Die Kunst Demokratie zu verteidigen
Im Teil Nummer VI beschäftigen wir uns mit der Struktur und den Merkmalen der extremistischen Szenen und den notwendigen Differenzierungen und Unterschieden.

Analyse und kurzer Überblick über den islamistischen Extremismus
And the clock – TikTok
Die aktuell vermehrt auftretenden Messerattacken in Europa, die von Einzeltätern verübt werden, stellen eine relativ neue Entwicklung dar und sind folgendermaßen zu kategorisieren:
Die Personen stammen im weitesten Sinne aus migrantischen Milieus, sind muslimischen Glaubens, jung und männlich. Wobei migrantisches Milieu keine genaue Definition darstellt, aber nahezu alle Attentäter einen Bezug zu Migration aufwiesen, entweder als Flüchtlinge, Studierende oder Arbeitsmigranten nach Europa kamen oder Kinder von Zugewanderten waren. Wobei der Fokus auf die Migration irreführend ist. Viel entscheidender ist der Nährboden Islam – Islamismus und deren radikalen Entwicklungen, sowie die soziale, wirtschaftliche, persönliche wie politische Situation der handelnden Personen.
Gab es 2015 den Anschlag in Paris auf die Satire Zeitung Charlie Hebdo[1], der von mehreren Tätern verübt wurde, so kann man rückblickend sagen, dass dies mittlerweile nicht mehr den üblichen Vorgehensweisen von Anschlägen in Europa entspricht. Man kann diese Form des gemeinschaftlichen, organisierten Terrors als erste Generation der islamistischen Anschläge bezeichnen.
Anschläge erfolgen mittlerweile immer öfter von Einzeltätern, die entweder Autos/LKWs[2] oder in letzter Zeit oft eben nur mehr Messer zum Einsatz brachten.
War man sich früher in Expert*innenkreisen einig, dass derartige Anschläge auf radikalislamistische Strukturen zurückzuführen waren, wie etwa Al-Kaida[3] oder später IS (ISIS)[4], so ist der Referenzrahmen der Anschläge zwar noch immer die radikalislamistische Szene, aber wird längst nicht mehr von aktiven Kadern oder Mitgliedern der Organisationen durchgeführt.
Ging man doch vor Jahren noch davon aus, dass die Terroristen gezielt ausgebildete, angeworbene Kräfte waren, die in andere (auch muslimische) Länder oder nach Europa oder USA geschickt werden, um auf den Einsatzbefehl warteten, um die geplanten Anschläge zu verüben, so kann sich derzeit nicht mehr nachweisen. Der Tod bzw. der Selbstmord als integraler Bestandteil der jeweiligen Aktionen war intendiert.
Es kann als Erfolg der nationalen und internationalen Sicherheitsbehörden sowie der militärischen und zivilen Geheimdienstorganisationen gewertet werden, dass diese Form der gemeinschaftlichen terroristischen Operationen nicht mehr durchführbar sind. Viel zu viel Planung, Kommunikation (interne, geheime, wie auch externe) und Vorbereitung sind dafür notwendig, als diese von den Behörden unentdeckt bleiben könnten. Also änderte sich die Strategie und führte zu einer zweiten Generation von Anschlägen.
Denken wir an den Anschlag in Wien im November 2020[5], der von einem – in Österreich geborenen – jungen Mann durchgeführt wurde, dessen Eltern aus Nordmazedonien stammten. Es wird davon ausgegangen, dass er als Einzeltäter gehandelt hatte, jedoch Unterstützung bei einzelnen Vorbereitungen besaß, die aber mitunter gar nichts von seinen konkreten Plänen wussten. Er stand bereits im Visier der Behörden, da er mit dem IS sympathisierte und nach Syrien ausreisen wollte, um zu kämpfen. Selbst der Kauf einer Waffe in der Slowakei war dem Verfassungsschutz bekannt, blieb aber fahndungstechnisch leider folgenlos.
All diese Vorkommnisse zeugten davon, dass die Überwachung der islamistisch radikalen Szene derart weit gediehen ist, dass ein Anschlag in größerer Dimension nicht mehr vorzubereiten war, ohne dass nicht die Behörden davon „Wind bekommen“ würden.
Daraus entwickelte sich eben die aktuell tätige dritte Generation der islamistischen Anschlagsreihen. Jene, die auf mehreren Ebene eine neue Dimension darstellen. Erstens, es sind Einzeltäter[6]. Zweitens sie agieren im Vorfeld weitestgehend im Internet, auch mit ihren Vorbereitungen zum Attentat (Bau einer Bombe, Austausch über Formen des Anschlages). Eine analoge Anbindung an Szenen und Organisationen ist nicht mehr auszumachen; und drittens, die in den Medien als sogenannte Radikalisierung bezeichnende Phase erfolgt in relativ kurzer Zeit und schnell.
Diese dritte Generation von Attentätern stellen für die Sicherheitsbehörden und Verfassungsschützer daher eine besonders schwierige Situation dar. Sie sind nicht besonders aktiv angedockt an entsprechende Gruppen und Foren, hinterlassen also auch wenig digitale Spuren.
Bisher ging man in Ermittler* und Expert*innenkreisen immer davon aus, dass es eine analoge Anbindung zu radikalen Kreisen braucht, um zu einem Attentäter zu werden. Dies konnte eine Moschee sein, ein Kulturverein oder ein Café. Daher gelangten diese oft illegalen und radikalen „Hinterhofmoscheen und -vereine“ auch bald ins Visier von Ermittlungen und Beobachtungen. Mit der dritten Generation verfangen diese Thesen nicht mehr und der Weg der Radikalisierung folgt nicht mehr den Drehbüchern der vorherrschenden Meinung, wie solche Attentate zustande kommen. Wir haben es also mit einem Neuen Typus von Dschihadisten/Attentätern zu tun.
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/charlie-hebdo-islamistischer-anschlag-10-jahre-100.html
[2] Als Beispiel etwa der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche: https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_den_Berliner_Weihnachtsmarkt_an_der_Ged%C3%A4chtniskirche
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Al-Qaida
[4] https://www.lpb-bw.de/islamischer-staat
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Terroranschlag_in_Wien_2020
[6] Ganz vereinzelt gibt es auch Täterinnen, wie etwa die 14-Jährige Grazerin, die im Herbst zu zwei Jahren verurteilt wurde. https://kurier.at/chronik/steiermark/terror-graz-staatsschutz-polizei-jakominplatz-u-haft-is/402902165
Derzeit aktuell ist man noch auf der Suche nach den richtigen Antworten auf all diese Fragen. Ein wesentlicher Faktor der Vereinfachung und Beschleunigung von Terroranschlägen und Radikalisierung ist in der Plattform TikTok auszumachen. Hinweise dafür gibt es schon seit längerem und ist auf folgende Ursachen zurückzuführen.
TikTok ist eine neue Generation der digitalen Plattformentwicklungen. Sie ist noch schneller, bedient noch stärker ein jugendliches Publikum, als alle anderen Plattformen zuvor.
Dessen Kern sind kurze Videos, die schnell und – wenn man nicht selbst eingreift – endlos aufeinanderfolgen, haben daher ein höheres „Suchtpotenzial“ als andere Plattformen. Weiters ist die Auswahl stark personalisiert. Dafür sorgt der Algorithmus, „der uns von Minute zu Minute besser kennen lernt und uns immer öfter mit belohnenden Inhalten versorgt“[7].
Dass sich dagegen wehren, dass man stundenlang Kurzvideos zu schauen beginnt, wird gezielt bekämpft, mit dem sogenannten „Für-Dich-Algorithmus“[8]. „Mit dieser Praxis führt TikTok seine Nutzer*innen flotter in Filterblasen“, als andere; wie Gundermann und Mahlmann in dem genannten Artikel das beschreiben.
Daher steht TikToks Algorithmus Policy auch in der Kritik. „Der Algorithmus versucht, die Menschen süchtig zu machen, anstatt ihnen das zu geben, was sie wirklich wollen“, sagte Guillaume Chaslot von Algo Transparency, einer Pariser Organisation, die Algorithmen großer Firmen unter die Lupe nimmt (ebda).
Ebenfalls kritisch beurteilt wird, dass TikTok die Altersgrenzen und -beschränkungen nur ungenügend einhält und so ein weites Feld für kriminelle Aktivitäten, von Pädophilen bis eben radikalen Hassprediger, öffnet. Geraten Jugendliche (aber auch Erwachsene) auf ein Video, das islamistische Inhalte[9] beinhaltet und bleiben sie dabei, werden sie rasch mit weiteren radikalen Inhalten und Predigern überflutet.
Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die hinter TikTok stehende Firma Bytedance auf inkriminierende Inhalte nur sehr langsam bis überhaupt nicht reagiert, also der Schutz vor gewaltverherrlichenden, sexistischen, rassistischen, antisemitischen Inhalten und Ausfällen kaum gewährleistet ist.
Zwar behauptet TikTok, dass man weltweit mit Faktenchecker zusammenarbeite und wenn man sich bei der eigenen Kontrolle nicht sicher sei, dass jeweilige Video prüfen lasse. Angesichts der Tatsache, dass es offensichtlich mühelos sein kann, radikale Hassprediger anzusehen, ohne Altersbeschränkung, die bei TikTok angeblich bis 13 Jahre stattfindet, muss jedoch bezweifelt werden, dass dies in der Praxis tatsächlich so stattfindet [10], wie dies im Interview mit Klaws von ihm dargestellt wird.
Reaktionen und Schlussfolgerungen
Als allgemein gültig anzusehen ist, dass die Politik und die Öffentlichkeit relativ gleichlautend und stereotyp reagiert. Es wird das Entsetzen ausgedrückt, es wird betont, dass für derartige Akte kein Platz sei und dass die Täter mit aller Strenge des Gesetzes verfolgt würden; alls andere wäre doch äußerst merkwürdig, oder?
Alles Stehsätze der Betroffenheit, aber gleichzeitig auch deutliche Zeichen der Hilflosigkeit. Unmittelbar darauf folgen Versuche der politischen Instrumentalisierungen. Oftmals sind die genaueren Umstände und Hintergründe noch gar nicht bekannt, werden schon Forderungen aufgestellt, nach mehr Polizei, nach strengeren Gesetzen, nach schärferen Asyl- und Fremdengesetzen und nach mehr Möglichkeiten, die digitalen Überwachungsmöglichkeiten voranzutreiben.
Dass die westlichen Gesellschaften tatsächlich ein Problem haben – nebenbei nicht nur die, aber der Einfachheit halber beschränken wir uns auf diese – steht außer Frage. Der Anstieg von Anschlägen, die in dieses „neue“ Muster passen, sei in den letzten Monaten auf das 4-fache angestiegen, betont der deutsche Extremismusforscher Peter Neumann[11] in einem Interview für die Zib2[12].
Er schließt auch die Notwendigkeit von schärferen und weiteren Gesetzesmaßnahmen prinzipiell nicht aus, gibt jedoch zu bedenken, dass dies immer auch möglichst gezielt und erfolgversprechend sein und nicht andere Grundrechte einschränken sollten. Wenn – so Neumann – sich die Radikalisierung verschärfe und beschleunige, dann müssen wohl die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste sich auch beschleunigen können.
Gülden Hennemann[13], Politikwissenschaftlerin und Extremismusforscherin war jahrelang für den Verfassungsschutz tätig, arbeitet aber auch in der Präventionsarbeit. Sie bestätigt das aus der Praxis, was schon viele auch vermuteten; die wenigsten in den Strafverfolgungs- und Verfassungsschutzbehörden wüssten wirklich viel über TikTok. Man habe nur eine Meinung darüber, aber kein fundiertes Wissen. Das ändere sich erst langsam.
[7] https://scilogs.spektrum.de/hirn-und-weg/was-machen-tiktok-co-mit-unserem-gehirn/
[8] https://www.heise.de/select/ct/vorschau/2201715023222898228
[9] Das gilt allerdings auch für andere Themen, wie Corona Leugnungen, Verschwörungstheorien, Rechtsradikales Gedankengut.
[10] Siehe ausführliches Interview mit Tim Klaws, „Direktor für Regierungsbeziehungen“ bei TikTok. https://www.derstandard.at/story/3000000238067/tiktok-wenn-ein-verstoss-vorliegt-moderieren-wir-das-bis-hin-zu-einer-loeschung
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_R._Neumann
[12] https://www.youtube.com/watch?v=FP5tgbY5Nao
[13] https://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/extremismus/islamismus-und-salafismus/politischer-islamismus/epi-artikel.html?gcp_16690932=1

Der These, dass TikTok hauptsächlich dafür verantwortlich sei, dass sich Radikalisierung im Netz so schnell und einfach entwickeln könne, tritt Gülden Hennemann jedoch entgegen. In einem Podcast von Thilo Mitschke zeichnet Hennemann den Weg zur Radikalisierung[14].
Zuerst räumt sie mit dem Mythos auf, dass der IS (ISIS)[15] geschlagen und verschwunden wäre. Es stimmt zwar, dass er militärisch weitgehend besiegt wurde, viele Gebiete verlor und in der Defensive war, jedoch nicht ihre Ideologie geschlagen war. Diese lebte weiter und wurde unter der Repression zwar quantitativ kleiner, aber dafür umso stärker. „Ideologie könne man mit militärischen Mitteln nicht bekämpfen“, so Hennemanns Fazit.
Unter dieser Repression der Staaten und der Überwachung und Verfolgung von Islamisten müsse man den Gruppen zugestehen, dass sie kreativ und innovativ geworden seien, um ihre Ideologie ihren Hass und ihre Botschaften zu verbreiten, so Hennemann. Das bestätigt auch Daniel Bischof von der Innenpolitik Redaktion der Presse in einem Podcast[16], der den radikalen, islamistischen Influencern und Predigern bescheinigt, dass die Auftritte auf TikTok und anderen Plattformen moderne Videos, mit schnellem Schnitt, dramatischer Musik und gut gesprochen, seien.
Die digitalen Plattformen waren immer schon gute Trägermedien. TikTok jedoch hat dies noch beschleunigt und den radikalen Islamisten noch mehr Möglichkeiten beschert, an junge Menschen ran zu kommen.
Expert*innen wie Hennemann kritisieren auch, dass demokratische Einrichtungen den digitalen Zug vollkommen verschlafen hätten und nur ungenügend und eher tollpatschig sich im digitalen Raum bewegten und sich eher zurückziehen denn aktiv auf den Plattformen würden. Da fehle es massiv an Interesse, Wissen und Kompetenz. Diese Leerstelle ist für Extremismen aller Art ideal.
„Die Hose, die blau ist, ist rot“
Damit diese Form der Schnellradikalisierung vonstatten geht, muss vorher schon etwas da sein, ein Nährboden, der dann durch die Kontakte mit Predigern in den digitalen Medien genährt und befruchtet werden kann. Expert*innen sprechen dabei von einem Treppenmodell[17]. Dabei spielen Erfahrungen aus dem Elternhaus, Erziehungsmuster in der Familie, Sozialisation und Wahrnehmungen über Gerechtigkeit sowie Meinungsäußerungen eine Rolle. Heinemann beschrieb das in einem anschaulichen Beispiel.
Wenn ich als Kind und Jugendlicher nicht gelernt habe und es mir nicht gestattet wurde, mich zu äußern und auch einmal anderer Meinung zu sein, dann werde ich den Widerspruch und das Auflehnen nicht gelernt haben. Dann ist „die Hose, die blau ist, rot“, wenn der Patriarch/Vater/Lehrer/Prediger sagt, dass sie rot ist. Ein Widerspruch wird nicht geäußert und nicht geduldet. Die Unterwerfung unter eine Meinung ist dann ganzheitlich. Eine Rebellion, ein Widerspruch bleibt aus oder nur zaghaft im Verborgenen. Dieser Boden der Radikalisierung ist lautlos und man sieht es nicht.
Hennemann betont, dass dies kein ausschließliches Phänomen von muslimischen Familien und Gesellschaften sei. Formen der Unterwerfung und des bedingungslosen Befolgens von Befehlen fände man in russischen Haushalten ebenso, wie in rechtsradikalen oder christlich-fundamentalen sowie anderen strengen Glaubensrichtungen. Strenge patriarchale Hierarchien, feudale Rollenbilder, fehlende Bildung und ein streng reglementiertes Umfeld (Schule, Kirche, Dorfgemeinschaft) würden den Nährboden dafür schaffen.
Wenn schließlich die äußeren Bedingungen dazu passen – wie autokratische, korrupte Regime, schlechte Bildung und Gesundheitsversorgung und oligarche Staatsstrukturen und faschistoide gesellschaftliche Erzählungen, sowie ideologische Versatzstücke vertreten und eingetrichtert werden – dann geht es die Treppe der Radikalisierung hinauf; bis zum Anschlag.
Für die islamistischen Täter kann gesagt werden, dass zumindest drei – tief verwurzelte – ideologische Aspekte eine Rolle spielen, die aus ihrem familiären Umfeld mitgetragen, zumindest ihnen nichts entgegengesetzt werden.
[14] Podcast von Thilo Mischke: Alles muss raus. Mit Gülden Hennemann, Politikwissenschaftlerin. https://open.spotify.com/episode/2Ip48uq12pagL7Y8lruQsp?si=977b38a87baf4a34
[15] https://www.lpb-bw.de/islamischer-staat
[16] https://podcasts.apple.com/us/podcast/nach-villach-wie-kann-der-staat-tiktok-jihadisten-stoppen/id1480655186?i=1000693083584
[17] Siehe Punkt 5. Das Staircase Model. https://eizpublishing.ch/artikel/risiko-recht/01-2023-risiko-recht/radikalisierung-im-bereich-des-islamistischen-extremismus-allgemeine-beobachtungen-und-ausgewaehlte-modelle/
Ideologischer Nährboden
Das sind:
Ein latenter und tief verwurzelter Antisemitismus, der etwa durch die Eskalation seit 7. Oktober 2023 verschärft, dynamisiert und befeuert wird.
Ein ebenso lang zurückreichender Antiamerikanismus, den die USA nach dem 2. Weltkrieg – als Weltmacht und mit ihrem Wirken in verschiedenen Teilen der Welt – auch immer wieder neu entfachte. Darin vermischt sich auch die Debatte über den Kolonialismus/Postkolonialismus, der oft recht einseitig und oberflächlich interpretiert wird. Schließlich spielen die zunehmend dringlicheren Fragen der Identität, die im Zusammenhang mit Migration – Kultur und Religion bedeutsam werden, ein große Rolle.
Minderheitenpositionen, wie etwa Teil eine religiöse oder sozialen-ethnischen Minderheit in dominanten Gesellschaften zu sein, damit verbunden ein großer Anpassungsdruck, der oft mit Diskriminierung und Rassismus in Verbindung steht, aber auch fehlende Mitbestimmung, Ghettobildung, Isolation stellen ebenfalls diesen Nährboden her.
All diese Puzzlesteine werden von radikalen Kräften genutzt, aufgebauscht, übertrieben und dynamisiert. Eigene, traumatisierende, persönliche Erfahrungen von Kriegs- und Migrationserlebnisse, dass ausgeschlossen sein, die Isolation, das nicht respektiert werden, bestätigen dann oft die ideologischen Thesen der „neuen TikTok Freunde“.
„Demokratie sei für nix gut, viel zu kompliziert und ist auch nur für eine kleine Elite, die das nutzen kann. Der Westen (pauschal) wäre doch nur auf Unterdrückung aus; um ihre kolonialen Errungenschaften und ihre Vorherrschaft in der Welt zu sichern und auszubauen.
Diese Thesen werden in den digitalen Netzwerken und Plattformen mittels Videos, Reels, Fotos und Botschaften verbreitet; oft drastisch und überzeichnet dargestellt. Nutzer*innen erhalten Ansprache. Der interaktive Charakter der Plattformen wird genutzt. Es gibt in den Chats immer jemanden, der sich der Leute annimmt, der sie respektiert, der Fragen – etwa zum religiösen Alltag – beantwortet; sie aber auch aufstachelt, sich gegen das Unrecht zur Wehr zu setzen; was zu tun. Nach dem Motto: „Wie lange willst du noch zusehen, wie unsere „Brüder“ gedemütigt und umgebracht werden?[18]
Ein anderer Aspekt ist auch noch das zunehmende Alter der Täter. Sie werden durch die digitalen Medien immer jünger. Dabei kommen identitäre Fragestellungen gerade recht, wenn junge Menschen auf der Suche sind, nach Halt, nach Orientierung, sich auch gegen die Erwachsenenwelt auflehnt oder zumindest Ordnungen und Regeln in Frage zu stellen beginnt oder andererseits ein Ventil sucht für ihre inneren Widersprüche, die von der Erwachsenenwelt genauso wenig wahrgenommen wird, wie sie selbst.
Radikale Richtungen sind immer auch ein Anker, bieten eine Richtschnur an und gaukeln Gemeinschaft vor.
Dies übt auf bestimmte Communities und Jugendliche eine magische Anziehung aus. Junge Menschen, die in Österreich geboren sind, deren Eltern jedoch eine Migrationsbiografie vorweisen oder die als Kinder nach Österreich geflüchtet sind und sich in der Erwachsenenwelt ebenso wenig beheimatet fühlen, wie in den schulischen und nachbarschaftlichen Sozialisationen – in der sie oft auch Ausschluss und Diskriminierung erfahren haben, werden auch gezielt mit solchen Gruppen, Chats und den Videos angesprochen.
Ziel dieser Videos und Chats ist es, die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie sich befinden, ihre Ängste Sorgen und Fragen aufzugreifen und mit ihnen in Austausch zu kommen.
Die zweite Intention ist dann gezielt, langsam aber sicher ihre Ideologie mit ein zu weben und ihre Zweifel Ängste und Sorgen zu verstärken bzw. in ihrem Sinne zu entkräften, damit sie drittens von der Gesellschaft entfremdet werden. Dazu bedarf es nur, bestimmte Aktivitäten hervor zu streichen, gezielt auszuwählen und zu übertreiben. Moralische Appelle, „Aufrufe sich zu wehren“ und „nicht länger zuzuschauen“ gehören zum Repertoire dazu.
Antidemokratische, rechtsextreme und gewaltverherrlichende Bewegungen sind dazu das Motoröl der Radikalisierung. Wenn die Identitäre Bewegung den Begriff „Remigration“ etabliert, Demonstrationen gegen Migranten organisieren und diese „Narrative“ schließlich von zwar weit rechtsstehenden und rechtskonservativen, aber etablierten Parteien wie FPÖ/AFD, ÖVP/CDU/CSU übernommen werden, dann ist es ein Leichtes ein Narrativ aufzubauen, wonach Muslime in Europa nicht erwünscht sind, sie verfolgt werden und in Gefahr sind.
Die beiden „Rechtsextremismus und Islamismus“ – Pole brauchen und stacheln sich gegenseitig auf und befeuern einander. Mit jedem Anschlag und gesetzlichen Verschärfungen und polizeilichen Aktionen (Razzien, Rasterfahndungen…) folgt die Bestätigung der Prediger. „Seht her was passiert, sie verfolgen uns.“
[18] Eine genauere Beschreibung der Prozesse wird im folgenden Beitrag beschrieben: https://topos.orf.at/weg-in-radikalisierung100