Ursula* legt Fotos von Andrej und den anderen spielenden Kindern und der Pension, in der sie heute war, auf den Tisch. Es ist ein heißer Frühsommertag und die späte Nachmittagsonne ist gerade hinter dem gegenüberliegenden Hausdach verschwunden, auf dem wieder einmal eine Krähe sitz. Ich glaube, es ist immer die gleiche, die uns beim Arbeiten zu sieht, ganz so als würde sie sich dafür interessieren, was wir tun.
Ursula hat die Fotos nicht ohne Hintergedanken auf den Tisch gelegt. Sie will mir etwas sagen. Es ist ihre Art, das Erlebte zu verarbeiten und es mir zu erzählen. Andrej ist sieben Jahre alt und ein lieber Junge. Ich kenne ihn nur von Bildern, die Ursula und Peter während der Spielgruppen geschossen haben. Die Fotos sind nicht besonders gut, manche unscharf, schlecht gewählte Bildausschnitte, falsche Farben, die auf die billige Kamera zurück zuführen sind. Aber man sieht zumindest, was bei so einer Spielgruppe passiert. Was man auch sieht ist, dass Andrej ein hübsches Gesicht hat und dass er trotz seiner jungen Jahre schon einiges miterlebt haben muss, denn seine strahlend blauen Augen haben immer einen melancholischen, leicht zurückgezogenen Ausdruck. So als müsse er sein Innerstes von der Außenwelt fernhalten, es verstecken, damit ihm niemand weh tun könne. Aber wahrscheinlich sieht das ein Unbeteiligter gar nicht wirklich, sondern nur ich, weil ich die Geschichte seiner Flucht mit seinen Eltern weiß und all das hineininterpretiere und glaube, das müsse sich in seinen Augen widerspiegeln.
Andrej ist auf den Fotos immer gleich angezogen, obwohl es verschiedene Termine sind und oft Wochen dazwischen liegen. Er trägt ein cooles – wie er sagt – grün-blau gemustertes T-Shirt mit rundem Kragen an. Seine Mutter verriet Ursula vor kurzem, dass er es nur für die Spielgruppe anzieht, nur für Peter und Ursula. Sobald die Spielgruppe aus ist, zieht er es aus und legt es wieder in seinen Kasten zurück. Bis jetzt wollte er nicht, dass das T-Shirt gewaschen wird. Andrejs Mama schaute dabei traurig, sagt Ursula, denn das sei das einzig neue und schöne T-Shirt, das Andrej besitzt. Alle anderen sind ausgewaschen, fleckig und ihm zu klein geworden; weil „sie wachsen ja rasant in diesem Alter“. Die paar Kleidungsstücke, die sie aus Tschetschenien mit nehmen konnten, sind längst zu Putzfetzen mutiert oder in die Mülltonne gewandert. Jetzt versorgt sich die Familie mit den Caritas Kleidungsstücken, wenn sie hin und wieder mal was aussuchen dürfen.
Außerdem hat er eine Baseball Kappe auf, auch immer die gleiche. Die hat er von Peter bekommen, der sie bei einem seiner ersten Besuche mitgebracht hatte. Sie ist schwarz mit weißen Rändern. Vorne über dem Schirm prangte ein Schriftzug, der eine Ähnlichkeit mit dem Logo der New York Yankees – der Baseballmannschaft – hatte, es aber nicht war.
Ursula ist Psychotherapeutin und arbeitet seit mehreren Jahren mit mir gemeinsam in einer NGO – wie es im Fachjargon heißt – eine Non Governmental Organisation, eine Nichtregierungsorganisation. Unser Betätigungsfeld ist das Flüchtlings- und Migrationsthema. Wir bieten dabei Beratung und therapeutische Angebote für Flüchtlinge und Folteropfer an. Ursulas Arbeit ist ein ganz spezielle, da sie als Therapeutin mit Flüchtlingen und Asylwerbern arbeitet, die Opfer von politischer Gewalt geworden sind; also Menschen die schweren Verfolgungen in ihren Heimatländern ausgesetzt waren. Meist kommen ihre KlientInnen zu uns in die Therapieeinrichtung, aber wenn es die Finanzierung ermöglicht oder wieder ein Projekt finanziert wird, tut sie ihre therapeutische Arbeit auch in aufsuchender Weise. Das war gerade wieder einmal der Fall. Für ein Jahr war ein Projekt finanziert worden.
So fährt Ursula dort hin, wo die meisten der Asylwerbenden untergebracht sind, in entlegenen Gasthöfen, Pensionen und Flüchtlingsunterkünften, die verstreut übers ganze Land liegen. Sie käme, sagt sie immer, dadurch in Gegenden, in denen sie sonst nie kommen würde und lerne das Land und die Leute in den jeweiligen Ecken auf eine ganz andere, spezielle Weise kennen. Das ist die positive Betrachtung und Ursula ist im Großen und Ganzen und meistens ein sehr positiver und optimistischer Mensch. Wenn ich so etwas sage, meinen viele, dass das ja gar nicht anders ginge, bei so einer Arbeit, in der man so viel Leid hautnah erlebt. Da müsse man ja positiv dem Leben gegenüber eingestellt sein.
Ursula tingelt gemeinsam mit dem Peter, der ist gerade Zivildiener bei uns, durch die Pensionen und Gasthöfe und lernt so die Situation vor Ort kennen. Die grundsätzlich deprimierende Unterbringungssituation kann man nicht ändern, nur verbessern. Ursula macht Spielgruppen mit den Kindern, die oft mit Posttraumatischen Belastungsstörungen kämpfen. Der spielerische, kreative Umgang mit diesen Belastungen ist für Kinder die beste Methode.
Ursula ist noch immer erhitzt und aufgeregt, nicht wegen des warmen Tages und der anstrengenden Fahrt, ohne Klimaanlage im Auto, sondern von dem, was sich zugetragen hat.
„An Peter hat er einen Narren gefressen. Wenn Peter aus dem Auto steigt, dann sieht man richtig, wie Andrej zu strahlen beginnt. Er sitzt ja immer schon auf der Bank und wartet auf uns, insbesondere auf Peter. Dann ist er lebendig, fröhlich und weicht ihm die nächsten zwei Stunden nicht mehr von der Seite.“
Peter steht in der Büroküche und bereitet Kaffee zu. Ich bin froh, dass er das tut. Sie sitzt an unserem kleinen Besprechungstisch und starrt die Bilder an. Sie sieht auf und spricht leise mit dem Bild, das vor ihr liegt. „Sonst ist er ja eher mehr ruhig. Meist malt er in irgendeiner Ecke still vor sich hin. An Spielen beteiligt er sich nie.“
„Jetzt erzähl“, beginn ich schon zum zweiten Mal, in der Hoffnung das Gespräch möglichst zielgeleitet und effizient abwickeln zu können. Denn in meinem Hinterkopf rumort der eigentliche Grund für meine Rückkehr ins Büro; Arbeit, die sicher noch zwei Stunden in Anspruch nehmen wird und ich will nicht bis tief in die Nacht meine Zeit im Büro verbringen. Also rekapituliere ich, was ich bisher weiß. Andrej und seine Eltern wohnen seit 17 Monaten in dieser Pension, die 25 km nördlich der Stadt liegt. Seit ihrer Ankunft in Österreich wartet die Familie auf ihren alles entscheidenden Bescheid – ob sie als Flüchtlinge in Österreich bleiben dürfen oder nicht. An das „oder nicht“ wagt niemand zu denken, denn das hieße, dass sie aus Österreich weg müssten, dass sie abgeschoben werden, zurück in ihr Heimatland?
Eine Zeit lang war das ganz in Ordnung – das Warten. Da draußen in der Einöde, in der Natur – der Wald nicht weit weg – war es ruhig. Sie hatten alles, was sie zum Überleben brauchten, konnten sich erholen. Aber nach ein paar Wochen wird das Nichtstun bedrückend und das Warten lässt die Gedanken kreisen und macht die Leute verrückt. Die beiden Eltern sind mit sich selbst sehr beschäftigt und die Erlebnisse, die in ihnen ihren grausigen Nachhall produzieren, lassen sie nicht los. Im Gegenteil, je länger sie warten, desto zermürbender wird es. Vater leidet unter Schlafstörungen, Alpträume plagen ihn regelmäßig und er getraut sich nicht mehr einzuschlafen, betäubt sich mit Alkohol. Unter Tags will er arbeiten, darf aber nicht, läuft im Kreis und wird noch verrückter. Manchmal bleibt er einfach liegen und starrt die Wände an, an manchen Tagen beginnt er vormittags zu trinken und wird im Laufe des Tages immer aggressiver und verzweifelter, bis er verschwindet – wohin weiß keiner. Soviel weiß ich von der Familie. Und dass sie aus Tschetschenien flüchten mussten und dass die Kinder –Andrej hatte ein kleineres Geschwisterchen, Bub oder Mädchen weiß ich jetzt nicht – und die Mutter ziemlich schlimme Sachen mit ansehen mussten und dass der Mann inhaftiert wurde und gefoltert worden war. Alle Anzeichen deuten daraufhin, aber reden darüber konnte er bisher nicht, noch nicht, wie Ursula immer Hoffnung verbreitet.
In diesem trostlosen Alltagstrott ist das Angebot, das Ursula und Peter machen, zwei Stunden mit den Kindern etwas kreatives unternehmen, zeichnen, spielen, etwas Sport betreiben, eine Abwechslung. Die Kinder werden angeregt, sind beschäftigt, müssen sich anstrengen und verarbeiten, ohne dass sie es wissen, nach und nach die belastenden Situationen, die sie bedrücken.
„Sei lieb, hol das Foto aus dem Drucker, das Peter heute gemacht hat!“ Ursula reißt mich aus meinen Gedanken. Ich gehe zum Drucker und sehe mir das Foto an.
Andrej schaut darauf ruhig und konzentriert auf einen Apfel, den er in beiden Händen hält. Er hat ihn von Peter bekommen. Er bringt immer etwas für die Kinder mit; Kleinigkeiten, die sie sonst nicht bekommen. Am Speiseplan der Flüchtlingspension steht selten Obst, nur wenn Kontrolle kommt; der Herr Schmied von der Behörde, die die Unterbringungen kontrollieren soll. Der ist aber immer angekündigt, sagen die Bewohner und wissen: „Dann gibt es frisches Brot und Gemüse und Obst und zu Mittag Wiener Schnitzel“. Obwohl Wiener Schnitzel von den BewohnerInnen fast niemand mag, ist es ja Schweinefleisch. Aber der Herr Schmied mag es so gern.
So steht Andrej da, die Baseballkappe schräg aufgesetzt, sein Lieblings – T-Shirt an und knabbert ganz langsam und zart an seinem Apfel. Nur mit den vorderen Schneidezähnen gräbt er sich durch das süßlich-saure Fruchtfleisch. Ich bin wieder im Raum und strecke Ursula das Foto hin. Sie blickt darauf und beginnt zu reden. Sie ist für mich so ungewöhnlich ruhig, das beunruhigt mich ein wenig.
„Wir waren heute wieder oben. Eigentlich alles normal, es war sogar ziemlich lustig, weil wir ein neues Spiel gespielt haben, das den Kids voll getaugt hat. Andrej saß wieder auf der Bank und wartete. Als wir kamen, Peter ausstieg, war er schon losgerannt und auf ihn losgesprungen. Am Ende unserer Einheit hab ich noch ein wenig mit der Mutter gesprochen, sie war heute ein bisserl besser drauf. Sie sagte, dass es dem Andrej besser geht, aber ihr Mann, der macht ihr immer mehr Sorgen und ob wir nicht endlich was beim Asyl machen können.“
„Tja das Asyl“. was soll ich auch sagen, wir können es nicht beeinflussen, unser möglichstes haben wir getan. Der Familie ihre Antrag durchgearbeitet, Ergänzungen eingebracht, bei den Einvernahmen dabei gewesen, zusätzliche Recherchen angestellt, mit der Behörde in Kontakt geblieben, die Berufung auf den negativen Bescheid in der ersten Instanz geschrieben – aber mehr geht nicht, mehr können wir nicht. Entscheiden tut die Behörde und das dauert oft Jahre.
„Ja, das macht die Leute echt noch verrückter, als sie eh schon sind. Wer hat sich das System einfallen lassen, das frag ich mich immer wieder und dann gehen sie her und sagen noch, dass es denen eh so gut bei uns geht, haben alles, kriegen alles.“ Ursula ist dort angekommen, wo wir alle immer ankommen, wenn wir darüber länger reden. Aber sie holt sich gleich zurück und bleibt am Boden und ich steige auch nicht in diesen – unseren Loop – ein, der uns alle gemeinsam gefangen halten kann, wenn wir wollen.
„Was ist denn danach passiert?“
„Zwanzig Minuten oder so, nach dem wir das Foto gemacht haben“, und sie zeigt auf das Foto, das ich gerade aus dem Druck geholte hatte, „brach im Haus das Chaos aus. Eine Hundertschaft von Polizisten, Beamte der Fremdenpolizei, des Landesflüchtlingsbüros und exklusive Vertreter der Medien stürmten das Haus.“
„Eine Razzia?“
„Eine Razzia! Ein Großeinsatz, sogar eine Hundestaffel war dabei und Drogenspezialisten. Alles was in der Polizei so Rang und Namen hatte.“
„Das gibt’s nicht?“
„Doch, es waren Mitglieder eines Sonderkommandos, du kennst das ja von den Fußballspielen; die mit Helmen, Bein-, Arm- und Brustschützer sowie Plexiglasschildern.
Ich schüttle den Kopf. Ich kann nicht glauben, was ich da höre.
„Das ist doch nur eine Flüchtlingspension.“
„Tja für die offensichtlich nicht, gefährlich genug, um die Hundestaffel rund ums Haus zu postieren, damit ja keiner auf die Idee kommt, zu flüchten.
„Sind die völlig durchgeknallt, das Haus derartig anzugreifen, das sind nur einfache Heimbewohner und Familien mit Kindern.“
„War alles generalstabsmäßig durchgeplant. Die Bullen durchkämmten mit den Fremdenpolizisten das Gebäude, alle Ausgänge waren bewacht. Ein Hundeführer ging mit seiner aggressiven Töle durchs Haus; Stockwerk für Stockwerk, Zimmer für Zimmer.“
„Wer hat das veranlasst?“
„Der Herr Schmied natürlich, ist ja mit seiner besch…eidenen Assistentin dort gestanden wie ein General, hat sich fröhlich mit den Journalisten unterhalten, gescherzt und geplaudert. Die Betreiberin ist auch daneben gestanden und hat mit ihnen geschäkert und von Zeit zu Zeit Berichte entgegen genommen.“
„Journalisten?“
„Ja Journalisten waren auch dabei, einer von der ´Super Zeitung` und einer von der ´Noch besseren Zeitung`, schön proporzmäßig, auch gut geplant.“
Ich kochte vor Wut. Dass es so arg ist, hab´ ich mir nicht gedacht, am liebsten wäre ich jetzt zum Telefon gestürzt und hätte den Herrn Schmied beschimpft und ihn einen Faschisten genannt oder noch was schlimmeres. Unglaublich diese Methoden. Aber Ursula spricht ruhig weiter, sie hat sich bereits gut im Griff, anderes Stadium – Vorteil!
„Die Mutter von Andrej hat uns angerufen übers Handy, als es los ging. Ich hab sie gar nicht richtig verstanden, weil sie so aufgeregt war und ihr Deutsch versagte und man hörte hinten Menschen brüllen und Kinder schreien. Aber es war klar, dass da was Schlimmes passiert war. Also drehten wir um und fuhren zurück, aber das dauerte natürlich. Als wir ankamen, war die Aktion praktisch schon vorbei und die Polizeieinheiten rückten gerade ab. Die Journaille und der Schmied standen noch rum. Ein Rettungswagen stand mit rotierenden blauen Lichtern und offenen Türen und brachten nach einer Minute ein Kind auf einer Bahre und einem großen Verband um den Kopf raus.“
Sie macht es spannend, obwohl ich schon weiß, was sie sagen wird.
„Es war Andrej.“ Ursula schaut mich jetzt an und wirkt traurig. Sie hat das Bild vor ihrem inneren Auge gesehen und fühlt die Hilflosigkeit angesichts der Umstände.
„Ich wollte mich auf Schmied zu stürzen, glaub´ mir, ich wollte es wirklich. Ich hätte ihm einen Kinnhaken verpasst, wenn mich nicht Peter zurückgehalten hätte.“
„Danke Peter“, rufe ich in die Küche. Von weit her kommt ein „Gern geschehen.“ Ich vermute aber, dass er wohl glaubt, dass er den Dank wegen des Kaffees bekommt.
„Das hätte wohl erst eine super Schlagzeile bedeutet.“ Ich überlege kurz und formuliere Schlagzeilen. „Aggressive Flüchtlingshelferin attackiert Beamte, Randalierende Therapeutin verletzt Flüchtlingsbürochef.“
„Ja, wär´ nicht schlecht gekommen.“ lächelt Ursula kurz. „Aber hätte es echt verdient und vielleicht wäre es endlich mal die richtige Antwort auf alles, was die so den Leuten antun, gewesen.“ Wir beide schweigen uns an. Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich mir vorstelle, wie der große, dicke und saturierte Herr Schmied von der drahtigen und wendigen Ursula einfach eine geknallt bekommt und vor lauter Schreck sich auf seinen fetten Hintern setzt. Tagelang hätte man die Finger auf der Wange sehen können.
„Danach tröstete ich Sabra. Peter ging noch zum weinenden Andrej, beruhigte ihn und hielt ihn fest. Dann schickten wir sie rauf, ein paar Sachen holen und packten sie ins Auto und fuhren der Rettung hinterher. Sabra erzählte uns, dass es furchtbar war. Es erinnerte sie an die Überfälle in Groszny. Sie meinte, das war durchorganisiert und genau geplant, ging alles ganz schnell und präzise. Es schüttelte sie allein schon von den Befehlen der monströsen Polizisten, die durch die Gänge hallten. Alle versuchten ihre Kindern und Männer zu finden; ein wildes Gerenne und Geschreie. Männer schrieen nach den Kindern, Mütter weinten, Kinder brüllten nach den Eltern. Auf den Gängen fand ein aufgeregtes hin und her Gerenne statt. Dann mussten sie in den Zimmern auf ihre Kontrolle warten.“
Ursula erzählt konzentriert, ohne Unterbrechung.
„Jeder im Haus musste sich ausweisen. Wer seine Papiere nicht bei sich trug, wurde in den Speisesaal im Parterre gebracht und dort von einem Hund und seinem „Herrl“ bewacht. Jedes Zimmer wurde inspiziert, manche durchsucht. Die zivilen Beamten hatten die dazu gehörenden Namenslisten. Die Leute wurden aufgerufen, notiert, perlustriert.
„Man muss sich das vorstellen“, Ursula bekommt wieder roten Wangen und feuchte Augen, die Empörung und Wut kehrt zurück. „Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen, erleben so was in Österreich. Das kennen sie aus ihren Heimatländern, vor dem sind sie geflüchtet. Und weißt du, was das schlimmste war?“ fragt sie mich. Natürlich weiß ich es nicht. Aber es ist auch keine Frage, auf die sie sich eine Antwort erwartet. Sie nimmt einen Schluck vom Kaffee.
„Ausgegangen ist das ganze vom Schmied, dem Leiter des Landesflüchtlingsbüros. Er – der Schmied und die Janitschek – haben das initiiert und waren zufrieden. So locker, als wär´ man auf Besuch gekommen.“
„Und was ist mit Andrej?“
„Er ist von einem Polizisten am Gang einfach umgerannt worden, dabei ist er mit dem Kopf gegen einen Heizkörper. Hat sich eine Platzwunde zugezogen und eine Gehirnerschütterung erlitten.“ Peter steht in der Tür und berichtet ganz ruhig, mit seiner großen, schmalen Gestalt lehnt er am Türrahmen und schaut in sein Kaffeehäferl, als er spricht.
„Kannst dir vorstellen, wie es den Eltern jetzt geht? ergänzt Ursula. Nein, wer kann das? denke ich mir, schüttle aber nur den Kopf.
„Was ist mit dem Vater?“ frag´ ich.
„Der ist glücklicherweise grad heimgekommen, war glaub´ ich ziemlich angetrunken. Als die Polizei reingestürmt ist, hat er sich aber – soweit – ganz gut verhalten, ist nicht in Panik geraten und hat Andrej gesucht. Ihn blutend am Boden gefunden, ist mit ihm ins Zimmer gerannt und hat ihn erstversorgt.“
„Okay. Ist er dann mit ins Spital?“
„Nein, er ist völlig apathisch im Zimmer gesessen und hat nichts mehr gesagt und auf nichts reagiert.“
„Die Razzia ging indes unvermindert weiter. Die haben sich um den Buben überhaupt nicht gekümmert und erst die Betreiberin ist dann ins Zimmer gekommen und sich den Buben angeschaut und die Rettung gerufen.“
„Sabra konnte im Spital bleiben und wir sind dann nach etwa zwei Stunden gefahren, als klar war, dass jetzt alles passt und sie die sich im Spital eh alle gut kümmern.“
„Gut, gut, geht ihr ihn morgen besuchen? Bleibt Sabra, bis er rauskommt? Dann muss man die Betreiber informieren, sonst werden sie noch abgemeldet, denen trau ich ja mittlerweile alles zu.
„Hast recht, aber schau ma mal, was morgen ist. Wenn sie bleiben will, dann werden wir mit der Betreiberin reden.“
Meine ursprüngliche Arbeit, warum ich eigentlich her gekommen bin, verschiebt sich noch um weitere zwei Stunden, denn in den Onlinediensten lese ich Artikel über die Nachmittagsaktion. Kein Wort von dem unverhältnismäßigen Einsatz, kein Wort von der Verletzung eines kleinen Jungen, kein Wort über den „Erfolg“ der Aktion, denn der ist äußerst bescheiden. Laut offizieller Meldung der Polizei, die aber in den beiden Medien, die dabei waren nicht erwähnt worden sind, musste sie eingestehen, dass das Ergebnis der Großrazzia eine im Aschenbecher gefundene Haschischzigarette war und zwei Männer, die wegen Vergehen gegen das Meldegesetz angezeigt wurden. Ich schreib´ bis in die Nacht an offiziellen Protestnoten und Presseaussendungen, die wahrscheinlich in die Artikel für die Morgenausgabe keinen Eingang finden werden. Aber ich muss es tun.
- Alle Namen wurden verändert.