Spiel mit dem Leben Anderer, Teil 1, Kapitel 6

Im vorhergehenden Kapitel 5 der Serie „Spiel mit dem Leben Anderer“ beschäftigten wir uns mit dem EU- Beitritt Österreichs, dessen Auswirkungen und der Europäischen Asylarchitektur (GEAS), die – soviel lässt sich nunmehr nach vielen Jahren sagen – weder effektiv noch effizient ist und nicht nur eine katastrophale Spirale der Militarisierung (Grenzschutz und Frontex) nach sich zog, sondern auch enorme Kosten verschlang und weiter verschlingen wird; ohne dass nachhaltige und funktionale Verbesserungen eingetreten sind. Daher richten wir unseren Blick im Kapitel 6 noch etwas tiefer auf die Mechanismen und Abfolgen von Flucht und Migration führen.

Alle Flüchtlingskrisen, die in den letzten Jahrzehnten stattfanden und Österreich mehr oder weniger nah und direkt berührt haben, waren Ergebnisse von politischen Prozessen, von Entscheidungen der jeweiligen Machthaber (sic!) und Machteliten, seien es in – mehr oder weniger – „demokratischen“ Regierungen (etwa dem ehemaligen Jugoslawien oder der Ukraine) oder Despotien (Syrien, Saudi Arabien, Afghanistan oder Pakistan).

Imperiale Welt- und koloniale Mächte (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich…) sowie regionale Mächte (Iran, Türkei, Saudi Arabien, Ägypten, Israel) spielen dabei wesentliche Rollen; die ihre Interessen auf Kosten der Menschen und der lokalen Gegebenheiten in der Vergangenheit durchsetzten und dies – wenn auch mitunter mit anderen Mitteln – weiter tun. Der Krieg in Syrien ist dafür aktuelles Beispiel und dient uns im Folgenden immer wieder als Beispiel.

Weltweite Fluchtbewegungen

Noch nie gab es soviele Flüchtlinge nach dem 2. Weltkrieg wie jetzt. Der UNHCR[1] registrierte 83 Millionen Flüchtlinge weltweit im Jahre 2020. Ein Sinken der Zahlen ist nicht in Sicht, da eine Vielzahl von Konflikten mit großer Wahrscheinlichkeit weiter gehen werden.

Nur ein geringer Teil der weltweiten Flüchtlingspopulation findet den Weg außerhalb des Landes, wagt sich in andere Länder und schafft es, sich in Sicherheit zu bringen. Der weitaus größere Teil, nämlich rund 48 Millionen sind „Binnenvertriebene“, also Flüchtlinge im eigenen Land. 26,6 Millionen wurden als Flüchtlinge außerhalb des Landes registriert und 4,4 Mio. stehen als sogenannte Asylwerber*innen in einem Verfahren zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dazu kommen noch 5,7 Mio. palästinensische Flüchtlinge, die unter dem UNRWA – Mandat[2] stehen, die jedoch in dieser Gsamtzahl nicht mit gerechnet werden. Neuerdings scheinen auch 3,9 Mio. Vertriebene aus Venezuela auf (siehe auch UNHCR 2021).

68% der Flüchtlinge unter UNHCR Mandat kommen aus nur 5 Ländern:

  • Syrien (6,8 Mio.),
  • Venezuela (4,1 Mio.),
  • Afghanistan (2,6 Mio.),
  • Südsudan (2,2 Mio.),
  • Myanmar (1,1 Mio.).

Betrachet man die größten Hauptaufnahme-länder, so fällt dabei auf, dass seit der Flucht- bewegung 2015-2016 erstmals seit vielen Jahrzehnten ein europäischen Land unter den 5 stärksten Aufnahmeländern aufscheint. Denn in der Regel sind die Hauptaufnahmeländer nicht in Europa. Angeführt wird diese Liste von:

  • Türkei (3,5 Mio.),
  • Kolumbien (1,7 Mio.),
  • Uganda (1,5 Mio.),
  • Pakistan (1,4 Mio.),
  • Deutschland (1,2 Mio.).

Die folgenden Länder liegen im Nahen und Mittleren Osten wie etwa der Libanon (1 Mio.) und der Iran (979.000) bzw. in Afrika (Äthiopien)[3].

Besonders erschreckend ist der Anstieg des Anteils von Kindern (unter 18 Jahre) an der globalen Flüchtlingsbewegung. Nahezu 35 Mio., also 42% der knapp 83 Mio. Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche. Pro Jahr werden zwischen 290.000 und 340.000 Kinder als Flüchtlinge geboren. 85% der Flüchtlinge befinden sich in Entwicklungs- und Schwellenländer und 73% der Flüchtlinge leben in benachbarten und angrenzenden Staaten. (Siehe UNHCR 2021)

Pro Jahr werden zwischen 290.000 und 340.000 Kinder als Flüchtlinge geboren.

In der Europäischen Union (EU) spiegeln sich diese Zahlen in abgewandelter aber ähnlicher Weise wider. Die Asylwerber*innen und Flüchtlinge, die es nach EU-Europa schaffen, stammen überwiegend aus Syrien, Afghanistan, Venezuela, Kolumbien, Irak, Pakistan, Türkei, Bangladesch. Wobei die Flüchtlingsbewe-gungen von EU-Land zu Land unterschiedlich sind. Von Flüchtenden aus Syrien, Afghanistan, Irak, Iran, Pakistan sind Griechenland, Kroatien, Slowenien, Österreich, Deutschland und die östlicher gelegenen Länder stärker betroffen. Spanien ist traditionell aus ihrer kolonialen Verbindung mit spanischsprachigen Fluchtbewegungen (Venezuela, Kolumbien)[4] konfrontiert; die beiden letzteren sind erst in den letzten Jahren stark angestiegen. Italien, Spanien, Malta sind traditionellerweise mit afrikanischen Migrationsbewegungen beschäftigt.

Innerhalb der EU-Staaten ist Zypern jenes Land, das in den letzten Jahren am meisten Asylwerber*innen beherbergt hatte. Im Jahr 2020 waren das 8,446 Personen pro einer Million Einwohner, gefolgt von Malta (4.683), Griechenland (3.532) und Luxemburg (2.068).  Österreich liegt mit 1.450 an 8. Stelle des EU internen Rankings. Am Ende der Statistik liegen wenig überraschend Polen (39), Estland (33) und Ungarn (9). Länder etwa, in denen die „Migrationsdebatte“ besonders scharf geführt werden, wie etwa Großbritannien (Brexit) (663) oder Italien (355) liegen unter dem EU-Durchschnitt von 932 asylantragstellenden Personen.[5]

Vollständigkeitshalber sei darauf hingewiesen, dass in vielen Ländern diese Zahlen sich auch mit anderen migrationsbedingten Bewegungen überschneiden; also etwa traditionellen „Gastarbeiterbewegungen“, die oft in den 1960er bereits angeworben und in den letzten Jahren wieder reaktiviert wurden. So hat besonders Großbritannien in den 2010er Jahren polnische oder rumänische Arbeitskräfte verstärkt auf die Insel geholt, die dann in den Auseinandersetzung um den Brexit, als Argument für Überfremdung von den Konservativen und rechten Kräften hervorgeholt worden sind. In Österreich ist diese Vermischung von früherer Gastarbeiter-bewegung (Jugoslawien, ab 1964) mit der späteren Flüchtlingsbewegung in den Jugosla-wien Kriegen (ab 1992) erfolgt. Viele Flücht-linge hatten bereits Bekannte und Verwandte in Österreich und flüchteten daher zu ihnen nach Österreich.


[1] UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees, Hochkommisär für Flüchtlinge.

[2] https://www.unrwa.org/

[3] https://www.unhcr.org/refugee-statistics-uat/#_ga=2.28266556.1812857945.1644572129-255817841.1644572129

[4] https://www.migration-infografik.at/eu-asylstatistiken-2020/#herkunftsstaaten

[5] Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2020, siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/156549/umfrage/asylbewerber-in-europa-2010/

Die jährlichen Gesamtantragszahlen in den EU Staaten, spiegeln auch die außergewöhnliche Situation von 2015/2016 wider. Bis zum Jahre 2012 wurden nie mehr als 355.000 Asylan-träge in den EU Staaten gezählt. Ab dem Jahr 2013 stiegen die Zahlen jedoch an: 2013 – 401.000, 2014 – 594.000. Im Jahr 2015 sprangen die Zahlen auf 1,283 Mio. Asylanträge hoch. Im Jahr  2016 waren es noch einmal 1,2 Mio. Danach sanken die Zahlen wieder auf unter 700.000.

Bei der Betrachtung von absoluten Zahlen sticht Deutschland innerhalb der EU deutlich hervor. Die deutsche Bundesregierung nahm 441.900 im Jahr 2015, und 722.365 im Jahr 2016 die mit Abstand meisten Asylanträge entgegen.

In diesen genannten Jahren waren auch die Aufnahmezahlen von Österreich beachtens-wert. Mit 85.520 lag Österreich 2015 unter den ersten vier EU-Aufnahmeländern, 2016 mit fast 40.000 immer noch an fünfter Stelle, noch vor Länder, wie UK[6], Spanien oder Polen, die um ein vielfaches größer sind und mehr Bevölkerung haben, als Österreich. In den Jahren darauf lagen die Asylantragszahlen in Österreich wieder im Normbereich zwischen 22.000 (2017) und 11.000 (2018)[7].

Diese außergewöhnliche Aufnahmebereitschaft in den Jahren 2015/16 dient mittlerweile jedoch den folgenden Bundesregierungen dazu, nahezu jegliche Hilfsleistungen einzustellen und sich nicht an Gemeinschaftsaktionen (Resettlement Programmen, Aufnahme von afghanischen Familien bei der Evakuierung während der Machtübernahme der Taliban) zu beteiligen[8].

Anhand der in Europa am deutlichsten und öftesten rezipierten Flüchtlingsbewegung in der jüngsten Vergangenheit, des syrischen (Bürger-)Krieges lässt sich eine immer wiederkehrende Systematik bei Flüchtlingsbewegungen exemplarisch nachzeichnen. Sie kommt bei jeder bisher beobachtete größeren Flüchtlingsbewegung vor.

Auffälligkeiten der aktuellen Fluchtbewegungen

Ein Gender Gap!

Ein auffälliges und seit Jahrzehnten bestehendes Ungleichgewicht besteht, wenn wir die Zahlen von weiblichen Flüchtlingen und Asylwerberinnen in Europa und insbesondere in der Europäischen Union (EU) und jenen, in Lagern und Notunterkünften außerhalb der EU betrachten. Von den 1,26 Millionen Asylanträgen, die 2015 in den EU Staaten gestellt wurden, waren lediglich rund 30% von Frauen. In Österreich wurden 2018 13.400 Asylanträge registriert, davon waren 5.335 von Frauen. Das beträgt einen Anteil von 39,81% (BMI, 2018). Im Jahr 2020 – die letzte derzeit verfügbare vollständige Jahresstatistik – war der Anteil gar nur 22,93% an weiblichen Flüchtlingen (BMI, 2020). Dieser prinizpielle Trend – von etwa 1/3 Frauenanteil bei Asylanträgen – spiegelt sich in der gesamten EU wider[9].

Der Anteil von weiblichen Geflüchteten weltweit liegt jedoch bei etwas über 50%, je nach Fluchtphase und Region ist die Zusammensetzung jedoch äußerst unterschiedlich. Der weitaus geringere Teil der weiblichen Flüchtenden macht sich auf den Weg außerhalb des unmittelbaren Konfliktraumes. Betrachtet man die Situation vor Ort, also in den Notlagern der betroffenen Länder (Syrien, Irak oder Afghanistan, Iran, Pakistan) und in unmittelbarer Nähe des Konfliktherdes Syrien (Libanon, Türkei, Jordanien oder Iran), so sieht die Verteilung zwischen den Geschlechtern nahezu spiegelverkehrt aus. Die überwiegende Zahl, die in den Lagern leben müssen, sind Frauen, Kinder und alte, kranke Menschen, die den beschwerlichen Weg der Flucht sich nicht leisten können und/oder nicht auf sich nehmen wollen/können (siehe auch UNHCR, Flüchtlingsfrauen).

Warum dies so ist, werden wir im folgenden etwas näher beleuchten. Der eine Aspekte dabei ist, dass Flucht in mehrere Phasen unterteilt werden kann. Diese werden im folgenden näher erläutert; davor müssen wir uns mit dem zweiten Aspekt beschäftigen, nämlich jenem, der Bedingungen, wie wann und unter welchen Umständen Flucht erfolgt und mit einigen Mythen aufräumen, die im Zusammenhang mit modernen gewalttätigen Konflikten erzählt werden.

Von den 1,26 Millionen Asylanträgen, die 2015 in den EU Staaten gestellt wurden, waren lediglich rund 30% von Frauen.

Die folgende Darstellung ist generalisierend, sie zeichnet die zumeist vorherrschenden Bedingungen und Gründe nach, die in der überwiegenden Mehrzahl in der Forschung und den Studien dazu, nachzulesen sind. Das heisst jedoch nicht, dass es nicht andere Formen und Erscheinungsweisen von Flucht und Migrationsbewegungen gibt. In der Regel stellen diese jedoch nicht den Mainstream dar.

Die Zivilbevölkerung ist das Opfer

Im Gegensatz zur öffentlichen Darstellung tragen die Folgen von Kriegen und gewalttätigen Auseinandersetzungen, totalitären Regimen und innerstaatlichen Gewaltakten im überwiegenden Maße die Zivilbevölkerung. Amerikanische Gesundheitsexpert*innen (siehe Wiiest u.a., 2014) haben in Rahmen einer großangelegten Metastudie herausgefunden, dass 85-90% aller Getöteten in kriegerischen Konflikten Zivilist*innen waren. Frauen und deren Angehörigen sind überproportional betroffen. Dies steht im krassen Gegensatz zum kolportierten Bild, das Militärs selbst die Hauptbetroffenen von Kriegen seien und es steht im Gegensatz zu den Bildern des modernen Krieges, in dem suggeriert wird, es gäbe keine Kollateral-Schäden[10] mehr und die moderen Waffensysteme könnten punktgenau ihre Ziele ausmachen und treffen.

Die neuen asymmetrischen Kriege[11] haben die gewalttätigen Aktionen (Anschläge, Angriffe inmitten bewohnter Gebiete/Vierteln) vielmehr zur Zivilbevölkerung getragen – Zivilbevölkerung wird oft als Schutzschild (Geiseln) benutzt. Die alte militärische Grundregel: hier kämpfende Truppen, dort Zivilbevölkerung gilt immer seltener.


[6] Damals noch zur Eu gehörend.

[7] https://www.migration-infografik.at/eu-asylstatistiken-2020/#asylantragszahlen-pro-jahr-quartal-und-monat

[8] https://orf.at/stories/3239669/

[9] https://www.migration-infografik.at/eu-asylstatistiken-2021#asylsuchende-nach-geschlecht-und-alter

[10] Unbeabsichtigter, aber in Kauf genommener Schaden, um die Ziele der Aktion zu erreichen.

[11] Siehe auch Teil II der Serie, Zwischentitel: Verfolgung durch einen Staat. https://gulis.at/schreiben/spiel-mit-dem-leben-anderer/

Frauen kümmern sich um die Familie

Die tief verwurzelten Rollenbilder sind in vielen Gesellschaften nicht außer Kraft gesetzt, insbesondere nicht bei Krisen und gewalttätigen Konflikten. In den meisten Fällen gilt die Regel; Frauen kümmern sich in Krisenzeiten um die ganze Familie und fliehen daher auch gemeinsam mit ihnen oder eben nicht. Sie sind immobiler und es bedarf größerer Anstrengungen, die Flucht mit Kindern, Großeltern usw. zu bewerk-stelligen.

Bei Frauen, die alleine nach Europa kamen, sind meist wesentliche Teile der Familie und Angehörige verschwunden oder getötet worden. Ausnahmen sind dort zu finden, wo es Frauen auch als kämpfende Truppe gibt, etwa bei den kurdischen Einheiten der YPG in Syrien[12]. Darauf kommen wir noch später zu sprechen.

Familien entscheiden – als ein wesentlich breiterer Begriff als in Mitteleuropa üblich – zumeist gemeinsam darüber, wer als erstes flieht. Nicht immer aber häufig sind solche Familien- oder Dorfsysteme von einer patriarchalen Struktur durchzogen. Daher ist es oft ein Patriarch, ein männlich geprägter Ältestenrat oder gar ein Dorfvorsitzender, der diese für die Menschen vor Ort so wichtigen Entscheidungen trifft (siehe UNHCR, Flüchtlingsfrauen).

Flucht basiert auf illegalen Wegen

Die Organisation und Hilfe von Flucht ist zumeist illegal. Nicht nur im betroffenen Land selbst, sondern auch auf den weiteren Wegen, den einzelnen Etappen werden falsche Reisedokumente, Visa benutzt, Bestechungsgelder für Grenzpolizist*innen eingesetzt, Fluchthelfer*innen in Anspruch genommen, die über nicht offizielle Wege die Genzen überwinden. Es gab und gibt Strukturen des „Schlepper- oder Schleuserwesens“, die es Menschen ermöglichen, die Flucht zu organisieren[13].

Der Grund dafür liegt darin, dass kein Staat und keine Staatengemeinde (EU) es bisher geschafft hat, ein System dauerhaft zu etablieren, bei dem freies Geleit und eine sichere Zuflucht zugesichert werden konnte, obwohl die Innenminister*innen der EU Staaten ständig davon reden, dass man die illegale Migration wirksam bekämpfen würde.

Ein System, das es bereits gegeben hat, das den Boden der illegalen Migration unterwandern würde, wären sogenannte Resettlement Programme

Die Bandbreite der Betrachtungsweise auf die Fluchthilfe ist breit. Die offizielle Politik sagt dem Schlepperwesen seit Anfang der 1990er den bedingungslosen Kampf an, ohne irgendeinen sichtbaren Erfolg verzeichnen zu können[14]. Weder ist die Schlepperkriminalität insgesamt zurückgegangen, noch konnten kriminelle Organisationsformen zurückgedrängt werden. Es ist eher so, dass das EU-Asylregime, das auf Abwehr, Abschottung und militärische Antworten setzt, den Geschäften der Schlepper eher noch entgegen kommt (Goebel 2017, S. 206).

Am anderen Ende des Spektrums werden sie – die Fluchthelfer – von vielen Flüchtlingen zu Helden oder Samaritern stilisiert. Zwischen diesen Polen gibt es in der Realität eine große Bandbreite; vom einfachen Familienvater, der auf der Heimreise aus dem Urlaub jemanden über die Grenze mitnimmt, ebenso wie die skruppellose, durchorgani-sierte Mafiaorganisation, die wie eine Firma arbeitsteilig in jedem Land und international organisiert ist, die eine Dienstleistung anbietet und dafür – oft nicht wenig – Geld kassiert (siehe BpB 2015).

Ein System, das es bereits gegeben hat, das den Boden der illegalen Migration unterwandern würde, wären sogenannte Resettlement Programme, die von Ländern wie USA, Kanada, Australien und Neuseeland immer wieder aufgelegt worden sind. Jedoch in den letzten Jahren sehr selten zur Anwendung kamen und immer nur für eine bestimmte Region oder einen Konflikt galten (so etwa das Programm der USA für die vietnamesichen und kambodschanischen Boat People)[15].

Dieses System bevorzugt junge Männer

Die Wahl in den Familien und Räten vor Ort fällt daher in der Regel auf junge Männer aus der Familie/aus dem Dorf. Sie seien für die Strapazen einer illegalen Flucht besser geeignet, so eine der Argumentationen. In der Tat sind die Gefahren für sie geringer, als für Frauen (siehe auch BIM 2016), denn das Schleppergeschäft ist männlich dominiert und von knallharten Geschäftsinteressen geprägt. Die Menschen, die sich den Netzwerken anvertrauen sind Ware für Geschäfte aller Art. Daher ist die Gefahr von Gewalt, Vergewaltigungen und Zwangsprostitution auf der oft langen Reise eminent.

Man traut den jungen Männern auch mehr Durchsetzungskraft im Zielland zu. Und schließlich sind die Aufnahmebedingungen und Chancen in EU-Europa für junge Männer besser, die selbst, wenn es legal nicht klappt, am illegalen Schwarzmarkt Einkommensmöglichkeiten finden und sich durchschlagen können. Der Bedarf an billiger Arbeitskraft ist im legalen wie auch im informellen Sektor beständig vorhanden.[16]

Für diese jungen Männer werden die Mittel aufgebracht, die ganze Familie legt zusammen. Auch hier gibt es einen patriarchalen Vorteil, da der Besitz der Familien oft in männlicher Hand liegt. Diesen jungen Männern wird damit auch ein innerfamiliärer Auftrag mitgegeben. Sie sollen – sobald es ihre Lage erlaubt –Teile der Familie nach holen, denn schließlich wird auch die „Rückzahlung“ des geliehenen Geldes erwartet.

Dieses Prinzip der Familieneinheit ist zwar eher aus der Migrationsforschung bekannt, gilt aber für alle Fluchtbewegungen ebenso und ist durch die GFK und dem Asylgesetz im „Recht auf Familienzusammenführung“ auch nochmal extra betont.

In nahezu allen Gesellschaften sind Frauen verstärkt von Armut betroffen bzw. verdienen deutlich weniger oder haben gar keinen eigenen Besitz, sodass ihnen eine Flucht ohne Zustimmung des Dorfes oder des Familienrates meist gar nicht möglich wäre.

(Junge) Männer werden aber auch deswegen oft außer Landes gebracht, weil sie sich im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen in einer Double Bind Situation[17] befinden. Entweder werden sie rekrutiert – für die eine oder andere Konfliktpartei und sind damit in Gefahr zu Tätern zu werden – oder wenn sie sich dem entziehen, werden sie selbst verfolgt und als „Verräter“ denunziert. Es gibt bei jungen Männern (in der Phase der Militärzeit) ein erhöhtes Bedrohungsszenario.


[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Volksverteidigungseinheiten

[13] Siehe auch: https://gulis.at/schreiben/serie-wir-mussen-die-illegale-migration-bekampfen-mussen-wir/

[14] https://www.fluter.de/sites/default/files/flucht_28bis32.pdf

[15] https://gulis.at/schreiben/schluss-mit-scheinlosungen/

[16] Das gilt jedoch mittlerweile auch für jene, Sektoren in denen Frauen arbeiten (dürfen/müssen), wie etwa Pflege, Haushaltshilfen, persönliche Dienstleistungen aber auch Prostituion.

[17] In diesem Fall ist gemeint, dass die Männer, wie sie sich auch entscheiden, Gefahr laufen von der anderen Seite als Feind identifiziert zu werden und in Kampfhandlungen verwickelt werden.

Die Phasen der Flucht

Kommen wir nun zu den Phasen, Abläufen und Mechanismen der Flucht. Dabei bleiben wir beispielhaft beim Konflikt in Syrien und den darauffolgenden Flüchtlingsbewegun-gen.

Phase 1

Das UNHCR schätzt, dass mindestens 7.0 Millionen Syrer*innen innerhalb der (ehemaligen) Landesgrenzen auf der Flucht waren bzw. sind. Das kann man als die Phase 1 der Flucht bezeichnen. Die von Verfolgung und Krieg Betroffenen, versuchen sich in Sicherheit zu bringen. Das passiert dadurch, dass man in die nächst sichere Stadt/Region/Provinz flüchtet. Oft ist das auch die Rettung der Betroffenen zu Verwandten und Freunden, die in anderen Regionen leben. Das nennt man im Zuge des Asylantragsbegutachtungsverfahrens auch die Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative[18]. Enden die Auseinandersetzungen, die Kampfhandlungen, die Verfolgungen, dann setzt bald eine Rückkehrbewegung ein.


Häufig beruhigt sich die Lage jedoch nicht, wie in Syrien geschehen. Die Geflüchteten und Vertriebenen können nicht zurück, müssen dort bleiben, wo sie vorerst in Sicherheit waren. Häufig weiten sich Konflikte aber aus und es erfolgt eine räumliche Eskalation der Verfolgung und Gewalt. Neben den bereits einmal Geflüchteten werden dann auch jene zu Flüchtlingen, die bis dahin sicher waren. Dies ist der Beginn der Phase 2.

Phase 2

Weitere geschätzte 7.0 Millionen Syrer*innen (siehe Statistik und Zahlen) sind in die benachbarten Länder Türkei, Libanon, Jordanien, Irak, Iran, Ägypten und anderen Ländern in Nordafrika geflüchtet. Das sind jene Menschen, die bereits aus einem vermeintlich sicheren Gebiet erstmals vertrieben worden sind und nunmehr in eines der Nachbarstaaten geflüchtet sind, weil ihnen etwa der Weg in ihr angestammtes Gebiet oder in eine andere Region Syriens[19] versperrt worden ist oder es schlichtweg keine sichere Region mehr gibt.

Wir kennen die TV- Bilder und Dokumentationen über die Aufnahme von Flüchtlingen in derartige Notlager. Sie werden in den Nachbarstaaten rasch aufgebaut und sind mit grundlegender Infrastruktur ausgestattet. Die Unterkünfte sind häufig erstmal Zelte, manchmal nicht einmal winterfest. Die Aufgenommen erhalten Essensrationen, es gibt Toiletten und Sanitäranlagen, sowie eine ärztliche Basisversorgung. Das alles jedoch unter prekären Bedingungen.

Diese Notlager werden von den jeweiligen Ländern, dem UNHCR und internationalen Hilfsorganisationen – wie etwa Rotes Kreuz/Roter Halbmond, Caritas, Diakonie, Ärzte ohne Grenzen usw. – aufgebaut und betrieben. Das UNHCR registriert in den Lagern auch die Flüchtlinge und stellt sie unter ihren Flüchtlingsschutz – das sogenannte UNHCR Mandat. Im Falle des Syrien Konfliktes füllten sich diese Lager rasch, sodass nicht nur die Kapazitäten bald an ihr Limit gelangten, sondern auch die Aussicht auf ein Ende des Krieges in Syrien schwand.

Die Lager, die bei solchen Krisen entstehen, sind nur für den Notfall gedacht. Damit wird eine schnelle Erstversorgung gesichert. Für einen längeren Aufenthalt sind diese eigentlich nicht geeignet. Die Praxis zeigt, dass diese Annahme jedoch meist falsch ist.

Ehemalige Notlager durch das Internationale Rotes Kreuz/Halbmond und UNHCR bestehen oft viele Jahre, ja mittlerweile Jahrzehnte (wie etwa die UNRWA Lager der Palästinensischen Flüchtlinge im Libanon und anderen Nachbarländern Syriens). Ansätze, diese Strategie (Notlager) zu verändern gibt es,  aber sie stecken noch in den Kinderschuhen[20].

Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens in solchen Lagern. Seit dem offenen, gewalttätigen Ausbruch des Syrien Konfliktes im Jahre 2011 sind etwa in den Libanon mehr als 1 Mio. Menschen geflüchtet und in Lager aufgenommen worden. Dazu muss erwähnt werden, dass der Libanon, dzt. etwa 7 Mio. Einwohner*innen, nicht viel größer als das deutsche Bundesland Hessen ist und bereits seit vielen Jahrzehnten ca. 500.000 Palästinensische Flüchtlinge unter UNRWA Mandat aufgenommen hat[21].

Seit mittlerweile 11 Jahren hat sich die äußerst triste Situation von syrischen Flüchtlingen in den Lagern weiter verschlechtert. Nach wie vor leben der Großteil in Lagern, die nicht viel mehr als Notbehelfe sind; oftmals von den Bewohner*innen selbst notdürftig befestigt und ausgebaut[22]. Der Libanon als Staat ist in den letzten Jahren selbst in die Krise gekommen und steht vor einem totalen politischen, sozialen und ökonomischen Zusammenbruch[23].

Je länger dieser Zustand andauert, desto belastender wurde es für die Beteiligten. Dazu kam, dass in den Jahren nach 2011 die Hilfsgelder immer enger wurden. Das Nahrungsmittelprogramm der UNO[24] Ende 2014 bekannt geben musste, dass die Lebensmittelzuteilungen für die Aufnahmeländer, die syrische Flüchtlinge untergebracht hatten, eingeschränkt werden musste. Die Geberländer des UNO Nahrungsmittelprogramms, insbesondere die USA hatten  ihre Mittel verzögert aus- bzw. gar nicht gezahlt. Für die Betroffenen stellte das eine Katastrophe dar. Waren die Rationen bzw. die Geldmittel für den Kauf von Essen und Nahrung schon davor nicht üppig, so kam mit der Situation existenzielle Bedrohung durch Hunger hinzu und die Gefahr, in den Lagern zu verhungern, stieg (FAZ, 2015).

Und nun auch noch die Kürzung der Gelder und Rationen.

Dies war der Auslöser für viele Flüchtlinge, aus der Situation auszubrechen.

Sie müssen sich bitte die Lage damals vorstellen:

Seit mehreren Jahren (von 2011 bis Ende 2014/Anfang 2015) in einem zeltartigen Notbehelf leben, Toiletten und Sanitäranlagen für hunderte Menschen, Wasser nur an reglementierten Wasserstellen und von Essensrationen und Zuwendungen der internationalen Gemeinschaft abhängig zu sein, die nicht satt machen; keine Aussicht, dass der Krieg im Heimatland aufhört, – im Gegenteil – es kamen immer mehr aus der alten Heimat in den Lagern an. Und nun auch noch die Kürzung der Gelder und Rationen [25].


[18] https://www.bfa.gv.at/201/Begriffsbestimmungen/start.aspx#pk_160

[19] Wie dies etwa in manchen nordwestlichen Gegenden Syriens der Fall war.

[20] Etwa im Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien wurde dies versucht. http://oe1.orf.at/artikel/642560

[21] https://de.wikipedia.org/wiki/Libanon

[22] https://www.caritas-international.de/hilfeweltweit/naherosten/syrien/fluechtlinge-libanon

[23] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/libanon-wirtschaftskrise-internetausfall-treibstoffmangel-benzinkrise-armut

[24] https://de.wfp.org/ueberblick

[25] https://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/wie-der-fluechtlingsandrang-aus-syrien-ausgeloest-wurde-13900101.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Phase 3

Das ist der Moment, in dem die Phase 3 beginnt. Jene, die Reserven zur Verfügung haben, kratzen all ihre Mittel zusammen, bitten ihre Verwandten und Familienmitglieder, die zum Teil bereits in der Welt verstreut sind, um Hilfe und machten und machen sich mittels illegaler Fluchthelfer/Schlepper auf, um aus der gefährlichen und verzweifelten Situation zu kommen.

Antonio Guterres UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, sagte damals, dass die Kürzungen der „Auslöser“ der Flüchtlingswelle in diesem Sommer 2015 gewesen seien. Der damalige deutsche Außenminister Walter Steinmeier (jetziger deutscher Bundespräsident) sprach von einem „humanitären Skandal“ und das man sich nicht wundern dürfe, „wenn sich weitere Menschen aus den Flüchtlingslagern auf den Weg nach Europa machen“.[26]

Die Folgen sind bekannt. Hunderttausende syrische Flüchtlinge machten sich auf den Weg, das Mittelmeer mittels waghalsiger Manöver und völlig überladener Boote zu überqueren, um nach Europa – überwiegend nach Schweden, Deutschland und Österreich – zu gelangen und in weiterer Folge auch in andere Länder weiter zu wandern.

Die Phasen 1 und 2 dieser Fluchtbewegung stellten sich überwiegend als Einzel- bzw. Kleingruppenbewegungen dar; bestehend aus Familien oder Teile von Familien, die fliehen. Oftmals sind diese Gruppen in Phase 2 bereits größer; etwa wenn ein ganzes Dorf oder ein Stadtteil gemeinsam über die Grenze flieht.

In Phase 3 zerfällt diese Bewegung wieder in viele kleine Gruppen. Da ihre Ziele aber ähnlich sind, treten sie oft als Massenfluchtbewegung, wie dies dann zu Zehntausenden über Türkei, Griechenland und dem Balkan der Fall war, auf.

Selektion nach ökonomischen Kriterien

Jene syrischen Flüchtlinge, die sich nach Europa aufmachten, waren überwiegend jene, die innerhalb ihrer Gesellschaften, dem Mittelstand, auf jeden Fall nicht den untersten, armen Schichten, angehörten. Dieses Phänomen gehört ebenfalls zur Systematik von Flucht und Migration. Jene, die den unteren, armen Schichten angehören, haben nicht die Mittel, Ressourcen und Netzwerke dafür, um nach Europa zu gelangen, ihnen gelingt höchstens die Flucht als Binnenvertriebene im Land oder in Notlagern in den benachbarten Ländern.

Jene syrischen Flüchtlinge, die sich nach Europa aufmachten, waren überwiegend jene, die innerhalb ihrer Gesellschaften, dem Mittelstand, auf jeden Fall nicht den untersten, armen Schichten, angehörten.

Ein Teil davon schafft es in der neuen Gesellschaft (Türkei, Jordanien), Arbeit, Wohnung zu finden, sich unabhängig zu machen, den Lager den Rücken kehren zu können. Wenn es von Seiten des Staates auch Unterstützung und Programme – etwa auch durch Mittel der EU an die Türkei – zur Integration gibt, wird dies erleichtert und kann gelingen. Wenn die Staaten jedoch selbst in der Krise stecken, wie etwa der Libanon aber auch mittlerweile die Türkei, dann fällt das für Neuankömmlinge und Flüchtlinge entsprechend schwerer. Sie verlieren als Erstes die Arbeit wieder und sind nicht selten rasch auch rassistischen Anfeindungen ausgesetzt und werden Spielball von innenpolitischem Populismus.

Versagen auf allen Ebenen

Anhand der syrischen Fluchtbewegung lässt sich leider auch das völlige Versagen der demokratischen Staatengemeinde zeigen. Nicht nur, dass sie es nicht geschafft hat, den Krieg in Syrien zu verhindern und schon gar nicht zu beenden, es gelang ihnen auch nicht die viel gerühmte und vor allem von der österreichischen Bundesregierung propagierte, „Hilfe vor Ort“ zu leisten. Im Gegenteil, die Hilfe blieb immer nur im Status der Ersthilfe, des Notbehelfes stecken[27]. Die kurz zuvor beschriebene Mittelkürzung für das UN-Nahrungsmittelprogramm zeugte davon, dass das Problem einfach weg geblendet wurde und an einer nachhaltigen Lösung kein Interesse bestand.

Die nächste Ebene des Versagens ist, dass die EU wenigstens eine sichere Reise organisieren hätte können, um den Menschen die lebensgefährliche Route mittels Schlepper zu ersparen. Weder damals noch heute gibt es legale Fluchtmöglichkeiten, die der Staat/die Staaten organisiert hätten[28].

Das Gegenteil war – wäre es alleine nach der Politik gegangen – der Fall. Man reagierte mit Nichtstun (Bis zum Sommer 2015) und anschließender militärischer Härte (Grenzsicherung und Flüchtlingsabwehr). Erst als die Zivilgesellschaft sich im Sommer 2015 lautstark einmischte, änderte sich für einige Monate die Lage. Die Flüchtlinge wurden aufgenommen, versorgt und erhielten freies Geleit in das Land, in das sie wollten.

Dass es dann auch kein innereuropäisches Verteilungssystem gab, wonach die Flüchtlinge auf die europäischen Staaten nach einem bestimmten Schlüssel aufgeteilt werden sollten[29], ist aus der dysfunktionalen Politik eigentlich nur verständlich und kann – traurigerweise – gar nicht mehr sonderlich verwundern[30].

Eine der wenigen positiven Lichtblicke sei hier auch noch erwähnt. Das Lager Zaatari, in Jordanien gelegen, wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, ist eines der wenigen Lager, die in den Jahren zu einer festen Stadt und Siedlung umgebaut wurde[31]. Hier gibt es befestigte Häuser, Wasser und Strom. Die mittlerweile zur Stadt gewordene Siedlung beherbergt ca. 80.000 Menschen, hat Bezirke, eine eigene Stadtverwaltung und die Strassen haben Namen. Es entstanden Geschäfte, es gibt Handwerker; also alles was man zum Leben braucht[32].


[26] Ebda.

[27] Eine Ausnahme stellte tatsächlich das vielkritiserte EU-Türkei Abkommen dar, das den Aufenthalt der 3,5 Mio. Flüchtlinge durch Programme zur Bildung und Integration erleichterte.

[28] https://gulis.at/schreiben/tag-des-fluchtlings-tag-des-widerspruchs/

[29] siehe dazu auch Teil 5 der Serie, Zwischenüberschrift: Die Asylarchitktur der EU-GEAS. https://gulis.at/schreiben/spiel-mit-dem-leben-anderer-teil-1-kapitel-5/

[30] Tagesanzeiger: Nur 1 von 10 Flüchtlinge verteilt – EU stellt Ultimatum. Zürich 2017.

[31] https://de.wikipedia.org/wiki/Zaatari

[32] https://www.unicef.de/spenden/fluechtlingscamp-zaatari-jordanien

Frauenspezifische Fluchtgründe

Frauen in vielen Ländern dieser Erde sind spezifischen Regeln, Normen und Gesetzen unterworfen, die lediglich bestehen, um Frauen vom öffentlichen Leben oder einfach nur der „normalen“ Teilhabe an der Gesellschaft auszuschließen. Man denke dabei an Kleidervorschriften, Moralcodices (außereheliche Beziehungen, Jungfrauenheirat), Diskriminierung und Ausschluß im Bildungs- und Arbeitsfeld, oder an Zwangsverheiratung und Genitalverstümmelung (siehe Vorarlberger Landesregierung 2016, S. 3). Frauenspezifische Fluchtgründe sind in der GFK nicht erwähnt, haben erst in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und werden unter der Kategorie Soziale Gruppe in der GFK verhandelt[33].

Sexualisierte Gewalt und Folter sind ebenso Teil einer gezielt, eingesetzten Kriegsführung gegen Frauen und richten sich aber auch in einer patriachalen Logik des Besitzes von Frauen gegen deren Männer (Erpressung, Geiseln). In vielen Konflikten (nachgewiesen etwa im Bisnoen Krieg) werden Massenvergewaltigungen auch gezielt eingesetzt, um die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung zu verändern (siehe auch Birck, 2002).

Verfolgungshandlungen, die nur Frauen betreffen, wie etwa öffentliche Züchtigung aufgrund fehlender Kopfbedeckung, werden häufig „als zu gering für ein Asyl“ angesehen.

Frauen, die selbst politisch aktiv sind, werden härter verfolgt und bestraft. Nicht nur wegen der oppositionellen Haltung, sondern auch wegen ihres nicht konformen Rollenverhaltens. Frauen sind weiters von gesellschaftlicher Unterdrückung aufgrund patriarchaler Strukturen betroffen (siehe auch Vorarlberger Landesregierung 2016, S. 5). Damit gehen materielle Benachteiligung, geringer sozialer Status und Abhängigkeit vom Mann (oder Männer aus der Familie, dem Dorf) einher.

Schließlich wird Verfolgung meist als öffentlicher politischer Akt gesehen, die Unterdrückung in privater familiärer Spähre, die bei Frauen sehr häufig auftritt, wird oft nicht sichtbar und auch von allen Seiten geleugnet. (Siehe auch Suchy, 2015)

Sexualisierte Gewalt, insbesondere Vergewaltigung und sexualisierte Folter wird in nahezu allen Kriegen und bewaffneten Konflikten, als Teil eines Unterdrückungs- und Unterwerfungssystems angewandt. Das gilt sowohl innerhalb – also gegen die eigene Truppe – der jeweiligen Streitkräfte (staatliches Militär, Milizen, Paramilitärs usw.) als auch gegenüber der feindlichen Armee oder Milizen, aber sie werden auch gegenüber der Zivilbevölkerung systematisch eingesetzt. Sie wird seit 2008 als „Kriegswaffe“ definiert und ist daher auch international geächtet. Ungeachtet dessen ist sie in allen aktuellen Konflikten registriert und in Anwendung[34].

Frauenspezifische Fluchtschwierigkeiten

Die aktuellen illegalen Fluchtwege selbst sind strapaziös, körperlich herausfordernd und gefährlich. Nicht nur aufgrund der illegalen Beförderungswege und Grenzübertritte, sondern auch aufgrund der Abhängigkeiten von Fluchthelfern (Schleppern) (siehe auch Mobashi 2016). Das Leben in Lagern und Zeltstädten bzw. den Asylwerber* innenunterkünften birgt eine Reihe von Gefahren für Frauen (BIM, 2016). Sie brauchen daher auf der Flucht oft männliche „Beschützer“, denn Übergriffe, Vergewaltigungen, Menschenhandel und Zwangsprostitution stellen keine Seltenheit dar, auch in den oben beschriebenen Lagern (siehe auch Kroisleitner, 2015). Ja sogar in Flüchtlingsheimen und Unterkünften in den EU Staaten ist die Gefahr nicht gebahnt[35].

Frauenspezifische Asylprobleme

Frauen, die diese Hindernisse überwunden haben und einen Asylantrag in Österreich stellen konnten, sind dann mit der letzten Hürde konfrontiert, der Anerkennung ihrer Fluchtgründe. Frauenrelevante Verfolgungshandlungen werden oft nicht anerkannt, bagatellisiert und herunter gespielt. Nicht zuletzt deswegen, weil sie oft im vermeintlich „privaten Rahmen“ vorgefallen sind (Vergewaltigung in der Ehe, Bestrafung durch den Familienrat…). In der Tat ist es schwierig, diese Tatbestände mit der GFK in Deckung zu bringen. Da die GFK immer von einer (klassischen) staatlichen Verfolgung ausgeht. Hier wäre im Sinne eines umfangreicheren Schutzes, die Ausweitung der GFK-Regeln wünschenswert und die Verfolgung aufgrund des Geschlechtes zu akzeptieren.

Dass die mangelnde Beschäftigung mit dem Thema zu seltsamen Blüten führen kann, wurde in einer Studie von Terres des Femmes erhellt. Bei der Untersuchungen fanden sie unter anderem Argumente in Asylbescheiden vor, warum Frauen kein Asyl erhielten, da die Behörde argumentierte, dass bestimmte Verfolgungshandlungen wie etwa Genitalverstümmelungen als kulturüblich und nicht asylrelevant seien (Terres des Femmes, Bern 2011[36]).

Verfolgungshandlungen, die nur Frauen betreffen, wie etwa öffentliche Züchtigung aufgrund fehlender Kopfbedeckung, werden häufig „als zu gering für ein Asyl“ angesehen. Schließlich sind gerade sexualisierte Verfolgungshandlungen in Verbindungung mit Folter häufig auch den gesellschaftlichen Tabus ausgesetzt und werden von den Frauen bei den Einvernahmen aus Scham und Angst vor Ehrverlust nicht erzählt.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die Konstruktion sehr wirkmächtig ist, dass Männer, die aktiven, die politischen, die Rebellen und Krieger sind; Frauen jedoch im Krieg nur als schützenswerte Opfer vorkommen. Dass sie jedoch auch Oppositionelle, Widerstandskämpferinnen und Aktivistinnen sein und daher verfolgt sein könnten, ist für viele Asylbehörden schwer denkbar und wird oft in Abrede gestellt. Frauen sind in Konflikten und politischen Auseinandersetzungen auch Akteurinnen.

Mitunter auch Täterinnen und Soldatinnen, etwa die kurdischen Frauenkampfeinheiten der YPG/Syrien. Dass dies auch anders sein kann, haben Diessertori und Langegger in ihrer Arbeit beschrieben (siehe Diessertori, Langegger, 2014). Edit Schlaffer[37] stellte jüngst ein Wissenschaftsprojekt vor, das sich mit dem Widerstand der afghanischen Frauen gegen das patriachale System und zuletzt gegen die Taliban, die Afghanistan zurück erobert haben, beschäftigte[38].


[33] Siehe auch Teil II: https://gulis.at/schreiben/spiel-mit-dem-leben-anderer/

[34] https://sicherheitspolitik.bpb.de/de/m1/articles/sexual-violence-in-armed-conflict

[35] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-09/fluechtlinge-unterkunft-sexuelle-uebergriffe

[36] Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass die Schweizerischen Grundlagen sich im Detail unterscheiden, die Studie sich daher nicht ausschließlich auf die österreichischen Verhältnisse umlegen lässt.

[37] https://de.wikipedia.org/wiki/Edit_Schlaffer

[38] https://sciencev1.orf.at/news/47727.html

Literatur:

BIM – Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte: Frauen und Mädchen auf der Flucht. BIM Position Nr.7, Wien 2016

Birck, Angelika: Verfolgung und Flucht von Frauen. In: MRM – Menschenrechtsmagazin, Heft 2/2002, Potsdam, 2002

Diessertori, Isabella; Langegger, Denise: Women at War. Journal. Kommunikation-medien, Universität Salzburg, 2014.

Goebel Simon: Politische Talkshows über Flucht. Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse. Transcript, Bielefeld, 2017

Terres des Femmes (Hg.): Frauen im Asylverfahren. Die Anerkennung frauenspezifischer Fluchtgründe in der Schweizer Asylpraxis. Bern, 2011.

Quellen:

BMI – Bundesministerium für Inneres: Asylwesen, Statistik 2018.

BMI – Bundesministerium für Inneres: Asylwesen, Statistik 2020.

BpB – Bundeszentrale für politische Bildung: Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert. Bonn 2015.

[http://www.bpb.de/apuz/208009/fluchthilfe-und-migrantenschmuggel?p=all] (Zugriff am 14.02.2022)

FAZ – Frankfurter Allgemeine: Wie der Hunger die Syrer in die Flucht trieb. [http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/wie-der-fluechtlingsandrang-aus-syrien-ausgeloest-wurde-13900101-p2.html], 2015. (Zugriff am 13.01.2022).

Kroisleitner, Oona: Warum Flucht von Frauen anders ist. In: Der Standard, 19. September, Panorama, Gesellschaft, Integration. Wien 2015.

Mobashi, Jessica: „Fluchtursachen und Fluchterfahrungen von Frauen und Mädchen“. Vortrag im Rahmen der Fachveranstaltung „Frauen und Flucht“ Mainz, 2016.

Suchy, Irene: Genozid – Femizid. In: Journal Panorama, Ö1. Wien, 2015

UNHCR: Flüchtlingsfrauen.

[https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/fluechtlingsschutz/fluechtlingsfrauen.html]

(Zugriff, 14.02.2022)

UNHCR: Global Trends 2020. Genf, 2021.

Vorarlberger Landesregierung, Referat für Frauen und Gleichstellung: Frauen auf der Flucht. Vom gehen müssen und ankommen wollen. If:faktum 2/2016, Bregenz 2016

Wiiest H. William; Baker, Kathy; u.a.: The role of public health in the prevention of War. S.: 34 – 47. In: American Journal of Public Health, New York, 2014.