Die Anfänge
Beginnen wir chronologisch. Jede gute Geschichte hat natürlich auch einen Vorlauf, eine Entstehungsgeschichte, die weit zurück reicht und nich selten die ganze Sache, die danach folgte, noch komplizierter macht. Aber die lassen wir vorerst einmal außen vor. Unser Film beginnt mit dem Ende des 2. Weltkrieges (2.WK) im Mai 1945. Europa liegt in Trümmern. Der Nationalsozialismus wurde durch die Alliierten besiegt. Das gesamte Ausmaß der Katastrophe dringt nunmehr auch in die letzten Ecken der Gesellschaft vor, dort wo noch immer viele an den „Führer“ glaubten und „den Endsieg“ herbei redeten; die das ganze Ausmaß des Holocaust und der Kriegsverbrechen, vor allem an der Ostfront einfach nicht wahrhaben wollten. Nahezu alles liegt in Trümmern, auch die geistig-moralischen, politischen-sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen, auf die ein neues Europa aufgebaut werden könnte.
Stellen wir uns kurz die Szenerie vor. Millionen von Menschen irren und wandern als Flüchtlinge und displaced people durch Europa, insbesondere in Deutschland und Österreich. Viele wurden aus Kriegsgefangenenlagern und KZ´s befreit, um wenig später wieder in Notlagern zu landen; weil sie nirgends anders wo hinkonnten, ansonsten in Gefahr waren, zu verhungern. Sie sind in der Not entstanden, um die hunderttausenden Flüchtlinge ein Dach und Mindestrationen von Essen zu kommen zu lassen. Viele andere waren noch immer in Kriegsgefangenschaft und kehrten erst in den folgenden Jahren nach und nach heim. Es herrschte Hungersnot, die Alliierten hatten große Mühe, die Millionen Menschen zumindest mit dem Notdürftigsten zu versorgen. Die Menschen machten sich auf die Suche nach ihrer alten Heimat, die es aber häufig nicht mehr gab. Viele wurden vertrieben von ihren angestammten Sitzen (etwa in Ostpreussen – heute Polen oder der Tschechoslowakei, heutigen Tschechien und Slowakei). Die Landwirtschaft lag darnieder, Städte waren zerbomt. Es dauerte Jahre, bis die unmittelbaren Folgen des Krieges einigermaßen überwunden waren. Auf dem Gebiet von Österreich schätzt man, dass sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges mehr als 2 Mio. „displaced people“ befanden. Die letzten Lager schlossen erst 1957 (siehe auch Judt 2011, S. 29-155).
Aber auch der Diplomatie und Politik wurde erst jetzt das volle Ausmaß derKatastrophe bewußt – als sie sich auf die Schauplätze des Krieges und des Holocausts begaben und sahen, was das NAZI-Regime auch in der Etappe, in der Gesellschaft angerichtet hatte.
Auf der einen Seite …
Aus diesem Entsetzen und Schrecken entstand ein gemeinsames politisches Bewusstsein, ein Bekenntnis, das man in Österreich mit dem Slogan: „Nie wieder“[1] (der konsensuale Geist der Lagerstrasse) zusammenfasste (siehe Rathkolb 2015, S. 76). Ein Besinnen darauf, dass eine derartige Katastrophe nicht mehr passieren dürfe und dass dies nur dann verhindert werden könne, wenn man zusammenarbeite, den Konsens suche und auf der Basis von gemeinsamen Regeln die Weltpolitik ordne. Dies ist die Geburtsstunde der zivilisatori-schen, demokratischen, völkerrechtlichen Meilensteine, die in den folgenden Jahren (1946 – 1955) verhandelt, geschrieben und beschlossen worden sind. Diese bilden nach wie vor das Fundament für unsere demokratische, liberale, rechtsstaatliche und auf Grund- und Menschen-rechten basierende Ordnung. (siehe auch C.E.D.R.I. 1987).
Davor gab es bereits Grundlagen des multilateralen internationalen Völkerrechts, Vorläufer von Menschenrechtsdeklarationen, die etwa zur Französischen Revolution[2] zurück reichen; über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bis herauf zu den Vereinbarungen des Völkerbundes. Aber sie waren nicht systematisiert und nicht gemeinsam beschlossen und so auch rasch brüchig und konnten von Despoten und Kriegstreibern (insbesondere vor und nach dem 1. Weltkrieg) leicht hinweggefegt werden.
Der totale Zusammenbruch ist die Geburtsstunde einer Nachkriegsordnung, die bis heute Bestand hat, die eine breite Zustimmung genossen und die trotz großer Verwerfungen bis heute Bestand hat. Auch wenn der Rückhalt dafür bei weitem ncht mehr so gegeben ist, wie wir es uns wünschen müssen. Es hat sich ein Schutzmantel aus verschiedenen Pakten und Chartas gebildet, der vor Despotie, Autokratie, Willkür und Diktatur schützen sollte – und es überwiegend noch tut.
[1] Viele ehemalige politische Gegner – Christlich-soziale, Sozialist* und Kommunist*innen traffen sich in den Lagern und KZ´s der Nazi als Gefangene wieder.
[2] Viele Expert*innen ziehen diese Linien bis weit zurück in die Zeit der griechischen Stadtstaaten.

Die wertvollen Pakte
Das sind die Allgemeine Erklärung der Menschen-rechte (AEMR), die Europäische Menschenrechts-konvention (EMRK), sowie die Genfer Flüchtlings-konvention (GFK) und in weiterer Folge auch die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft (EG) und Europäischen Union (EU). Der Internationale Gerichtshof für Menschenrechte (IGH) gehört ebenso dazu und vieler anderer internationaler Einrichtungen (Europarat, OSZE…). Sie alle haben sich aus diesem – damals entstandenen – Bekenntnis und der Übereinkunft, zukünftig gewaltfrei und im Aus-gleich der verschiedenen Interessen nach Kompro-missen zu suchen, entwickelt (siehe auch United Nation Organisation, 1948).
Auf der anderen Seite…
Aber, mit dem Ende des 2. WK war auch gleichzeitig die Nachkriegsordnung des Kalten Krieges angelegt. Aus den Alliierten (USA, GB, FR, UdSSR [3]) wurden rasch ideologische Gegner (NATO vs. Warschauer Pakt, Kapitalismus vs. Kommunismus), die um Welt-einfluß und -macht stritten. Die ehemaligen „Waffen-brüder“ fochten ihre ideologischen Gegensätze in Europa nicht mit Waffen aus, sondern mit Diploma-tie, Spionage, Junktimen und (Gegen-)geschäften aus. Die Gewalt wurde ausgelagert. Abseits des europäischen Kontinents entbrannten „Stellvertreter-, Befreiungs- und Antikolonialkriege“ deren Gegnerschaften immer dem „Ost-West“ System unterworfen waren[4]. Dieser Zustand beherrschte die Welt bis 1989 und wirkt bis heute nach (siehe auch Judt 2011, S. 156-271). Unter diesen äußeren Bedingungen und „Ist Zuständen“ wurden die genannten Pakte verhandelt und nieder geschrieben.
Deutschland war von den Allierten besetzt und wurde in der zunehmend polarisierten weltpolitikstimmung schließlich geteilt. Daraus entstand die sozialistische Deutsche Deomkratische Republik (DDR) – unter Einfluß der UdSSR – und die westlich-kapitalistische BRD – unter Einfluß der USA und den Alliierten Großbritannien und Frankreich. Um die einsetzende Massenflucht aus der DDR zu unterbinden, wurde von der DDR Führung die „Mauer“ (1961) gebaut; der Ost-West Konflikt verschärfte und verfestigte sich (siehe auch HDG Deutschland).
Österreich blieb bis 1955 unter alliierter Herrschaft und war in diesen zehn Jahren in vier Besatzungszonen unterteilt. Nach langen und zähen Verhandlungen wurde Österreich doch noch eigenständig und hatte sich zur „immerwährenden Neutralität im Sinne der Schweiz (Verpflichtung zur bewaffneten Neutralität) verpflichtet“. Aufgrund der politischen und geografischen Lage, stellte Österreich so etwas wie eine „diplomatische und politische“ Pufferzone dar (siehe auch Demokratiewebstatt/Der Staatsvertrag).
Historische Einbettung der GFK
Um die Mechanismen im Asylverfahren und die Architektur der GFK zu verstehen, ist es nützlich diesen historischen Entstehungskontext mit einzubeziehen.
Die Verfasser – ausschließlich Männer, Politiker und Diplomaten – waren in ihren Verhandlungen und ihrem Verständnis von diesen Ereignissen und Polen stark geprägt.
Sie verstanden, die in den folgenden Jahren verabschiedeten Menschenrechtspakte (Allg. Erklärung der Menschenrechte, EMRK, GFK) als eine direkte Antwort auf den Nazismus und die Verfol-gungshandlungen (insb. Judenverfolgung), die noch intensiv präsent waren und erst langsam — zumin-dest juristisch — aufgearbeitet wurden (etwa in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen). Aber die rasche Konfliktentwicklung der Nachkriegszeit wirkte auf die Verhandler und die daraus entstehenden Dokumententeile und Artikel ein.
Und daher ist es nicht verwunderlich, dass auch die GFK in diesem, neuen Kontext bereits gelesen und diskutiert worden ist und werden muss. Die GFK wurde auch zu einem Instrument des Ost-Westkon-fliktes mit ideologischer Fundierung. Jede Formulie-rung und jeder Paragraf der GFK steht unter dem Eindruck der bipolaren Welt.
Ein Beispiel: In der Definition der GFK, was ein Flüchtling ist, steht ausdrücklich der Begriff der Rasse, als Grund warum jemand verfolgt werden kann und Schutz vor Verfolgung nach der GFK erhalten kann. Mit der Betrachtung aus heutiger Sicht, ein völlig unhaltbarer Begriff, der weder wissenschaftlich noch politisch zu rechtfertigen ist und in kein juristsches bindendes Dokument Einzug halten sollte. Aber unter der damaligen Nachkriegs-diskussion hatte das Narrativ der Nazis, es gäbe „Menschen-Rassen“, eine wirkmächtige Funktion und wurde auch von Demokrat*innen und Antirassist*in-nen als Kategorie verwendet und fand daher Eingang in die GFK.
Wenngleich sich die GFK und deren Auslegung mit den Jahrzehnten der Verwendung gewandelt und entwickelt hat – wie etwa der sich herausbildende Status von De-Facto Flüchltingen und des Subsidiären Schutzes – so bleibt doch der Grundtext und die -intentionen der GFK aufrecht und dieser lässt sich nicht einfach neu schreiben, aber auch nicht einfach ignorieren (Siehe auch Brickner, 2015).
Im Kalten Krieg (1946 – 1989) und mit der Gebietserweiterung und Ausdehung des Asylbegriffes (1967) – eine nähere Erklärung folgt im Kapitel 1, Teil 2 der Serie – wurde potenziell jede/r, der/die aus einem Staat des Warschauer Paktes (UdSSR und Satellitenstaaten) nach Österreich – sprich Westen – geflüchtet war, ein Flüchtling im Sinne der GFK. Ob das im Detail stimmte, wurde in der Regel nicht näher untersucht. Die eigenen Regeln der GFK wurden mitunter gebrochen, jedoch damals im positiven Sinne für Flüchtlinge[5]. In der politischen Auseinandersetzung war der „Flüchtling vor dem Kommunismus“ als ideologischer Faustpfand wichtiger, als die Rechtsstaatlichkeit (siehe Volf, S. 415-435).
[3] USA, Großbritannien, Frankreich und die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, 1991 aufgelöst und in eine Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten/GUS umgewandelt, aus der jedoch zahlreiche Staaten ausgetreten sind oder ihre Mitgliedschaft ruhend gestellt haben.
[4] Korea (1950 – 53) und Vietnamkrieg (1955 – 1975), Kubakrise stehen stellvertrend für diese Periode.
[5] Der Begriff wurde synonym verwendet für Flüchtende aus dem UdSSR Einflußbereich.

„Festung Europa“
Nach 1989 wurde im Zuge der zunehmenden Europäisierung und der Transformation der EG zur EU dem Asylrecht und der -politik verstärkte politische Bedeutung beigemessen. Auf europäischer Ebene entstand ein EU-Regime, das unter dem Begriff der „Festung Europa“ bekannt wurde. Damit wurde bildlich verdeutlicht, dass es innerhalb der EU-Staaten einen zunehmenden Abbau von Grenzen und Kontrollen geben, Freizügigkeit entwickelt und die Harmonisierung der Staaten voranschreiten sollte. Im selben Atemzug, in dem dies passierte, werde durch verstärkte Kontrolle der Außengrenzen (Schengen System), Abschottung zur Nicht-EU Region entwickelt (siehe Europäische Union 2014, BMEIA 2013). In einem folgenden Teil der Serie wird dieses System noch genauer beschrieben.
Im Inneren entstand nach 1989 ein Asyl-Verwaltungssystem, das die Einzelfallprüfung auch tatsächlich durchführte, aber damit wenig vertraut war. Eine relativ oberflächliche generelle Beurteilung – wie dies bei Flüchtlinge etwa aus Polen (1980/81) oder Tschechoslowakei (1968) noch der Fall war – reichte ab den Jahren 1988-89 nicht mehr aus. Auch und insbesondere nach 1989 deshalb, weil sich die Fluchtbewegung nach Österreich diversifizierte. Es waren eben nicht mehr nur salopp gesagt „Ostblockflüchtlinge“ sondern Asylwerber*innen kamen aus dem Iran, dem Irak, aus Ghana, Nigeria …
Unter dieser Doktrin entwickelte sich der Abschot-tungs- und Sicherheitsgedanke immer stärker und dominierte fürderhin die Asylpolitik. Auch deswegen, weil auf EU-Ebene die Innenminister die Asyl und Migrationsagenda in die Hand genommen hatten. Innenpolitisch wurde dieser Weg in den jeweiligen Ländern mehr oder weniger, schneller oder langsamer mit vollzogen und führte nach und nach zu Verschärfungen der Asyl- und Fremdengesetze. Besonders deutlich wurde dies in den Einschränkun-gen zur GFK und den Interpretationen von Flucht-gründen in den jeweiligen (nationalen) Asylgesetze. Die Definitionen sowie Regelungen, die in der GFK festgeschrieben wurden, wurden unterschiedlich aber immer aufgrund von aktuellen Ereignissen angepasst und interpretiert; in der Regel nicht zugunsten des Menschenschtsschutzes, sondern mit dem Ziel der Abschottung und Verschärfungen. Dies betraf etwa die Frage der innerstaatlichen Fluchtalternative[6], oder des Schutzes vor Zurückschiebungen (sichere Drittstaaten) oder der Fristsetzungen im Verfahren. (siehe auch Standard Der, Kickl stellt Menschenrechtskonvention in Frage, 23.2.2019)
[6] Ein Begriff, der meint, dass es Flüchtlinge möglich sei, innerhalb ihres eigenen Heimatstaates in eine friedliche und ruhige Region/Provinz zu flüchten und sie daher Asyl in Europa nicht benötigen würden. Die Interpretation wurde in den Jahren weidlich ausgedehnt, wie unlängst debattiert wurde, Flüchtlinge nach Syrien zurückschicken zu können, da sie ja in sichere Gebiete zurückkehren könnten.
Verwendete Literatur:
Brickner, Irene: Flüchtlingskonvention: Hart umkämpftes Schutzbekenntnis. In: Der Standard. 19.09.2015, [http://derstandard.at/2000022431603/Fluechtlingskonvention-Hart-umkaempftes-Schutzbekenntnis], (Zugriff, 27.08.2021).
BMEIA: Gemeinsames Europäisches Asylsystem. Wien 2013.
C.E.D.R.I.: Asylrecht ist Menschenrecht. Internationales Symposium in Memoriam Christian Broda. Eigenverlag C.E.D.R.I., Basel, 1987.
Demokratiewebstatt: Das viergeteilte Land. Österreich während der alliierten Besatzung. [https://www.demokratiewebstatt.at/thema/thema-der-staatsvertrag/was-lange-waehrt-wird-gut-oesterreichs-weg-zum-staatsvertrag] (Zugriff am 27.08.2021).
Europäische Union: Das Gemeinsame Europäische Asylsystem. Brüssel 2014.
HDG – Haus der Geschichte, Deutschland: Geteiltes Deutschland, 1949 – 1989. LeMo – Lebendiges Museum Online. [http://www.dhm.de/lemo/kapitel.html] (Zugriff am 27.08.2021)
Judt, Tony: Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, Frankfurt/Mai, Fischer Verlag 2011.
Rathkolb Oliver: Die paradoxe Republik, Österreich 1945 – 2015. Wien 2015.
Standard, Der: Kickl-stellt-Menschenrechtskonvention-in-Frage (https://derstandard.at/2000096888042/Kickl-stellt-Menschenrechtskonvention-in-Frage, 21.9.2021).
UNO – United Nations Organisation/Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Resolution 217 A vom 10.12.1948 der UNO-Hauptversammlung, New York 1948. [http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf] (Zugriff am 23.08.2021)
Volf, Patrik-Paul: Der politische Flüchtling als Symbol der Zweiten Republik. Zur Asyl- und Flüchtlingspolitik seit 1945. Zeitgeschichte, Heft 11-12/1995, S. 415-435.