und ökonomisch durch dieses Regime der Abschottung entstehen, sind außerordentlich. Seit Etablierung dieses Regime, seit Einführung von Trevi, Schengen, Dublin und Co. ab den 1980er[6] fanden Dammbrüche in der Gesellschaft statt. Regierungen[7] haben den Rechtsstaat ausgehöhlt, um Flüchtlinge abzuwehren, die GFK[8] mißinterpretiert und nivelliert. Sie haben den Zugang zu Asylverfahren verschärft, Schikanen eingebaut, um Flüchtling nicht als Flüchtlinge ansehen zu müssen, sondern sie als illegale MigrantInnen behandeln zu können. Sie haben das Militär an die Außengrenzen[9] gestellt. Erhoben das Credo „nicht bei mir[10]“ zur Handlungsmaxime und entwickelten schließlich eine Schengen und Dublin Konstruktion (1997), die Millionen Euro in die militärisch-technische Abwehrschlacht[11] umgeleitet und dem militär-industriellen Komplex enorme Gewinne verschafft haben. Das Grundproblem, das nämlich weiterhin immer mehr Flüchtlinge „produziert“ werden, die Schutz und Sicherheit suchen – ist weniger denn je gelöst und das traurige Ergebnis kennen wir.

Dublin I-III[12] schickte tausende AylwerberInnen pro Jahr von einem EU-Land zum anderen hin und her, ohne dass dies irgendetwas substantiell an der Rechtssicherheit, der Qualität der Verfahren und deren Vefahrensdauer, der Unterbringung und dem Schutz vor Verfolgung geändert hätte.

Nicht das Boot ist voll, sondern das Boot ist faulig.

Die aktuelle Krise macht den fundamentalen Widerspruch deutlich. Orban (Ungarn), Seehofer (Bayern), Strache (Österreich), Tusk (Polen), Cameron (UK) und andere, die an der Festung Europa festhalten, sehen sich im Recht. Und rein formal betrachtet haben Deutschland und Österreich das geltende EU Regime tatsächlich außer Kraft gesetzt. Nämlich die Grenzen aufgemacht, die Versorgung sichergestellt und so unendliches weiteres Leid der Flüchtenden verhindert. Wir haben für wenige Wochen den Mißtrauensgrundsatz, der diesem EU-Regime und den meisten nationalstaatlichen Regierungen innewohnt, hintergangen und den Flüchtligen vertraut, dass sie Schutz und Sicherheit benötigen.

Ungarn hingegen tat genau das, was die Festung Europa verlangt: Grenzen dicht machen, Zäune hoch, Flüchtlinge abwehren, Militär, Polizei und das ganze Programm. Die letzte Konsequenz ist bisher noch nicht umgesetzt worden, jedoch muss sie ins Auge gefasst werden, wenn die große Zahl an Flüchtlingen, die in die EU kommen, weiter anhält. Dass nicht nur Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt werden, sondern irgendwann früher oder später auch der Schießbefehl erfolgt und auf Flüchtlingen – die sich möglicherweise dann mit Gewalt Zutritt verschaffen wollen – geschossen wird. Auch dieser Dammbruch ist bei einer scheinbar logischen alternativlosen Kette der „Realität“ denkbar. So inszeniert Politik kriegsähnliche Zustände.

Das obszöne und beschämende daran ist, dass dieses Haltung nicht jene, einer verschwindenden Minderheit innerhalb der EU ist, sondern die offizielle „EU Position“ darstellt. Insoferne war der Tabubruch, den Deutschland, Österreich und Schweden taten, bedeutend.

Die Flüchtlingsbewegung lässt sich dennoch nicht abhalten davon, in sichere Länder zu gelangen. Ähnlich ist es mit dem immer wieder ausgerufenen Kampf gegen die Schlepperkriminalität, die zweifelsohne bedenklich ist und enormen Schaden verursacht und nebstbei mit gewaltigen Gewinnspannen ausgestattet werden. Hingegen verfolgen die Nationalstaaten und die Innenminister der EU seit Jahrzehnten die immer gleichen Strategien, die so erfolglos wie teuer, wie zukunftslos sind. Genau sie befeuern erst die Schlepperei[13].

Wie kann man das Boot wasserdicht machen?

Die Gegenvorschläge sind ebenso seit Jahrzehnten vorhanden und sie klingen alle mal vernünftiger, als dass, was die Herrschenden tun und als Ergebnis präsentieren können. Die Gegenvorschläge[14] sind einfach. Die Registrierung von Flüchtlingen sollte ortsnah der Konflikte stattfinden können. Dort sollte neben der Registrierung auch die Verfahren der Flüchtlinge abgewickelt werden können. Da gehören internationale Kommissionen her, ExpertInnen für Asylverfahren vor Ort. Früher hieß die vereinfachte Variante davon Botschaftsasyl[15]. In Zukunft könnten die diskutierten Hotspots etwas Ähnliches[16] bedeuten.

Flüchtlinge werden in der Türkei, Jordanien, Libanon[17] aufgenommen, erhalten ein Verfahren, das der GFK und rechtsstaatlichen Kriterien entspricht. Ihr Antrag wird begutachtet und bei Wahrscheinlichkeit von Anerkennung[18] werden die Flüchtlinge unter Berücksichtigung von familiären Banden in Ländern auf die EU Staaten verteilt. Dort – ähnlich dem Resettlementprogramm der USA und anderer Staaten – erfolgen unmittelbar nach Ankunft die Unterstützungsmaßnahmen zur Integration. Die Reise in die jeweiligen Länder werde als sicheres Geleit funktionieren, die Kosten werden vom Staat übernommen. Die Schlepper gehen für diese Reise zumindest leer aus.

Schließlich braucht die EU dringend Übertritts- und Übergangs-Regelungen, die legale Einwanderung ermöglicht und es jenen ermöglicht, aus dem Asylverfahren auszusteigen oder nach Ende des Asylverfahrens, dennoch legal den Arbeitsmarkt zu gelangen, wenn sie schon einen gewissen „Integrationsgrad“ aufweisen, wie es etwa in Österreich in den letzten 30 Jahren immer wieder der Fall war. Dass dieses Konzept nix utopisches ist, zeigen in der Vergangenheit die großen Programme der USA, die damit Millionen von Flüchtlingen mühelos aufgenommen haben. An diese Traditionen sollten wir sie nebstbei auch nachdrücklicher erinnern, denn auch ihr Engagement ist derzeit beschämend.

[1] Hier sind Frauen explizit mitgemeint, um die Leserlichkeit zu gewährleisten, wurde auf die weibliche Form in dieser Passage verzichtet.

[2] Syrien, Irak und Afghanistan sind nur einige aktuelle Beispiele dafür.

[3] Einer Untersuchung einer Gruppe von Journalisten zufolge sind von 2000 – 2014 über 23.000 Personen an den Außengrenzen Europas zu Tode gekommen, mehr unter http://www.nzz.ch/die-toten-vor-europas-tueren-1.18272891

[4] Manifestiert etwa durch Schengen und Dublin Abkommen, Amsterdamer Verträge und Frontex

[5] Kosten hier im Sinne als gesellschaftliche und soziale Folgen verstanden.

[6] Dies war ja kein einmaliger Akt sondern erfolgte Schritt für Schritt.

[7] Zumeist bestehend aus christlich-sozial-liberal-konservativ oder im weitesten Sinne sozialdemokratisch.

[8] Genfer Flüchtlingskonvention 1951, Zusatzprotoll 1967, Rom.

[9] Österreich obliegt das Privileg das als erstes Land durcchgeführt zu haben, in Form des Assistenzeinsatzes 1990.

[10] Not in my backyard

[11] Siehe auch http://futurezone.at/netzpolitik/eu-steckt-milliardensummen-in-hightech-grenzschutz/34.739.666

[12] Dublin I wurde 1997 erstmals umgesetzt. Es folgten danach Anpassungen. Dublin III stellt die jüngste Fassung davon dar und ist seit 2014 in Kraft.

[13] http://derstandard.at/2000023542531/Experte-Grenzzaeune-machen-Schlepperei-erst-moeglich?ref=article

[14] Ohne jetzt auf die Prävention, Eindämmung und Vermeidung der Entstehung von Fluchtbewegungen näher einzugehen. Das wäre ein eigenes Kapitel.

[15] Das Botschaftsasyl wurde 2001 von der Schwarz Blauen Koalition, unter Innenminister Ernst Strasser abgeschafft.

[16] Es wird genau zu beobachten sein, wie diese hotspots im konkreten umgesetzt werden.

[17] Aber auch im Iran oder Uzbekistan, in Kenia und anderen benachbarten Staaten von Krisenregionen

[18] Auch den subsidiären Schutz mit einbeziehend.