Auf der Strasse verstreut.
Essay von Wolfgang Gulis, erschienen in der aktuellen Nummer #68 der Wandzeitung „Ausreißer„. Nach einer wahren Begebenheit.
SMS-Nachricht, 19.26 Uhr: „Hallo Heimkehrer, gut aus Kolumbien zurück? Bin bei Polizei, wegen Überfall, dauert. Näheres später. B.“
Ist mein Gehirn irgendwo nicht mitgekommen – Polizei? Überfall! Ich zeige Cornelia das SMS; die wird bleich. Wir stehen auf der Rolltreppe des Bahnhofs und rätseln; ungewaschen, müde, schwer bepackt. Vor der Halle fällt orange-gelbes Licht auf den wässrigen, tiefen Schneematsch und lässt ihn wie einen Sandstrand aussehen. Wir leisten uns ein Taxi, wir frieren. Wir kommen aus dem Dschungel, wir dürfen das! Vor drei Tagen waren wir noch am Amazonas, da hatte es morgens um 9.00 Uhr 28° Celsius. Temperaturanzeige jetzt im Taxi: – 2° Celsius.
Leichter Schneefall, stehe am Fenster, geduscht, warte. Wo bleibt sie?
Barbara hat keine Beule auf dem Kopf, sie trägt auch keine zerrissenen Kleider und blutverschmiert ist sie glücklicherweise ebenfalls nicht. Kein Thriller, runter geladen aus dem Netzwerk. Sie ist geschäftsmäßig angezogen, weiße Bluse, dunkler Hosenanzug. Sie will einen Schnaps. Zur Beruhigung der Nerven und zum Prosten, dass wir unversehrt zurück sind. Wir, unversehrt zurück? Hallo, wer wurde überfallen? Wir prosten, es brennt in der Speiseröhre. Sie beginnt zu erzählen.
„Ich pack´ meine Sach´n für die Baustelle zusammen, geh´ zum Auto. Stell´ die Arbeitstasche auf den Beifahrersitz, schnall´ mich an. Steck‘ den Schlüssel ins Zündschloss, will starten. Da geht die Beifahrertür auf, eine Hand schnellt herein, reißt die Tasche vom Sitz und ein Typ macht sich aus dem Staub.“
Wir kippen synchron den Rest aus den Gläsern.
„Ich will raus aus dem Auto. Vergess‘, dass ich ang´schnallt bin, es schnepft mich in den Sitz zurück. Ich, den Scheißgurt weg, reiß´ die Tür auf, ohne Schauen. Ein vorbeifahrendes Auto rast Zentimeter dran vorbei.“
Wir hängen an ihren Lippen.
„Ich schrei‘ laut: ‚Hilfe! Diebstahl! Polizei!‘, Lauf´ dem Dieb ein paar Schritte hinterher. Völlig sinnlos. Komm´ mir plötzlich blöd vor, bleib stehen. Aber was soll ich sonst tun? Und dann … passieren lauter unglaubliche Dinge.“ Barbara schaut auf, sieht den Wein, den sie mitgebracht hat, hält inne.
„Sollen wir den Wein aufmachen und auf eure Rückkehr anstoßen?“
„Ja gut“, sag´ ich, mach mich ans Entkorken, „aber erzähl weiter!“
„Also ich steh da und schrei ´rum. Da kommt ein Pärchen aus dem Park. Sie hat schon das Handy in der Hand, ruft die Polizei. Er deutet aufs Auto und sagt – ganz ruhig – ‚das Auto ist noch offen.’ Na klar, der Schlüssel steckt auch; das fehlte mir noch.“
Ich schenke ein. Barbara sieht gebahnt zu.
„Der Räuber ist inzwischen in den Park … Richtung Norden. Ein Radfahrer, der zufällig dazugekommen ist, strampelt dem Dieb nach. Die Polizei sei schon unterwegs, sagt die Frau zu mir, beruhigt mich und fragt, ob was Wertvolles in der Tasche sei.“ Barbara blickt uns an.
„Da wird mir erst klar, dass in der Tasche alles war; alles, versteht ihr? Geld, Kreditkarten, Führerschein, die Bauunterlagen, die Pläne, die Verträge, alles. Und in dem Moment geht mir´s Häferl über. Ich konnt´ nix dagegen tun.“
Cornelia: „Verständlich!“
„Die nimmt mich in den Arm, tätschelt meine Hand und gibt mir ein Taschentuch.“
„Total nett.“ Barbara nickt. Ich stelle die Gläser hin, wir prosten uns noch einmal zu.
„Dann steh´ ich da und weiß zwar nicht, was als Nächstes passieren soll, will die beiden aber nicht noch länger aufhalten, die haben ja auch was Besseres vor, wollten ins Theater. Trotzdem bleiben sie da und insgeheim bin ich ihnen dafür dankbar.“
Barbara schaut in ihr Glas.
“Aber das Beste kommt noch.“ Pause.
„Plötzlich sprintet der Dieb wieder in unsere Richtung, quer über die Wiese! Der Radfahrer hat ihn umkurvt und wieder zurückgetrieben, ist ihm auf den Fersen. Von einer anderen Seite sehe ich einen Schwarzen, äh … also einen Afrikaner – auch im Lauftempo – schräg von der Seite im spitzen Winkel auf den Dieb zulaufen. Der Dieb ändert wieder den Kurs. Der Radfahrer kommt ihm ziemlich nah. Kurz bevor er ihn packen kann, schlägt er einen Haken, drängt sich zwischen zwei parkenden Autos durch und überquert die Straße. Dabei verliert er meine Tasche! Einen Moment lang überlegt er, ob er stehen bleiben soll, sieht aber, dass der Radfahrer zu nah ist; also einfach über die Straße!“
„Klug von ihm.“
„Ja, … mit dem Rad konnte der ja zwischen den Autos nicht durch.“
„Den hat er abgeschüttelt.“ Barbara nickt.
„Aber er hat den Afrikaner übersehen. Der war vorher schon, weiter vorne auf die andere Seite gewechselt. Der erwischt ihn tatsächlich und stößt ihn nieder.“
Cornelia: „Sagenhaft“.
„Ja, aber es geht noch weiter. Inzwischen sind beim Taxistand an der Kreuzung die Fahrer auch aufmerksam geworden. Einer von denen bewegt sich auf die Szene zu. Als er die beiden am Boden kämpfen sieht, sprintet er los und wirft sich drauf. Irgendwann dazwischen ist endlich die Polizei gekommen; die sind auf der Fahrbahn stehen geblieben und haben gleich einen Stau verursacht.“ Barbara sieht uns an und fragt: „Und was meint ihr, macht der Taxler?“
Wir beide: „Na den Dieb festhalten!“
„Neiiinn“ ruft Barbara aus, „eben nicht“ und haut auf den Tisch, dass die Gläser klirren. „Der Trottel hält den Afrikaner fest!“
„Mist.“ Wir beide gleichzeitig.
„Kannst laut sagen! Der ist überzeugt, dass der Schwarze der Dieb ist. – Eh kloa.“ Barbara holt Luft und setzt zum letzten Kapitel an.
„Während der richtige Dieb …“ beginnt Cornelia.
„… auf und davon rennt. Ich seh´ das, schrei‘ dem Taxler zu, dass er den Falschen im Schwitzkasten hat, aber der hört nix oder will nix hören. Ich will rüber, aber der Verkehr auf meiner Seite ist zu dicht. Dann stoppen die Polizisten die Autos und wir sind gemeinsam hin.“
„Und dann?“
„Nehmen die auch noch den Afrikaner fest!“
„Das darf nicht wahr sein.“ Wir fallen in unsere Sessel zurück.
„Die wussten noch nicht mal, was überhaupt passiert ist.“ Stille im Raum.
„Das Krasseste daran aber war, dass John, so heißt er, auch noch verletzt worden ist, hat einen Messerstich abgekriegt, blutete ziemlich.
Die Rettungsleute, die dann gekommen sind, haben gesagt, dass er viel Blut verloren hat, die Wunde selbst ist zum Glück nicht sehr tief. Morgen fahr´ ich ins Krankenhaus, ihn besuchen. Er ist Asylwerber, soweit ich das mitgekriegt hab´, hoffentlich ist er versichert.“
„Und die Tasche?“
„Meine Sachen waren auf der Straße verstreut, aber alles war da. Über die Pläne sind die Autos drüber, aber halb so wild. Das Ehepaar hat die Sachen eingesammelt und ist beim Auto geblieben, bis ich wieder zurück war … voll nett.“
„Die Vorstellung haben sie verpasst?“
„Ja, aber ich glaub, die haben auch so einen aufregenden Abend gehabt. Mit einem Lehrstück.“
Als Barbara geht, ist es Mitternacht. Wir alle können uns kaum noch auf den Beinen halten. Die Flasche Rotwein ist leer.