Die Kunst, Demokratie zu verteidigen
Vorsorge, Selbsthilfe, Netzwerke und Verhalten ändern
Vorspann
Der Ausgangspunkt für die folgende Serie war ein Workshop zum Thema „Extremismus“[1]. Wie häufig bei Workshops und Impulsreferaten, fehlte die Zeit, um auf die verschiedenen angerissenen Themenstellungen näher und ausführlicher einzugehen. Es wurde aber deutlich, wie groß das Interesse für die verschiedenen Aspekte rund um das Thema „Extremismus“ ist; und wie groß die verschiedenen Detailbereiche in dem Themenfeld sind.
In der öffentlichen politischen Diskussion wird ja häufig über „Extremismusprävention“ gesprochen und eine Vielzahl von Projekten und Programmen vorgestellt, die die Dringlichkeit des Themas betonen soll.
Selten jedoch werden aber tiefergehende Analysen, kontextuelle Zusammenhänge und historische Entwicklungen mitgeliefert. Dementsprechend wirken auch die praktischen Rezepte für etwaige „Gegenmaßnahmen“ bei genauerer Betrachtung isoliert. Bei näherer Betrachtung sind sie dann unter die Kategorie „more of the same“ einzuordnen, wenn daher bekannt und erprobt. Die Kehrseite dabei ist jedoch, dass sie selten untersicht wurden, ob sie adäquat und erfolgreich waren und ob sie für das jeweilige erfordernis im Thema erfolgversprechend waren.
Aus diesem Grund habe ich mir die Mühe gemacht, aus den Workshop Kapiteln eine Serie zu machen, die sich mit den Hintergründen und der Analyse beschäftigt. Im abschließenden Teil der Serie werden handlungsorientierte und praktische Überlegungen angestellt, die zukunftsweisend und erfolgversprechend sein könnten und auf die aktuellen Erfordernisse Bezug nehmen.
Im ersten Abschnitt des Beitrages werden einige wesentliche Ursachen und Rahmenbedingungen, die das Erstarken von Extremismus begünstigt haben, näher beleuchtet. Das wären das Erstarken des Neoliberalismus seit den 1960er, den Narrativen, die nach dem „Zusammenbruch des Ostblockes“ dominant wurden, dem Aufstieg des „Internets“ und der digitalen Revolution, sowie gleichzeitig den Auswirkungen auf und Entwicklungen in der Medienlandschaft, auf die öffentlichen Kommunikationslandschaften. Weiters wird das verstärkte Auftreten von Populismus ins Auge gefasst. Im zweiten Teil erfolgt eine Typologie der „Extremist*innen“. Denn auch dieses Label wird allzu gerne, allzu schnell angewandt und damit rasch auf Differenzierung und Unterscheidung verzichtet. Dabei dürfen ideologische Grundlagen ebenso wenig außer Acht gelassen werden, wie unterschiedliche Motive und Hintergründe. Gerade die jüngsten terroristischen (verhinderten) Anschläge zeigen eine völlig andere und neue Qualität, als jene, zuvor bekannten, extremistischen Taten.
Schließlich im dritten Teil werden – aus diesen Erkenntnissen und Differenzierungen heraus, die Interventions- und Präventionsaktivitäten unter die Lupe zu nehmen und auf ihre Wirksamkeit zu prüfen. Nicht zuletzt deswegen, da – zumindest mittelfristig – kein Ende des extremistischen Zeitalters abzusehen ist.
[1] https://www.fh-joanneum.at/veranstaltung/tag-der-sozialen-arbeit/
1. Ursachen und Rahmenbedingungen
Wir kommen nicht umhin, etwas tiefer auf die jüngere Geschichte zurückzuschauen und darin drei wesentliche Aspekte für das Erstarken von extremistischen Haltungen und Handlungen zu erkennen. Es gibt viele weitere, das sei hier vorausgeschickt und die auch näher beleuchtet gehörten. In einem ersten Versuch, dem umfangreichen Thema Herr zu werden, habe ich mich aber auf die genannten konzentriert. Weitere Ergänzungen und Kapiteln sind nicht auszuschließen.
1.1. Der Neoliberalismus
Es kling ja ein bisschen wie eine typisch linke Phrase, wenn man sich dem Neoliberalismus nähert und ihn für allerlei Böses in der Welt verantwortlich macht. Aber nehmen wir den überschäumenden Gestus und Alarmismus weg, so bleibt uns doch nicht erspart, genauer auf die tief in die Gesellschaft eingesickerten Aspekte, die den Neoliberalismus ausmachen, zu blicken und darin Extremismus förderliche Versatzstücke zu finden.
Neoliberalismus – wie der Name schon sagt – greift auf den Liberalismus aus dem 19. Jhdt. zurück. Dieser, noch unter dem starken Eindruck der Aufklärung und der französischen Revolution, stellte die Freiheit ins Zentrum der Bestrebungen. Damit sollte der Staat so wenig wie möglich in die Wirtschaft und das Leben der Menschen eingreifen, was er in der ersten Phase auch tatsächlich tat.
In der ersten Hochphase des Liberalismus, insbesondere in den angelsächsischen Ausformungen („Manchester Liberalismus“) führte das einerseits zu einem enormen Reichtum von einigen wenigen „Kapitalisten“ und andererseits zu einer verarmten Arbeiterschicht, die ursprünglich hauptsächlich Landarbeiter*innen waren und in die Städte zogen, um Arbeit zu bekommen, die unter ausbeuterischen und furchtbaren sozialen Umständen arbeiten und leben mussten. Zuwanderer von nah und fern, die sich mit der Flucht von dem Elend der bäuerlichen feudalen Lehenwirtschaft befreien versuchten.
Diese Phase führte auch zu noch schärferen sozialen Verwerfungen und zum Entstehen von Arbeitskämpfen, Streiks und zur Gründung von Arbeiterbewegungen und schließlich zu Sozialismus und Kommunismus. Karl Marx und Friedrich Engels schrieben ihre Werke vor diesem Hintergrund.
Es folgte eine Reformphase, in der die schlimmsten Auswirkungen des Liberalismus durch die damaligen europäischen Großreiche (Britisches Empire, Preussen und K&K Monarchie) abgemildert wurden und erste soziale Reformen eingeführt worden sind. Die russische Despotie wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts durch diverse Aufstände zu zaghaften Reformen gedrängt.
Durch den 1. und den 2. Weltkrieg rückten diese Fragen in den Hintergrund, obwohl sie eigentlich drängender wie nie zuvor waren, aber eben vom rassischen Nationalismus verdrängt wurden. 1938 trafen sich auf Einladung des Ökonomie Professors Louis Rougier in Paris führende Ökonomen aus aller Welt, um den wirtschaftlichen Liberalismus wieder neues Leben einzuhauchen. Das als Walter Lippmann[2] Colloquium bekannte Treffen sollte die Geburtsstunde des Neoliberalismus werden. Die Meinung, die bei dem Treffen vorherrschte, war, dass der Neoliberalismus sowohl eine Antwort auf Faschismus und Nationalsozialismus als auch auf Kommunismus sei[3].
Eine dritte Welle des Neoliberalismus baute sich sehr erfolgreich, beginnend in den 1970er Jahren, auf. Die Thesen von Hayek[4] wurden aufgefrischt und fanden fruchtbaren Boden etwa bei Milton Friedman[5] und den Chicagoer Boys[6]. Politisch umgesetzt und einen deutlichen Push versetzt, hatten ihm Margaret Thatcher (UK)[7] (1979 – 1990) und Ronald Reagan[8] als 40. US-Präsident (1981-1989).
Was sind nun die Kernpunkte des Neoliberalismus:
- Die Erzählung, dass jede/r seines Glückes Schmied sei! Insbesondere, die durch R. Reagan verbreitete bzw. wieder aufbereitete Idee des „Amerikanischen Traums“ – vom Tellerwäscher zum Millionär wurde populär. Jede/r könne es schaffen, wenn er/sie nur fleißig genug sei. Im Gegenschluss dazu gilt jedoch aber auch: „Wer einen Aufstieg nicht schafft, ist eben selber schuld.“
Daher gibt es auch keine oder wenig staatlich organisierte Netze für Menschen, die krank oder arbeitslos sind. Ein Sozialversicherungs- oder Rentenvorsorgesystem hat in einem solchen Staat einen schweren Stand[9]. Margaret Thatcher hat das noch radikaler auf den Punkt gebracht und meinte: „There is no society.“, ihr folgend, gäbe es also keine Gesellschaft, sondern nur Einzelindividuen. Was daher oft blieb, sind in den angelsächsischen Ländern zumeist kirchliche und private Initiativen, die die ärgsten Auswirkungen von Armut abfedern (Suppenküchen, Notschlafstellen etc.).
- Dazu passend, wird die Vorstellung vom „Homo Oeconomicus“ ventiliert. Dies ist die Idealvorstellung eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und handelnden Menschen. Dieser kenne nur ökonomische Ziele und ist, geprägt von rationalem Verhalten, dem Streben nach größtmöglichem Nutzen und „die vollständige Kenntnis seiner wirtschaftlichen Entscheidungsmöglichkeiten und deren Folgen sowie die vollkommene Information über alle Märkte und Eigenschaften sämtlicher Güter (vollständige Markttransparenz), charakterisiert“[10].
- Weiters hat die Wirtschaft und insbesondere der Markt als Priorität für die Politik zu gelten. Neoliberale Politik propagiert den schlanken Staat, der seine Steuereinnahmen zurückfährt, um der Wirtschaft Freiraum, um mehr Innovation zu schaffen, mehr zu produzieren und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dementsprechend gibt es auch keine größeren staatlichen Interventionen, etwa Maßnahmen zur Ankurbelung von Nachfragen von Gütern oder für die Allgemeinheit wichtige Grundlagen (Wohnungen etwa), wie dies etwa als Gegenpol dazu John Maynard Keynes propagierte[11].
- Der Gewinn, der den Unternehmen und den Reichen zufällt, würde nach einer – fragwürdigen – Theorie des „trickle down effects“[12] auch allen dienen und nach unten „durchtröpfeln“, sodass auch die Armen etwas davon hätten. Studien bewiesen jedoch, dass es sich eher um ein gut erzähltes Märchen handelt, denn um eine bewiesene Wirtschaftstheorie[13].
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Lippmann
[3] https://www.youtube.com/watch?v=sOZ31tm5K3Y
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_August_von_Hayek
[5] https://www.youtube.com/watch?v=SCkTFPLL-Lk
[6] https://www.youtube.com/watch?v=r-840D1DjhE
[7] https://www.hdg.de/lemo/biografie/margaret-thatcher.html
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Ronald_Reagan
[9] https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/wirtschaft/kapitalismus/kapitalismus-neoliberalismus-100.html
[10] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19635/homo-oeconomicus/
[11] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19777/keynesianismus/
[12] https://www.derstandard.at/story/1362108093854/reichtum-troepfelt-nicht-von-oben-nach-unten
[13] https://kontrast.at/trickle-down-effekt-widerlegt/
- Damit gehen einher, dass der Staat sich aus der Wirtschaft zurückziehen solle. Neoliberale Staatsführungen bauen staatlichen Regulierungen, Schutzschirme, Verbote (etwa Kartellbildungen), Umweltauflagen ab, privatisieren öffentliche Güter (Post, Bahn, Wasser etc.)
- Eng verbunden sind auch Arbeitnehmendenrechte und Schutzklauseln, die ausgehöhlt und unterminiert werden.
- (Staatliche) Gewalt als Mittel, um freien Handel, Abbau von Rohstoffen u.a. durchzusetzen wird legitimiert. Aber nicht nur staatliche Gewalt, auch der Aufbau von paramilitärische und „Privat Security“ Truppen, wie etwa in Brasilien, um gegen die indigene Landbevölkerung vorzugehen, die der Urwaldrodung im Weg stehen, werden unterstützt bzw. gegen sie nicht vorgegangen, sondern auch die Rechte von Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftliche Vertretungsorganisationen werden ausgehöhlt.
- Internationale und multilaterale Organisationen sowie völkerrechtliche Grundrechte werden laufend unterminiert und sukzessive geschwächt. Gerade die britische Regierung unter Margaret Thatcher betrieb diese Politik permanent im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft (EG)[14].
Das neoliberale Narrativ hatte großen Erfolg und löste, die im Rückblick erfolgreiche, Keynesianische Wirtschaftsepoche (1950er-1980er) zunehmend ab. Nach und nach sprangen Regierungen und Koalitionen auf den neoliberalen Zug auf. Neben den konservativen und liberalen Parteien drangen die Wirtschaftskonzepte auch in sozialdemokratische Parteien ein, der unter dem „dritten Weg – New Labour“ eine Zeitlang politischen Erfolg hatte, jedoch Langzeitfolgen zeitigten, mit denen wir heute noch immer zu kämpfen haben. Exponenten dieses Weges waren Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder.
Die Auswirkungen des Neoliberalismus waren und sind verheerend. Nicht nur, dass die Erzählung attraktiv vorgetragen wurde und viele Menschen den Mythen, Glauben der Individualisierung und des „Glückes Schmied“ Narrativ schenkten, es drang in vielen Staaten tief in die Gesellschaften ein und trug wesentlich zu den Spaltungen und Verwerfungen in den Gesellschaften bei, die nunmehr immer so dramatisch beklagt wird. Der rücksichtlose, egoistische und nur auf den eigenen Vorteil bedachte Mensch wurde zum Vorbild erkoren. Politik diente dazu, sich selbst seiner Möglichkeiten zu berauben und den dramatischen Abbau von staatlicher Führung, von Regulierung und ökologischen und sozialpolitischen Grenzen voranzutreiben.
Um nur ein Beispiel zu erwähnen, um das Dilemma und die Auswirkungen dieser Politik zu verdeutlichen: Immer wieder berichten internationale Zeitungen und Sender über die dramatische Abwassersituation in Großbritannien. Tausende Bäche, Flüsse, Seen und Meere werden durch ungeklärte Abwässer so stark verunreinigt, dass es mittlerweile gesundheitsgefährdend ist, etwa an berühmten Badeorten an den englischen Küsten ins Wasser zu gehen.
Das liegt daran, dass das britische Abwassersystem in den 1980er vollkommen privatisiert wurde. Die privaten Betreiber haben weder ein Interesse das marode Abwassersystem, das teilweise noch aus viktorianischen Zeiten stammt, zu erneuern, noch haben sie in die Erhaltung und den Ausbau des Systems investiert. Daher sind die meisten Abwassersysteme und Kläranlagen hoffnungslos unterdimensioniert und beschädigt. Bei Regen gehen die Anlagen regelmäßig über und die Abwässer gehen ungefiltert in die Gewässer.
Die nahezu einzige Wahrheit des neoliberalen Traums ist, dass es den privaten Betreibern nur um die Profitmaximierung geht und ging. Es bestand auch kein Bedarf, am System etwas zu ändern; warum auch, die Regierungen hatten ihnen das nicht vorgeschrieben bzw. die konservative Regierung – etwa im Herbst 2021 – eine Änderung des Umweltgesetzes verhindert.[15] Alles an Profit für die Aktienbesitzer*innen, alles an Kosten und Schäden für die Allgemeinheit.
In Österreich liefen derartige politischen Prozesse moderater ab. Der Kahlschlag fand deutlich geringer aus. Die demokratischen Einrichtungen und die parlamentarischen Kontroll- und Regulierungsmöglichkeiten sind nach wie vor intakt geblieben. Die sozial- und gesundheitsstaatlichen Einrichtungen blieben erhalten, wenn auch ordentlich zerzaust.
Als Beispiel sei hier die Sozialversicherungsreform der „Türkis-Blauen Regierung“ 2017/2018 erwähnt. Dabei ging es darum, die damals bestehenden Sozialversicherungsträger unter einem Dach zusammenzuführen und aus den neun Gebietskrankenkassen eine ÖGK zu machen. Außerdem wurden die Entscheidungsgremien in den Kassen verändert. Die Arbeitgeberseite wurde dabei, nach Ansicht von Expert*innen gestärkt und die Arbeitnehmerseite geschwächt. Ziel der Reform war es – laut der Regierung Kurz/Strache – Mittel einzusparen und diese für die Patient*innenversorgung einzusetzen. Wie man heute weiß, war die Ankündigung eine Milliarde einzusparen, ein PR Gag der Kurzregierung[16].
Zusammenfassung: Neoliberale Ideen sind tief in den Wertekanon der westlichen Demokratien eingedrungen. Sie haben die Vorstellungen eines demokratisch verfassten, liberalen Rechtsstaat tief erschüttert. Das Menschenbild hinter dem neoliberalen Konzept hat sich verankert. Die Gesellschaft gilt als ablehnungswürdig, das Individuum muss sich um sich selbst scheren, die aggressive Ellbogengesellschaft ist etabliert.
In dieser Konstellation sind daher auch die Klagen zu verstehen, jedoch reichlich hohl, dass die Spaltung der Gesellschaft stärker werden würde und die Gegensätze größer. Dazu hat der Neoliberalismus und die verschiedenen Ausformungen erheblichen Anteil, der ja nicht nur ein Wirtschafts- und Sozialsystem darstellt, sondern auch eine Ideologie der Rücksichtslosigkeit, des Egoismus, der Ellenbogengesellschaft[17].
Dass diese auch mit Abwertung, Dominanz bestimmter und Ausschluss von schwächeren Gruppen oder Minderheiten einhergeht und damit institutionellen Rassismus bestärkt und eine wesentliche Grundlage für extremistisches, menschenfeindliches Gedankengut darstellt,muss wohl nicht extra betont werden.
[14] Vorläufer der EU.[15] https://orf.at/stories/3311545/
[16https://www.profil.at/oesterreich/rechnungshof-bericht-die-patientenmilliarde-war-ein-schmaeh/402059995
[17] Siehe auch Lucas, Erhard: Stichwort: „Ellenbogengesellschaft.“, Gewerkschaftliche Monatshefte, 3/83. https://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1984/1984-03-a-133.pdf