Es war in den 1970er Jahren. Wir wuchsen im Stiftingtal – in einer Stadtrandreihenhaussiedlung auf. Eine ganze Gruppe von halbwüchsigen und pubertären Kindern fand sich zusammen, alle ungefähr gleich alt.
Fußballspielen war einer der Lieblingsbeschäftigungen von uns Buben. Neben den kleinen Bankerlkicks in den Gärten der Häuser fuhren wir oft mit den Rädern zwei Kilometer weit zu einem damals noch existierenden Fußballplatz mit großen Toren, nahe der Endstation der Straßenbahn Nr. 7 beim LKH. Auf dem Fußballplatz gab es fast jedes Wochenende Matches.
Gleich daneben gab es ein großes, düsteres Haus – das Pestalozziheim. Wir beachteten es nicht weiter, wußten nur, dass da schwer erziehbare Kinder untergebracht waren. Sonst sahen wir nie etwas von ihnen. Eines Tages – wir spielten gerade – öffnete sich ein Hintertor an der Umzäunung, nahe des Stiftingbaches und es kamen einige Jungs heraus. Sie schlichen langsam näher, standen einige Zeit unschlüssig in der Nähe des Tores. Bei einer Unterbrechung fragten sie, ob sie nicht mitspielen könnten und wir gegen sie spielen wollten. Es lag für uns etwas bedrohliches, fremdes in der Luft. Wir sagten zu, denn wir hatten das Gefühl, das ein Nein für uns ungünstig wäre.
Damals wußten wir instinktiv, dass mit denen etwas anders war. Die meisten von ihnen waren auch nicht älter als wir. Schwer zu beschreiben was es war. Sie waren definitiv erwachsener als wir kleine Bürgersöhnchen; und es fehlte ihnen jede Art der Leichtigkeit. Sie hatten auch im Match etwas verbissenes, ernstes; manchmal aggressiv- brutales an sich, obwohl nie ernsthafte Verletzungen oder bösartige Foul passiert sind. Die Matches gegen sie hatten den Charakter eines Ligamatches. Ich glaube, mich zu erinnern, dass wir ziemlich ebenbürtig waren; manchmal gewannen sie, manchmal wir. Auf jeden Fall kämpften und arbeiteten sie am Platz anders als wir. Für sie ging es um etwas, das war der Unterschied. Wir ließen die Zügel manchmal schleifen, wenn es hart auf hart ging.
Wirkliche Freundschaften entstanden nicht. Wir sprachen in den Pausen mit ihnen, meist zaghaft, nie länger. Sie kamen immer bald aufs Heim zu reden, dann legte sich sofort eine Düsternis auf sie und uns. Ein älterer unter ihnen hatte schon eine Lehrstelle und er zählte die Tage, bis er „raus kam“ wie er sagte. Wir verstummten, gingen Wasser trinken und blieben unter uns.
Beklemmend
Besonders beklemmend wurde es, wenn Erzieher kamen, um sie zu holen. Dann spürte man, dass Angst in der Luft lag. Wenn die grobschlächtigen und kräftigen Erzieher zum Heimkommen brüllten, dann war es vorbei mit dem Match, dann war aus – von einer Sekunde auf die nächste. Dann schlichen die Burschen zurück, durchs Hintertor in ihr Gefängnis. Normal gesprochene Sätze hörten wir von den Erziehern nie, es wurde geschrieen, zumindest aber laut und aggressiv gesprochen. Nicht selten erhielten diejenigen, die als letztes vom Platz schlurften, einen Tritt in den Hintern oder eine „Knachwatschen oder Dachtel“ im Vorübergehen.
Wir standen wie begossene Pudel am Platz, meist noch mitten in der Szene erstarrt, unser Gegner war uns abhanden gekommen und wir schwiegen betreten; kaum ein Wort des Abschieds oder des Protestes. Später, als uns das schon öfters passiert war, getraute sich einer von unseren Älteren etwas zu den Erziehern zu sagen, aber es war nutzlos. Er wurde nur angeschnauzt. Dass sie mit uns zwei Stunden Fußballspielen durften, war eine Vergünstigung für die Braven und konnte jederzeit wieder rückgängig gemacht werden und tatsächlich, einer ihrer besten kam später nicht mehr raus. Bei uns brodelten die Phantasien.
Untereinander sprachen wir darüber, waren immer froh, dass uns dieses Schicksal erspart geblieben war und erfreuten uns unserer Eltern, die waren zwar allesamt nicht sonderlich reich, aber der beständige berufliche und ökonomische Aufstieg war unverkennbar, denn wir wuchsen alle ziemlich wohlbehütet und umsorgt, gutbürgerlich auf. Damals wußten wir, dass es da im Heim nicht nur zu Dachteln kam und dass die Jungs ein schweres Leben hatten und wohl einen Rückstand in ihrem Leben aufgebrummt bekommen hatten, denn sie wohl nie mehr aufholen konnten. Über die Folgen von seelischen Verletzungen hatten wir damals noch keine Ahnung.
Aber wie so vieles gerieten die Ereignisse in Vergessenheit und bald war der Fußballplatz verschwunden, heute steht ein Parkhaus dort. Wir wurden erwachsen, haben uns in alle Winde verstreut; und dass Heim wurde auch bald geschlossen. Jahre später habe ich das Haus einmal beruflich betreten und der Geruch, der mir entgegenschlug, erinnerte mich sofort an Schule und Heim; die Erinnerungen an die Pestalozzikinder wurden wieder wach. Über Vorkommnisse, wie im Wiener Wilhelminenberg, die möglicherweise auch im Pestalozziheim stattfanden, hab´ ich bis heute nichts gehört, aber wundern würde ich mich nicht, wenn ähnliches auch dort passiert wäre. Es stimmt nämlich, es hatte System.