Schreibkraft #36/37: Ordinär
Klaus ist an diesem Tag, an dem das alles geschieht, 38 Jahre, 142 Tage und 10 Stunden alt. Am Donnerstagabend letzter Woche entschied er sich, für einige Tage in den Süden zu verreisen. Das tut er – wenn es die Arbeit erlaubt – mindestens einmal im Jahr. Meist, wenn der Frühling Einzug gehalten hat. Klaus arbeitet in einer Werbeagentur, hantiert im Alltag mit Texten, Sprüchen, Überschriften. Aber das ist nicht alles. Er glaubt fest daran, dass er zu mehr berufen ist, als nur schnöde Auftragswerke und Textbausteine zu produzieren. Klaus will Literat werden, Autor, Erzähler. Zu mehr als einigen Kurzgeschichten, die bei Wettbewerben bisher nicht reüssieren konnten, langte es nicht. Noch nicht, wie er immer betont.
Es ist ein warmer Frühsommertag. Die Zypressen und Pinienwälder verströmen ihren betörenden Duft, der für ihn so stark und intensiv Süden beschreibt. Er ist in einem teuren anthrazitfarbenen Armani Anzug gehüllt, hat gewagt, ein karmesinrotes Hemd ohne Krawatte angezogen und trägt seine teuren Schlüpfer ohne Socken, so wie er es bei Männern im Süden häufig gesehen hat.
Klaus ist auf der engen und gebirgigen Straße viel zu schnell unterwegs. Weil das zu ihm gehört, weil das den Kitzel ausmacht. Traurig und erhaben, melancholisch und euphorisch und vor allem betört von sich selbst und seinem blitzroten Alfa Sportcabrio, lenkt, schaltet, gibt Gas, bremst, trinkt aus dem Coffee to Go-Becher und testet die Tourenzahlen und den besten Beschleunigungspunkt seiner Gänge.
Aus den Lautsprechern dröhnt Turandot von Puccini. Er hört die ersten Noten von Nessun Dorma, die großartigste Arie, die er kennt, wie er nicht müde wird, zu betonen. Sei Handy läutet, das auf dem Beifahrersitz liegt. Er schaut auf das Display. Sie ruft an, aber er will mit ihr jetzt nicht reden, nicht jetzt. Drückt sie weg.
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Mit einem lauten Knall durchstößt er die lächerliche Holzimitation einer Leitplanke. Im Bruchteil einer Sekunde verstellt ihm die nach oben auffliegende Motorhaube die Sicht. Die Stimme setzt ein und haucht „Nessun dorma“ aus den Boxen. Oh Gott, was hab ich getan.
Ich sitze auf der Rückbank, hinter dem Lenkersitz. Im Auto plärrt das Lied Orange von Wilfried. Neben mir in der Mitte sitzt eine fremde Frau, eine fremde junge Frau, die zu oft und zu laut lacht. Auf der anderen Seite rechts neben der Frau sitzt mein Vater. Er ist jung, eigentlich sehr jung. Wir alle kommen von einem Fußballspiel, einem Hobbytruppenfußballspiel. Ich durfte dabei sein, an einem Samstagnachmittag. Der Lenker, der linke Außenverteidiger, rast die Ries hinunter, Richtung Stadt. Ich habe Angst, weil es so schnell geht. In den Linkskurven drückt es mich an die Frau, in den Rechtskurven drängt sie sich an mich. Es ist unangenehm, ihr Gewicht und ihre Haut zu spüren und ihr Parfüm zu riechen. Sie lacht immer wieder auf und es scheint ihr zu gefallen.
„Du hast mir mein Orange verpatzt“. Sie, der Außenverteidiger und Papa singen die Zeile mit. Sie singt, halb flüsternd ihm den Text ins Ohr. Ich verstehe ihn nicht. Sie lacht auf und ihre Hüfte und ihr Oberschenkel drücken sich gegen mich. Sie schaut mich an und wird in der Kurve wieder an mich gedrückt, mit mehr als nur ihrer Hüfte. Sie verstrubbelt meine Haare, die ich gleich wieder glatt streife. Mir gefällt die Stimmung nicht. Das ganze gefällt mir nicht, überhaupt nicht. Warum ist meine Mutter nicht da? Mir ist das alles peinlich. Die beiden sind ordinär. Und überhaupt, sie tun so, als gehörten sie zusammen. Das tun sie nicht. Meine Mama gehört zu meinem Papa.
Fortsetzung 2. Teil:
„Du hast mich in die Nacht gedrängt. Du hast mir Bitter in mein Süß gemengt.“ Ich wage nicht, rüber zu sehen, was auf meiner rechten Seite passiert. Dann ist Gott sei Dank Schluss. Wir haben es geschafft. Ich springe aus dem Auto; laufe zum Lokal, in das wir einkehren. Später tanzen sie im Lokal, wieder zum gleichen Lied, das sie in der Jukebox ausgesucht hat. Soll ich Mama alles erzählen? Oder bin ich Teil des Geheimnisses. Ich hab immerhin ausnahmsweise ein Cola bekommen. Und überhaupt, was sollte ich erzählen, es ist eigentlich nichts passiert. Nix passiert.
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Der Motor heult auf und der Alfa Romeo bewegt sich mit sperrangelweitem Maul nach unten. Es geht steil bergab, nach unten, an schroffen Felsen entlang, der freie Flug beginnt. Er hat einen irreversiblen Fehler begangen.
Es war das Jahr 2019, daran erinnert sie sich genau. Saisonstart, ein Konzert mit mehreren Bands. Sie geht dorthin, weil Clara Luzia spielt und die Frau mag sie. Mehrere Bands auf zwei Bühnen – Clara Luzia spielt im großen Saal. Am Ende des Konzertes kommt die 104 Jahre alte Anna Rupar mit Rollator auf die Bühne und singt erstmals in ihrem Leben auf einer Bühne, vor so viel Publikum. Für die ORF Dok1 Sendung „Nie zu spät – Die Träume der Hundertjährigen“ mit Lisa Gadenstätter stimmen die beiden das Lied „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ von Hildegard Knef an. Es ist berührend, wie Clara Luzia die betagte Anna begleitet, fördert und führt. Das Publikum ist großartig, es applaudiert frenetisch und fordert Zugabe. Vielen stehen Tränen in den Augen.
Dann ist kurz Pause und als nächster Act wird eine schwedische Band angepriesen, die eine große Überraschung sei, wie der Ankündigungstext versichert. Frohnaturen, Dauerlachen im Gesicht, alles cool. Dann sieht sie etwas sehr Irritierendes auf der Bühne. Der Gitarrist und Sänger spuckt einen riesigen Batzen Speichel und Schleim in hohem Bogen über die Gitarren-Amps nach hinten. Das gibt’s doch nicht, denkt sie sich. Hab ich das jetzt echt gesehen? Wie unappetitlich und ordinär war das denn? Und das von einem Schweden? Ah, das war ihr positives Vorurteil. Nach dem nächsten Lied wiederholt er es, wieder ein riesiger Schleimbatzen nach hinten. Also kein einmaliger Ausrutscher. Sie geht.
19 Meter
Ein nicht wieder gut zu machender Fehler, ein Moment der Unachtsamkeit. Alles wegen Claudia, was muss sie auch genau jetzt anrufen. Verdammt, es geht immer weiter runter. Aber er sieht nichts, nur eine rote Motorhaube und das Armaturenbrett. Das Auto kippt und beginnt sich vornüber zu drehen. Sein Laptop, der am Rücksitz abgelegt war, verlässt blitzschnell seinen Platz, fliegt an ihm haarscharf vorbei, knallt an die Vorderscheibe und klettert anschließend über die Windschutzscheibe hinaus, flieht in die – nur kurz währende – Freiheit.
Der Job war todlangweilig und nebenbei gefährlich. Ich musste in einem Rohbau im achten Stock den Schutt wegräumen. Immer das gleiche, den Dreck und Schutt mit einem großen Besen zusammenschieben, die Schaufel beladen, in die Scheibtruhe leeren, bis sie voll war; anschließend mit der vollen Scheibtruhe zum Balkon, auf einen Pfosten rauf, der auf dem betonierten Rand des Balkongeländers auflag. Oben angekommen kippen und den Schutt acht Stockwerke tief hinunterleeren. Ich benötigte nicht nur ordentlich Kraft, die Scheibtruhe hatte ganz schön Gewicht, ich musste auch viel Gleichgewichtssinn und Fingerspitzengefühl entwickeln, um den richtigen Zeitpunkt zu finden. Denn, wenn ich zu früh dran war, dann kippte ich mir Teile des Inhalts auf den Balkon zurück. War ich zu spät, bestand die Gefahr, dass die „Scheibtruchn“ oder sogar ich selbst mit hinunterflog.
Fortsetzung 3. Teil:
Nebenan mauerte ein Maurer mit Gehilfen die Zwischenwände. In einer Pause kam er rüber, bot mir eine Zigarette an und wir standen auf dem Balkon und schauten den Menschen bei ihren Alltagsgeschäften zu. Immer wenn Frauen auf der anderen Straßenseite vorbeigingen, gab´s einen speziellen Kommentar. Ich sagte nie etwas. Es war mir peinlich, machte nur irgendwelche Geräusche, die man so oder so interpretieren konnte. Er wollte von mir aber eh nichts hören.
„Oiso, waunn ich ham kumm`, dann geh ich zerst amoi unter die Dusch´, dann mach ich mir a schens koides Bia auf und dann flick i mei Oide. Danach gibt’s Essen. Wos scheneres gibs net. Des is mei Belohnung.“
Ich dachte, ich hör´ nicht richtig. Flicken? Ich sah ihn von der Seite an.
Er bemerkte es:
„Wos?“
„Flicken?“
„Sog net, du waßt net, wos des ist!“
„Bin mir nicht sicher!“
„Na pempern, schustern.“
„Aja, ist mir klar.“ Ich nickte. „Aber flicken! Hab ich noch nie gehört.“
„Oba davon host du klane Nosn no ka Ahnung, gell?“
Da hatte er recht. Er klopfte mir mit seiner Riesenpranke auf die Schulter.
„Aber des wird schon, wiast segn, wirst schon no draunkumman.“
Er zog noch einmal an der Zigarette, schnepfte den Stummel in hohem Bogen in die Tiefe und ging. Ratlos blieb ich zurück.
33 Meter
„Nein, ich Arsch, so unvorsichtig sein und so schnell unterwegs sein. Volltrottel.“ Er hält sich krampfhaft am Lenkrad fest, der Sicherheitsgurt ist maximal gespannt, den Kontakt zum Fahrersitz hat er längst verloren. Sein Körper drängt im Zusammenspiel mit der Schwerkraft nach oben, jetzt unten, hinaus. Aus dem Auto fliegen Sonnenbrillen, CD-Hüllen, Bonbons, ein Chipsdose, Wasserflasche, Nylonsackerln und seine Umhängtasche ins Freie, finden ihren eigenen, ganz persönlichen Weg hinaus. Die Sonnenbrille hat sich auch verabschiedet.
Die Bar war in einem schimmernden, kalten Blau und Neonlicht gehalten. Von allen Seiten kamen kreisende Lichter und leuchtende Strahler hinzu, die den Raum in eine zuckende und blitzende Unterwelt tauchten. Links gab es eine Sitzecke. Dort saß sein Vater. Eine junge, attraktive Frau im kurzen Minikleid rekelte sich und rieb sich an seinem Oberschenkel und streichelte seine beharrte Brust. Joshuas Vater saß breitbeinig in der Mitte, mit einer dicken Zigarre in den Fingern und einer Champagnerflasche im Kühler am Tisch.
„Dein Alter gibt es sich noch ganz schön auf seine alten Tage!“ brummte eine tiefe sonore Stimme hinter ihm. Als er sich umdrehte, war da niemand. Nur ein Waran, der auf der Bar lag, ihn ansah und leise weitersprach.
„Tja, wenn er wüsste, dass sein Sohn hier wäre, dann wäre ihm das wohl peinlich, was?“ Joshua stand da als kleiner Junge in kurzen Hosen und wusste nicht, ob er mit dem Waran wirklich reden sollte. Als eine Art Zwischenlösung nickte er vorsichtshalber.
„Weißt du mein Kleiner, mit deinem Alten nimmt es kein gutes…“
leises Suuur…
„…Ende“.
Dein Alter will dir die Firma übergeben, aber er glaubt…“
Etwas lauteres Suuur. Suuur.
Wie von der Tarantel gestochen, hüpft Joshua auf und sieht auf die Uhr. 9.15 Uhr. Verdammte Scheiße.
Sehr lautes und aggressives Suuur.
Joshua tapst zur Konsole, drückt drauf. Er hört, dass die Verbindung zustande kommt, unterbricht aber die Bildverbindung.
„Joshua“ eine schneidige, scharfe Stimme bellt aus der Konsole. Am Monitor an der Wand ist nur ein Rauschen zu sehen.
„Ja Vater? Ich bin hier“.
„Du solltest längst in der Besprechung…Wo bist du?“
„Ja … hier Vater…tut mir leid, ich weiß, äh …aber ich hatte noch …äh… ein wichtiges sozusagen Gespräch zu führen.“
„Kannst du das nicht auf dem Weg hierher führen? Wo bist du überhaupt, ich seh´ dich nicht.“
„Ja eben, das hat …äh… alles verzögert, irgendwas funktioniert…“
„Joshua?“
„… mit der Technik nicht…“
Hast du etwas schon wieder verschlafen?“
„nicht…Was? Nein, bestimmt nicht, sicher nicht, echt ich schwöre.“
„Sohn lüg mich nicht an. In 15 Minuten bist du da.“
Die Leitung war schon tot. Das konnte sich nie ausgehen.
47 Meter
Warum ihm gerade jetzt diese Episode aus einer seiner Kurzgeschichten einfiel? Wusste er nicht, in seinen letzten Sekunden! Wäre es nicht angebracht, sich auf den Flug und dessen Ende zu konzentrieren? Aber nein, wohl besser so. Es schweift ab, das blöde Gehirn, das weiß schon, was es tut. Er hängt in den Gurten und ist traurig darüber, was er alles nicht mehr machen kann; aber nur einen Bruchteil.
Fortsetzung 4. Teil …
Viel wichtiger ist eine andere Funktion von Folter, die der „öffentlichen Nichtöffentlichkeit“. Kein Staat gibt zu, zu foltern und dennoch ist allen klar, dass gefoltert wird. In 142 Ländern wird gefoltert, in vielen davon systematisch. Kein Rechtsgut ist so hoch, wie das Verbot der Folter. 155 Staaten haben die Anti Folter Konvention vor mehr als 30 Jahren unterzeichnet und dennoch bleibt Folter endemisch.
Oft hört man, dass es Folter gibt, weil der Staat Informationen erhalten müsse, um sich vor Rebellen, Terroristen und anderen Feinden zu schützen und um deren klandestine Pläne zu durchkreuzen. Einst war Folter ja sogar Teil des Rechtssystems, um Geständnisse zu erhalten. Das alles mag für frühere Epochen gegolten haben, wird aber angesichts der technischen Möglichkeiten der Überwachung und Verfolgung immer irrelevanter. Im Rechtssystem ist jeder Anschein von Folter mittlerweile kontraproduktiv, da ein Geständnis unter Folter vor Gericht nicht gültig ist.
Oppositionelle, politische Aktivist*innen und Angehörige wissen, dass in Haft unmenschlicher Behandlung und Gewalt angewendet wird und es keine Möglichkeit gibt, gegen die absolute Herrschaft während der Folter, mit willkürlicher Verhaftung verbunden und mit der totalen Macht über den Verhafteten, anzukommen. Diese Abschreckungsfunktion ist ein wirkmächtiges Mittel, um Macht und Status Quo aufrecht zu erhalten und die Bevölkerung von Widerstandsaktivitäten abzuhalten.
Folter hat System. Es gibt die geeigneten Räumlichkeiten (Gefängnisse, Keller, Militärlager, Camps). Es braucht die entsprechenden Berufe (Bürokraten, Gefängniswärter, Juristen, Ärzte, Psychologen und jeweils *innen), die das System stützen und weiterentwickeln. Selbst die Wissenschaft, Forschung, medizinische Begleitung und Bildung arbeiten an der Folter mit. Die Foltermethoden haben sich mit den Jahren weiterentwickelt und sind „effektiver“ geworden.
Das Ziel der Folter ist nicht die Tötung, sondern die Traumatisierung und psychische und physische (Zer-)störung der Inhaftierten, denn sie sollen ja als lebende Beispiele der Auswirkungen von Folter „weiter wirken“ und entlassen werden. Ärztliche Begleitung ist daher essentiell, um die Grenzen des Ertragbaren auszuloten, damit die „Behandelten“ gerade nicht sterben. Die US-amerikanischen Militär und Geheimdienste haben im Zuge ihres „War on Terror“ unter anderen „Folter mit Musik“ entwickelt. Inhaftierte wurden Tag und Nacht extrem laut mit Musik beschallt, zumeist noch dazu mit aggressiver Musik aus dem Bereich der verschiedenen Unterarten von Hard Rock und Metal (Trash, Metal-Core usw.) Musik.
Seit den 1970er weiß man, dass es gezielte und strukturelle Ausbildungen zum Folterer gibt. Quer über den Globus konnte nachgewiesen werden, dass es in Polizei- und Militäreinheiten oder entsprechenden staatsähnlichen Strukturen, wie in Guerillaeinheiten, Rebellentruppen und Terrororganisationen eine – nach bestimmten Regeln vorgenommene – Rekrutierung und ein ausgefeiltes Curriculum gibt, um die verschiedenen Stufen zu erlangen, um am Ende Folterer zu werden. Quasi die Masterausbildung.
Folterer als krankhafte sadistische Einzeltäter zu sehen, greift zu kurz. Ausgangspunkt ist eine militärische Drill-Grundausbildung, in der Voraussetzungen geklärt und geschaffen werden, um später einmal Folterer zu werden. Meist sind es junge Männer, oft zwangsrekrutiert, vielfach aus problematischen Familienverhältnissen stammend, die mit Gewalt aufgewachsen sind und ein geringes Selbstwertgefühl besitzen. Während der Ausbildung sind sie mit extremen Schikanen konfrontiert und es werden von ihnen Leistungen verlangt, die sie gar nicht erbringen können. Versagen sie, werden sie geschmäht, bestraft, verunglimpft. Erniedrigung und Kränkung sind ein Teil des Lehrplans.
Ein anderer Baustein der Ausbildung ist es, die bedingungslose Unterordnung und den Gehorsam gegenüber den herrschenden Regeln und Kommandierenden zu erlernen. Die Rekruten werden auf eine Nummer, auf ein Kollektiv (Gruppe, Zug, Kompanie) reduziert. Ihre sprachliche Entwicklung wird gehemmt, durch Corps-Befehl-Sprache und kurzen, knappen, gleichlautenden Antworten (Yes Sir, No Sir), auf Reime und Gesänge. Damit werden sie ihrer Individualität beraubt und in ihrem Denken gleichgeschaltet. Um das alles durchzustehen, zu erlernen, – so ganz nebenbei und in steigender Intensität – bedarf es der sogenannten Dissoziation – dem Auseinanderfallen von psychischen und physischen Vorgängen. Dies ist die Voraussetzung, um Grausamkeiten und die völlige Loslösung von menschlichen Regungen zum eigenen Handeln (Ausführen von Folterhandlungen) einzuüben. Mitleid wird sukzessive abtrainiert.
Als abschließender Faktor ist die Belohnung wichtig. Die, die durch die Hölle gehen und sich ihrer würdig erweisen, denen winkt die „Auserwähltheit“. Die oft aus unterprivilegierten, armen Schichten stammenden, erhalten von Stufe zu Stufe Gratifikationen, werden zu etwas besonderem, erhalten Status, sind Teil einer „großen Familie“, gehören einer Kriegerkaste an, die geehrt und geschätzt wird.
Den US-Marines wird während ihrer Ausbildung folgender Spruch, bei dem der Drill-Instruktor auf seine Genitalien und sein Gewehr zeigt, beigebracht: „Meine Waffe ist dies, mein Gewehr ist das; die ist zum Killen und der macht Spaß!“
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Vor Jahren hatte er den Artikel gelesen und war erstaunt, wie man so etwas Grausames so nüchtern analysieren kann und wie man etwas so Schönes wie Musik so missbrauchen kann.
Wie lange geht das noch, wie tief kann man denn eigentlich fallen? Es müsste doch eigentlich bald aus sein, oder?
Irgendetwas war auf dem Spielfeld passiert. Es gab eine Rudelbildung. Die unaufmerksame Tante Anna – sie interessierte sich nicht wirklich für Fußball – war plötzlich hellwach, sah auf das Feld, sondierte blitzschnell die Lage, zögerte daraufhin keine Sekunde, sprang auf und lief aufs Feld. Den Schirm hatte sie von einem Accessoire zu einer Waffe umgewandelt, mit der sie schwingend auf die streitenden, balgenden Kicker zulief.
Tante Anna machte keine Gefangenen. Sie hieb und stach auf die Raufenden ein. Der Raufhandel war schnell zu Ende. Die einen waren froh, dass Tante Anna dazwischen gegangen war, die anderen waren so überrascht über den fremden – noch dazu weiblichen – Wüterich, dass alle voneinander abließen. Die am Boden Liegenden rafften sich auf, die Spieler beruhigten sich gegenseitig.
Tante Anna straffte ihre Schultern, wandelte ihre „Waffe“ wieder in ein Accessoire um und stolzierte vom Platz. Ganz einer Lady gleich, die ihren Einkauf beendet hatte, setzte sich auf die Bank, rauchte sich eine an und nahm das Gespräch wieder auf. Sie rauchte im Übrigen immer Falk.
Manchmal kam es vor, dass irgendwo in der Nähe der Sitzbänke ein Foul gegen einen unserer Spieler begangen wurde. Auch da verwandelte sich Tante Anna in eine Furie. Sie sprang auf, klammerte sich an die Eisenrohre, die als Geländer fungierten und schrie in kreischender, rauchiger, sich überschlagender, aber sehr lauter Stimme, Unflätiges hinein. Vieles, was aus ihrem Mund zu hören war, konnte man nicht wiedergeben, aber „heast Deppata! I hau das Kreiz o“ wäre wohl gerade noch erlaubt. Das Gemächt des Übeltäters – und was sie damit machen würde – spielte dabei eine große Rolle. Die Spieler …
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