Spiel mit dem Leben Anderer, Teil 1, Kapitel 7

Wie schwer es ist, ein mehrteiliges Kapitel über Asyl und Flucht zu schreiben, zeigt sich gerade an der aktuellen Situation in der Ukraine. Gerade noch ist man mit der Aufarbeitung der letzten Jahre beschäftigt und hat sich den syrischen Bürgerkrieg und die jüngsten afghanischen Entwicklungen zur Grundlage genommen, schon ist alles über den Haufen geworfen. Ein brutaler und durch nichts zu rechtfertigender Überfall und Angriffskrieg des russischen Diktators Putin lässt uns erschaudern, in welche dunkel Zeiten wir alle – in Europa – zurück fallen können.

Da reden wir noch über assymetrische low intense Wars und bürgerkriegsähnliche Szenarien, von zerfallenden Staaten (siehe Wassermann, 2015), die von Terrorgruppen angegriffen werden und von Warlords segmentiert werden und dann greift ein Land ein anderes an, mit Panzer, Raketen und Flugzeugen, wie in dunkelsten Zeiten.

Aber machen wir einen Schritt zurück und beschäftigen wir uns – umso notwendiger – mit den Ursachen von Flüchtlingsbewegungen, was umso leichter erscheint, als dass es im Moment in aller Deutlichkeit uns vor Augen geführt wird.

Menschen gemacht

Flüchtlingsbewegungen sind nahezu immer Resultate von politisch, ökonomischen und militärischen Entwicklungen, die durch Entscheidungen von Machthabern und Machteliten herbei geführt worden sind. Ein wesentlicher Faktor dabei spielt, dass die Welt in Einflußspähren unterteilt war, ist und bedauerlicherweise weiter sein wird. Daher gehen wir jetzt im aktuellen Teil des ersten Kapitels näher auf die historischen und globalen Zusammenhänge ein, die Flüchtlingsbewegungen ausgelöst haben und erzeugen[1].

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass Ausnahmen dieser Regel Fluchtbewegungen darstellten, die aufgrund einer Natur- oder Umweltkatastrophe ausgelöst worden sind. Aber auch diese sind mittlerweile immer häufiger menschengemachten Ursachen geschuldet. Hungersnöte und außergewöhnliche Wetterereignisse sind mittlerweile fast ausschließlich Ergebnis der Auswirkungen des von Menschenhand erzeugten Klimawandels (Scheumann, 2014). Die Folge sind Immer öfter Kriege um die immer knapper werdenden Ressourcen.

Wenn wir das äußerst traurige und düstere Weltgeschehen betrachten, dann müssen wir feststellen, das nahezu alle Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahrzehnten nicht nur einen lokalen-regionalen Aspekt besitzen, sondern immer auch einen imperialen, geopolitischen, in dem Regional- oder Weltmächte ihre Finger im Spiel hatten.

Und selbst die lokalen-regionalen Aspekte – sprich Auseinandersetzungen aufgrund von ethnischen, religiösen, sozialen und politischen Divergenzen – knüpfen oftmals an alte, weit zurückliegende Konflikte,  koloniale Vereinbarungen (Verträge) und auf gesellschaftliche Spaltungen ausgerichtete gezogene Grenzen und Okkupationen. Dafür konnte der Syrien Krieg als Beispiel dienen. Nach dem ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches, wurden die Grenzen zwischen Irak, Jordanien, Syrien, Palästina, sowie Türkei/Anatolien und Kurdistan per Lineal durch die beiden Diplomaten Francois Georges-Picot (Frankreich) und Mark Sykes (Großbritannien) neu gezeichnet[2], die damit die Einflußspähren ihrer Länder in der Region sicherten.

Das führte dazu, dass soziale, ehtnische, religiöse und kulturelle Siedlungsgebiete sowie ökonomische Grundlagen willkürlich durchtrennt worden sind. Genau das war auch eines der Ziele dieses Plans/Abkommens. Der lokale Widerstand gegen die Fremdherrschaft sollte und konnte damit geschwächt bzw. unterbunden werden. Einhergehend damit konnten die jeweilig eingesetzten lokalen Verwaltungshierarchien der Franzosen und Briten lokale Eliten fördern, die erstens treu ergeben waren und zweitens wirtschaftlich davon profitierten. Den großen Teilen der Bevölkerung hingegen blieb von diesen Machtspielen nichts. Sie durften am etwaig aufkommenden Wohlstand nicht mitnaschen, trugen die Lasten und die Segementierung der Gesellschaft führte zu schwachem Widerstand, der leichter isoliert und unterdrückt werden konnte.

In Syrien, als Beispiel, hält eine kleine, quantitativ begrenzte, religiöse Minderheit – die der Alawiten[3] – nahezu alle wesentlichen Machtpositionen inne; Politik Militär, Polizei, Administration. Diktator Assad entstammt selbst einer alawitischen Familie, bereits sein Vater Hafiz Assad regierte Syrien bis 2000 mit brutalen diktatorischen Mitteln. Die syrischen Alawiten sind Nutzniesser des Britisch/Französischen Paktes nach 1918 geworden und haben in den letzten 50 Jahren Syrien fest im Griff. Als der „Arabische Frühling“ (2010-2011) im Nahen Osten ausbrach und auch in Syrien eine Protestbewegung gegen das Regime entstand, brachen eine Reihe von ungelösten Konfliktlinien gleich einer Dominosteinreihe los[4]. Das Regime beantwortete die Proteste mit brutaler Gewalt. Dies allein hätte jedoch noch nicht zu der Katastrophe geführt wie wir sie jetzt im Rückblick sehen. Die Zerschlagung der Baath Partei und die Neuzusammensetzung des irakischen Staates, die ungelösten Fragen in den kurdischen Regionen, sowie die Regionalmächte Türkei und Iran sind die Zugaben des brodelnden Topfes, der schließlich buchstäblich in die Luft ging.

Diese koloniale Vergangenheit wirkt bis heute nach und die Auswirkungen sind auch nach dem offiziellen Ende des Kolonialismus nicht verschwunden. Zwar wurden die Staaten formal unabhängig und es folgten Staatsgründungen, die Abhängigkeiten der jeweiligen Ländern zu den ehemaligen Kolonialmächten blieben aber erheblich. Nach wie vor ist etwa die Einflussspähre von Frankreich in Westsahel so stark, dass französische Truppen dort Krieg führen; wie etwa jüngst in Mali, Niger, Mauretanien, Burkina Faso und dem Tschad.

Ein weiterer Grund für Konflikte und Kriege und damit Auslöser von Flüchtlingskrisen ist der Umstand, das zwar der sogenannte „Kalte Krieg“ nach dem 2. Weltkrieg mit dem „Fall der Mauer“ und spätestens mit der Auflösung der UdSSR 1991 zu Ende ging, die Welt der Einflussspähren jedoch erhalten blieb. So scheint es nach wie vor ganz selbstverständlich, dass es Regionen der Welt gibt, in denen die USA ihren Führungsanspruch geltend macht und genauso ist es mit Russland. Dass dahinter nicht immer politisch-militärische Ziele, sondern oft auch handfeste wirtschaftliche eine Rolle spielen, liegt auf der Hand.


[1] https://www.rolfmuetzenich.de/publikation/renaissance-geopolitik

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Sykes-Picot-Abkommen

[3] https://www.derstandard.at/story/1311802788208/neu-gudrun-harrer—analysen-alawiten-sind-keine-aleviten

[4] https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/innerstaatliche-konflikte/54705/syrien/

Die USA hat in ihrem „Hinterhof“ – Mittel- und Lateinamerika, in der Vergangenheit wie selbstverständlich eingegriffen, wenn es gegen ihre Wirtschafts- und Machtinteressen ging, zettelte Putsches (Chile) an, setzte rechtsgerichtete Autokraten (z.B. Augusto Pinochet) ein, finanzierte konterrevolutionäre Paramilitärs (Nicaragua[5], El Salvador).

Ebenso wie die USA ihren Hinterhof kontrollieren versucht, wird die russische Einflußspähre auf der Gegenseite akzeptiert. Das sind alle ehemaligen Sowjetrepubliken, die in die GUS[6] aufgegangen sind bzw. in ihrem grenznahen Gebiet liegen. Daher fand ähnliches, nur unter umgekehrten Vorzeichen, in Afghanistan statt. 1978 fand ein Putsch afghanischer Kommunisten statt, der zu einem Aufstand weiter Teile der Bevölkerung führte.

1979 rief die afghanisch-kommunistische Regierung die Sowjetunion zu Hilfe, die marschierte daraufhin ein. Das dynamisierte das Kriegsgeschehen und führte zu einer Aufstandsbewegung gegen die Besatzer. Es rekrutierten sich Widerstandsgruppen im Land (mit jeweils religiösen, ethnischen und sprachlichen Hintergründen), sogenannte Mudschahedin, die im Kampf gegen die Sowjets von den USA insgeheim unterstützt worden sind (siehe auch Ruttig, 2020).

Daraus entstanden unter anderem die radikalislamischen Taliban, die mittlerweile nach einem kurzen Krieg im Jahr 2021 wieder zurück an die Macht kamen. 1989 zogen sich die Sowjettruppen – ähnlich militärisch und moralisch geschlagen wie die USA in Vietnam – zurück. Es folgte ein innerafghanischer Bürgerkrieg. Mit Hilfe der USA kontrollierten die Taliban bis 1996 die wichtigsten Regionen und Städte. Die USA mussten jedoch einsehen, welchen fatalen Fehler sie gemacht hatten und stürzten das Taliban Regime mithilfe einer Vereinten NATO Mission. Diese blieb bis August 2021 im Land, konnte jedoch das Land nie wirklich stabilisieren, bis der Abzug im Sommer 2021 die neuerliche Machtübernahme der Tailban besiegelte[7].

Nicht unterschätzt dürfen lokale, separatistisch-nationalistische, rechte bis rechtsextreme[8], oder religiös motivierte gewaltbereite – militärisch ausgebildete Gruppen, die in den letzten Jahrzehnten stark im Steigen begriffen sind. Das hat mitunter auch damit zu tun, dass das Kriegshandwerk „privatisiert“ wurde und paramilitärische Söldnertrupps sich als taugliches Mittel entpuppten, um Geheimoperationen oder Kriegsaktivitäten der Öffentlichkeit zu entziehen.

Da ist einerseits der islamistische Terror und der große Zulauf von militärischen Gruppen. Das geht über die Phase des Zerfalls Jugoslawiens, in dem bereits radikale rechte und islamistische Gruppen aufeinander trafen, ging über die Tschetschenkriege, in denen die Zerstörung des islamistischen Einflußes definitives Ziel der russischen Invasion war, jedoch nur zu einer Radikalisierung von islamistischen Kämpfergruppen führte, die sich in weiterer Folge als Söldner auf den diversen Kriegsschauplätzen (Irak, Syrien, Jemen, Somalia, Äthiopien und jetzt  Ukraine) verdingten.

Das hängt auch damit zusammen, dass immer öfter low intense conflicts, also assymetrische und bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen die Regeln wurden. Insoferne ist die Russland Invasion im Jahre 2022 eine Anomalie der modernen Kriegsführung. Dass ein Land ein anderes überfällt – wie es Russland tat – ist mittlerweile die Ausnahme geworden, heisst aber nicht, dass es traurige Realität sein kann.


Gedanken über die Berichterstattung

Nun in der heissen Phase eines Krieges – bei Ausbruch und Beginn der Kampfhandlungen – ist die öffentliche Aufmerksamkeit und oftmals auch die Empörung der Weltöffentlichkeit groß. Doch je länger der Konflikt andauert, desto mehr ermattet die öffentliche Aufmerksamkeit und der jeweilige Kriegsschauplatz wird vom permanenten Sondersendungsstatus zu einer normalen Berichterstattung in den dafür vorgesehenen Nachrichtensendungen Schritt für Schritt herunter gestuft.

Oftmals, wie auch im Syrien Konflikt gut ersichtlich, gerät der Krieg zwischenzeitlich völlig aus dem Blickfeld. Der Syrien Konflikt ist im Jahre 2022 11 Jahr alt und hat seinen medialen Höhepunkt in den Jahren 2014-2017. Mittlerweile ist der nach wie vor schwellende Konflikt kaum mehr einer Abendnachricht wert, es sei denn, es kommt zu dramatischen Ereignissen, wie etwa der Angriff des IS auf ein Gefängnis im Jänner 2022[9].

Noch schlimmer wirkt sich das bei kriegierschen Auseinandersetzungen aus, der keiner größeren „weltpolitischen“ Bedeutung zu gemessen wird und außerhalb des westlich-europäischen Blickfeldes liegen; oder besser gesagt, wo das wirtschaftliche und politische Interesse gering ist. Konflikte, ethnischer-religiöser-politischer Natur sind dann meist nur Randnotizen, wie etwa die Verfolgung der islamischen Rohingya im buddhistischen Myannmar[10]. Die Zahlen der Flüchtlinge – vor allem in Bangladesh – werden auf mehr als 700.000 Rohingya geschätzt.


[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Contra-Krieg

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinschaft_Unabh%C3%A4ngiger_Staaten

[7] https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/innerstaatliche-konflikte/155323/afghanistan/#node-content-title-3

[8] Die früher ebenfalls aktiven linksextremistischen Bewegungen und Guerilla, insb. in Mittel- und Lateinamerika spielen derzeit wenig Bedeutung; am ehesten noch in Kolumbien.

[9] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/syrien-is-gefaengnis-100.html

[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Rohingya

Ähnlich prekär ist die Aufmerksamkeit gegenüber eines anderen Krieges, der sich seit 2014 in Jemen[11] zuträgt. Eine von Saudi Arabien geführten Allianz, die auf der Seite der Hadi Regierung eingegriffen hat, versucht den Vormarsch der Huthi Rebellen, die vom Iran unterstützt werden, zu verhindern. Jemen ist Schauplatz des Aufeinanderprallens von regionalen Interessen von zwei Regionalmächten (Saudi Arabien vs. Iran), die ihre religiösen Konflikte mit politischen Interessen in einem fremden Land zu lösen versuchen.

Jemen ist aber auch Schauplatz einer humanitären Tragödie. Das bitterarme Land kann sich unter diesen Rahmenbedingungen weder selbst ernähren, noch internationale Hilfsprogramme sichern, sodass sich eine Hungerkatastrophe im biblischen Ausmaße vor den Augen der Weltgemeinschaft abspielt, die jedoch die Augen davor verschließt[12]. Und so strotz Jemen von Waffen, militärischem hochtechnischem Gerät und gleichzeitig verhungert die Bevölkerung und stirbt einen langsamen Tod. Eine relevante Fluchtbewegung, etwa nach Europa gibt es jedoch nicht. Dazu ist die Bevölkerung viel zu arm, um sich deratiges leisten zu können.

Kriege sind generell immer auch lukrativ für die Waffenschmieden der Welt, die überwiegend in den USA, EU-Europa, Großbritannien, China, Russland liegen und das Brennholz all der militärischen Konflikte sind.[13] So arm kann ein Land gar nicht sein, all das nicht genügend Waffen gekauft werden können, um einen Krieg zu führen.

Wenn wir in dem Teil davor des ersten Kapitels über Systematiken der Flucht gesprochen haben, so lassen sich auch Systematiken in der Rezeption von Fluchtbewegungen ausmachen.

Rezeption

In der Öffentlichkeit spricht man ja auch davon, dass „Kriege ausbrechen“, was suggeriert, dass dies von heute auf Morgen passiere. Jedoch entspricht das in keinster Weise der Realität. Denn Grundlagen der Konflikte, die in weiterer Folge zu Kriegen führen, sind zumeist jahrelang zuvor bereits beobachtbar. In vielen Fällen sogar Jahrzehnte, da sie nur befriedete Zustände sind, die auf ungerechten, unfairen und gewalttätigen Umständen zustande gekommen sind; wie zuvor bereits erläutert.

Dies kann in den letzten größeren Flüchtlingsbewegungen, die wir beobachten konnten und die für Europa relevant wurden, gut nachvollzogen werden. Afghanistan etwa oder Syrien (siehe auch Wieland, 2020). Es ist ja nicht so, dass die Familie Assad und ihre Regime vorher Demokraten gewesen wären und die Unterdrückungen und Verfolgungen in Syrien erst ausgebrochen wären, als der Arabische Frühling auch in Syrien ankam[14]. Auch in Afghanistan war die Rückkehr der Taliban im Sommer 2021 kein Ereignis, das plötzlich ausgebrochen war, sondern sich schon lange angekündigt hatte. Es gibt also nahezu immer eine mehr oder minder lange Vorlaufgeschichte, die zum Kriegesausbruch zurück in die Vergangenheit führt.

Ähnliches gilt nunmehr auch für den Überfall Russlands auf die Ukraine. Seit 2014 gibt es zwei abtrünnige Provinzen (Donbass) in der Ukraine, die militärisch von Russland unterstützt werden und die Krim wurde von den russischen Militärs bereits 2014 annektiert. Beides Vorgänge, die gegen das Völkerrecht verstossen. Russland zeigte auch in anderen Ländern, welche geo- und außenpolitische Rolle und Funktion das Militär spielt und wie wenig die herrschende russische Elite sich um internationale Regeln und Verträge schert.

Zu erwähnen seien hier etwa die Kriege in Tschetschenien, das in zwei Kriegen völlig zerstört worden ist und in dem seit der „Befriedung“ ein islamistischer – Putin treuer – Warlord (Kadyrow)[15] sitzt, der den Erfüllungsgehilfen zur Durchsetzung der Macht vor Ort spielt; etwa in Abchasien[16], das von Russland von Georgien militärisch  abgetrennt wurde und auch nur von Russland und seinen Vasallenstaaten anerkannt ist. Ähnliches gilt für die südossetischen Gebiete[17], die ebenfalls eigentlich zu Georgien gehören, aber mit Hilfe Russlands sich de facto unabhängig erklärt haben.

In all diesen Fällen spielt jeweils Russland (vormals Sowjetunion) als imperiale Großmacht eine fatale und entscheidende Rolle. Nahezu ebenso viele Beispiele lassen sich jedoch auch für die zerstörerische Rolle der USA in der Welt finden; mitunter an den gleichen oder nahen und mit den Ereignissen zusammenhängenden  Schauplätzen (Irak, Iran, Syrien, Afghanistan usw.)

Der gerichtete Blick

Bei vielen Bürger*innen in europa entstand in den letzten Jahren der Eindruck, wir wären gerade in den letzten10 Jahren mit einem neuen Phänomen der Flucht konfrontiert. Die Flut der Bilder und Berichterstattungen über „Flüchtlingswellen“ erweckten das Gefühl, die Welt – insbesondere unsere vormals sichere Welt – ginge im gewaltvollen Chaos zugrunde.

Dazu seien einige widersprüchliche Gedankengänge angeführt. Nach den Schrecken des 2. Weltkrieges war unsere Welt keineswegs friedlich. Wir hier in Europa hatten nur das Privileg vieles davon nicht mitansehen zu müssen, weil darüber kaum berichtet wurde, oftmals zeitverzögert und weniger ausführlich[18].

Viele Jahrzehnte lebte gerade Europa mit einem verinnerlichten Blick ausschließlich darauf bedacht, die Lage und Situation in Europa zu betrachten und auf den Ost-West Konflikt zu starren (siehe auch Beatrice Heuser, 2005). Im „Kalten Krieg“ waren daher weniger die Stellvertreterkriege in der Dritten Welt, die Millionen von Opfern und Flüchtlinge nach sich zogen, im Fokus, sondern vielmehr die vergleichsweise niedrige Anzahl von Flüchtlingen, die es über „die Mauer“ schafften und sich dem Einflußbereich der UdSSR entziehen konnten[19].

Mit dem Zusammenbruch des „Ostblocks“ (1989) veränderte sich die Welt – auch weil der Sieg des Kapitalismus und ein „Ende der Geschichte“ (Fukuyama, 1992) ausgerufen wurde. Die Folge davon war eine bis dahin noch nie dagewesene Welle des Neo- bzw. Ordoliberalismus[20] (Privatisierung, Deregulierung, Abbau des Sozialstaates, Spardiktate des Staates, Freihandelszonen, Exportsubventionen, Vergesellschaftung von  Schulden, u.v.m.) und eine rasante Evolution der Informationsgesellschaft und globalisierten Kommunikation. Diese gesellschaftlichen Umwälzungen müssen mit ins Auge gefasst werden, wenn von Flucht und Migration die Rede ist.

Tatsache ist aber auch, dass die Zahlen der Flüchtlinge und Vertriebenen in den letzten Jahrzehnten stetig stiegen. Denn die Konfliktursachen und Wanderungsgründe (Armut, Hungersot, Naturkatastrophen, zerfallende Staaten, bessere Jobs…) sind ja nicht verschwunden, ebenso wenig wie korrupte gewalttätige Regime vor Ort, extreme Unterschiede zwischen Reich und Arm, ökonomische Interessen der reichen Industriestaaten (EU, USA, Japan, Australien…) und multinationaler Konzerne, sei es wegen der expandierenden Märkte und gnadenloser Privatisierung von Gütern (z.b. Wasser), sei es wegen der Rohstoffe, die es zu holen gibt. All das ist die Blaupause für die sich entwickelnden Migrationsströme. Mit der Unterminierung der multilateralen Weltordnung, dem zunehmenden Auseinanderdriften von Reich und Arm und der sich abzeichnenden Klimakatatstrophe, ist das weitere Ansteigen der Flüchtlingszahlen nur eine logische Konsequenz.

Kriege, Vertreibungen, Genozide sind jedoch keine Naturkatastrophen, die von heute auf Morgen ausbrechen, sondern sind Ergebnisse gesellschaftlicher Entwicklungen und Ergebnisse von politischen Entscheidungen und Handlungen, an der die europäischen Staaten und die EU maßgeblich mitwirkten.


Phasen der Flüchtlingshilfe

Aufgrund der Beobachtungen und langjährigen Erfahrungen kann die Flüchtlingshilfe in fünf Phasen eingeteilt werden, die im folgenden etwas näher beschrieben werden soll.

Phase 1: Die Situation im Konfliktgebiet spitzt sich zu. Größere lokale Flüchtlingsbewegungen entstehen bereits, die jedoch noch innerhalb des eigenen Land bleiben und sich in Regionen bewegen, die noch sicher erscheinen. Im Falle der Ukraine war das eine Ost-Westbewegung. Viele Flüchtlinge reisten in den Westen nach Lwiw, nach Czernowitz und Odessa bzw. an die polnische, moldawische und rumänische Grenze. Das Entstehen der ersten Massenflüchtlingsbewegungen ist in der Phase 1 die Zivilgesellschaft Gradmesser und Auslöser.

[11] Insbesondere muss dabei bedacht werden, dass die Mediensituation in den 1960-1990er eine völlig andere war.

[12] Auszunehmen sind die Massenfluchtbewegungen aus Ungarn, Tschechoslowakei, Polen, DDR und Rumänien.

[13] Zum Begriff Ordoliberalismus siehe auch. http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20234/ordoliberalismus

[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Milit%C3%A4rintervention_im_Jemen_seit_2015

[15] https://www.youtube.com/watch?v=NIImZvo23ZI

[16] https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/ruestungsexporte-waffen-zuwachs-4-6-prozent-sipri-institut?utm_referrer=https%3A%2F%2Fl.facebook.com%2F

[17] https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerkrieg_in_Syrien_seit_2011

[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow

[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Abchasien

[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Ossetien

Diese Bewegungen werden von kleinen Gruppen, NGOs, Einzelpersonen, spontan entstehende Zusammenschlüssen wahrgenommen. Diese beginnen rasch und unbürokratisch Hilfe zu organisieren. Oft sind darunter auch Personen, die mit dem Kriegsland familiäre Bande haben, hier als „Expads“ oder Migrant*innen (z.B. Kulturvereine der Ukrainer*innen) leben und um Hilfe gebeten werden und bitten. Oft aktivieren sich auch internationale Kultur- und Kunsteinrichtungen (Kunstverein rotor in Graz) oder Schauspielgruppen, – häuser usw., die mit Menschen aus den Kriegsgebieten in Kontakt stehen. Dieser relativ kleine zivilgesellschaftliche Impuls setzt sich rasch fort und breitet sich aus, ergreift dann auch größere Einrichtungen, die in der Flüchtlingsarbeit und Notfall- sowie der internationalen Katastrophenhilfe aktiv sind und die entsprechenden Resourcen besitzen (Caritas, Rotes Kreuz, Diakonie, u.v.m.).

Je nach Akutsitution und Wahrnehmung dauert diese Phase 1 nur wenige Tage – wie etwa beim Ausbruch des Krieges in der Ukraine – oder länger, wie 2015 wo diese Phase im Juni 2015 ihren Ausgang nahm und bis in den August anhielt.

Die Phase 2 ist vom Übergang von der spontanen, dezentralen Hilfe zur geleiteten, organisierten und koordinierten Hilfe geprägt. Die großen Hilfsorgansationen, der ORF, Nachbar in Not steigen ein und machen auch öffentlichen Druck auf die Regierung und deren Administration. Im Falle der Ukraine Hilfe dauerten Phase 1 und Phase 2 nicht lange, schon bald übernahm das Innenministerium das Zepter und organisierte und koordinierte, gemeinsam mit den Ländern die Erstversorgung, Aufnahme bzw. Weiterreise und Unterbringung.

Bei der letzten großen Flüchtlingsbewegung im Jahre 2015 war das Innenministerium und die nachgestellten Behörden lange Zeit untätig und erzeugte damit prekäre Situationen, etwa bei der Unterbringung. Ankommende Flüchtlinge mussten wochenlang in Zeltlagern auf dem Gebiet des Lagers Traiskirchen campieren[21]. Erst durch die Welle der Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft änderte sich das schließlich.

Damit sind wir in der Phase 3 angelangt, die gesamte Logistik der Hilfe und Unterbringung ist durch die Regierung und die nachgeordneten verantwortlichen Stellen in Bund, Land und Gemeinden über das Land ausgebreitet. Die großen Hilfsorganisationen, sowie eine Reihe von anderen wichtigen Behörden und Stellen sind mit eingebunden, wie etwa die ÖBB, das AMS und viele mehr. Eine bereits ausgerollte Welle der Solidarität und Unterstützung überzieht das Land, wie dies etwa auch jetzt zu beobachten ist.

Diese Phase sollte jedoch nicht zu lange dauern. Es treten nach Wochen und Monaten Ermüdungserscheinungen auf. Viele Menschen, die wochenlang auf Anspannung und unter großem Einsatz aktiv waren, erlahmen und sind am Ende ihrer Kräfte. Auch die öffentliche Meinung beginnt zu erodieren. Medien berichten von bürokratischen Unzulänglichkeiten; was alles wo nicht richtig funktioniert. Erste negative Meldungen tauchen auf von „Vergehen oder Fehlverhalten“ von Flüchtlingen. Gezielte Gerüchte und Falschmeldungen tauchen auf.

In der Phase 4 bleibt das gesamte Hilfssystem aufrecht und funktioniert weiterhin, aber die öffentliche Meinung und Stimmung beginnt sich ganz allmählich zu drehen. Die digitalen Verbreitungsmöglichkeiten in den sozialen Medien ermöglichen es, gezielte negative Stimmungen und Gerüchte, Falschmeldungen oder konstruierte Halbwahrheiten zu verbreiten, die nach und nach auch die öffentliche, politische Meinung zu beeinflussen beginnen.

In Phase 3 aber insbesondere in Phase 4 greifen Gruppen und Parteien in das Geschehen ein, die sich bisher zurück gehalten haben, weder in die Solidarität und Unterstützung mit eingeschwenkt sind, noch diese sonstwie politisch gefördert haben; die jedoch eine fremdenfeindliche, xenophobe und rassistische Agenda betreiben und bewußt eine Umwandlung der öffentlichen Meinung und Stimmung beginnen und nur abgewartet haben bis die euphorische und solidarische Stimmung abebbt.

Diese Phase haben wir während der Ukraine Hilfe noch nicht erreicht, wenngleich in Deutschland bereits eine erste Meldung aufgetaucht, wonach Ukrainer einen Flüchtlingshelfer in Euskirchen (Stadt im Rheinland, nahe Bonn) ermordet hätten. Die Meldung ging mit einem Video viral, stellte sich aber als bewußtes „Fake Video“ heraus. Die Polizei wußte nichts von einem solchen Gewaltverbrechen und nahm die Ermittlungen gegen die Hersteller des Videos auf. Die Spur führt nach Russland[22].

Derartige Meldungen werden in den nächsten Wochen und Monaten öfter auftauchen und sich verbreiten. Vielfach sind es unbedarfte, naive Menschen, die einer sensationellen Nachricht auf den Leim gehen und oft empört sind, die Fakten jedoch nicht überprüfen. Dahinter stecken aber zumeist politische, hetzerische, aufstachelnde und demokratiefeindliche Gruppen und Parteien.

Die Phase 5 stellte jenen Zeitraum dar, in dem die Hilfen Schritt für Schritt zurück gefahren werden und eine Normalisierung eintritt. Hilfsmaßnahmen besonderer Natur, spezielle für die jeweilige Flüchtlingsgruppe, laufen aus.

Der Blick richtet sich stärker auf die Problemfelder, die allgemein unter „Integration“ diskutiert werden, Aufnahme und Erstversorgung verlieren an Bedeutung. Fragen werden diskutiert, etwa wie schwer ist es, die jeweilige Gruppe in den Arbeitsmarkt zu integrieren oder welche Schwierigkeiten gibt es bei den Deutschkursen oder am Wohnungsmarkt. In der Vergangenheit mischte sich darin auch immer ein negativer Diskursstrang mit ein, der die aufgenommen Flüchtlinge als gefährlich, kriminell oder integrationsunwillig darzustellen versuchte.

Wie diese Phase sich bei den ukrainischen Flüchtlingen ausgestalten wird, kann derzeit noch nicht gesagt werden; wann sie beginnt, wie lange sie dauert, welche unappetlichen, hetzerischen Ausmaße sie annimmt. Tatsache ist jedoch, dass bei der letzten großen Bewegung ab 2016 diese Phase deutlich wurde und im negativen Sinne sehr erfolgreich war. Bei allen anderen Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahrzehnte war dies ähnlich.

Bei den Flüchtlingen aus den jugoslawischen Sezessionskriegen (1992 – 1999) konnten diese Phasen beobachtet werden. In der Phase 5 (so ab 1995) wurden der Ruf laut, dass die damals noch Defacto Flüchtlinge genannten bosnischen Flüchtlinge „doch endlich heim gehen sollten, denn der Krieg wäre fast schon zu Ende und die sollten doch ihr Land wieder aufbauen“.

Eine ähnliche Lage könnte auch mit den ukrainischen Flüchtlingen entstehen, wenn etwa der Krieg in bestimmten Regionen der Ukraine beendet ist und der vorübergehende Aufenthalt, der durch die Massenvertreibungsrichtlinie der EU[23] auf ein Jahr befristet ist und die Frage ansteht, ob diese um ein weiteres Jahr verlängert werden soll oder eine Rückkehr möglich erscheint. Das sind aber im Moment Fragestellungen, die noch in weiter Ferne liegen und von der Hoffnung getragen ist, dass der Krieg tatsächlich rasch beendet werden könnte.

Insbesondere afghanische Flüchtlinge waren dieser Stimmungsmache nach 2016 ausgesetzt und wurden öffentlich diskreditiert[24]. Nicht dazu gesagt wurde bei all diesen Anschuldigen (schwer zu integrieren, da Analphabeten, hohe Kriminalitäsbelastung), dass sie vielfach traumatisiert waren und mit ihrer Wartesituation – die durch lange Asylverfahren oder Ablehungen in Asylbescheid und dadurch entstehenden, schlecht abgesicherten und integrationshemmenden subsidiären Schutz – alleine gelassen wurden (siehe auch Asylkoordination, 4/2020).

Aber diese Diffamierung von einzelnen Gruppen ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass es rechten und rechtsextremen Gruppen und Parteien, insb. der FPÖ und der AFD in Deutschland damit gelungen ist, die gesamte „Flüchtlingshilfe 2015/16“ als großen Irrtum und als katastrophale Entscheidung darzustellen. In weiten Teilen der Bevölkerung verfing dies, auch weil namhafte Politiker*innen aus den konservativen und sozialdemokratischen Parteien diesen „Spin“ aufnahmen und manifest machten, zumindest sich nicht dagegen zur Wehr setzten (siehe Wehling 2016).

Dies erscheint im Moment bei der Ukraine Hilfe ausgeschlossen zu sein, das etwa die FPÖ in absehbarer Zeit eine Kampagne gegen Ukrainische Flüchtlinge lanciert, zumal die derzeitige Bewegung auch überwiegend weiblich ist, mit Kindern und älteren Familienmitgliedern und daher das Schüren von Ängsten schwerer ist. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass auch hier Mittel und Wege (Verhetzung und Fakes) gefunden werden, um das Ansehen zu schädigen.


[21] https://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/4745725/Asyl_Innenministerium-errichtet-Zeltlager-in-Traiskirchen

[22] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/fake-news-fluechtlinge-krieg-russland-100.html

[23] https://de.wikipedia.org/wiki/Richtlinie_2001/55/EG_(Massenzustrom-Richtlinie)

[24] https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2112208-Von-holpriger-und-erfolgreicher-Integration.html

Literatur

Asylkoordination (Hg.): Von Afghanistan nach Österreich. Wien, 4/2020

Fukuyama, Yoshio: Das Ende der Geschichte. (The end of history and the last men). Penguin Verlag, New York, 1993

Heuser, Beatrice: Kriege nach dem 2. Weltkrieg, in Zeithistorische Foschungen, Heft 1/2005, Potsdam. 

Ruttig, Thomas: Die letzte Schlacht des Kalten Krieges. In: Asylkoordination. 4/2020.

Scheumann, Waltina: Kampf ums Wasser. In: Gastbeitrag in Die Zeit. Juli 2014

Wassermann, Felix: Asymmetrische Kriege. Eine politiktheoretische Untersuchung zur Kriegsführung im 21. Jahrhundert, Campus Frankfurt/M. 2015.

Wehling, Elisabeth: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Edition Medienpraxis, Köln 2016.

Wieland, Carsten: Syrien. In: Bundeszentrale für politischen Bildung, Politik, Kriege und Konflikte. Berlin 2020.