Die Fahrscheine bitte!

Franz steht vor dem Vorverkaufsschalter der GVB – die jetzt ja Graz Linien heissen – so als wäre damit irgend etwas besser geworden – und kramt in seinem Portemonnaie nach Münzen, um einen Fahrschein zu kaufen. Das fällt ihm schwer, weil er nicht mehr so gut sieht und seine großen, breiten, knotigen Finger die kleinen Münzen nicht so leicht finden. Als der Fahrschein im Auswurf landet, hat sich schon eine kleine Schlange von drei Menschen hinter ihm gebildet. So etwas ist Franz nicht gewöhnt und er wird nervös. Fahrig greift er den Fahrschein, steckt ihn in sein Geldbörsel.

Er wartet auf die Straßenbahn. Beide Knie schmerzen. Er ist heute schon weit gewandert – zu weit: Von der Wohnung seiner Tochter weg, die direkt am Fluss liegt, zum Hauptplatz; hinauf auf den Schlossberg, zum Uhrturm, weiter bergan zu den Kasematten, wieder hinunter mit der Standseilbahn. Nebenbei hat er das Kunsthaus besichtigt, ist über den Mariahilferplatz in die Annenstrasse und schließlich am Hauptbahnhof gelandet. Er weiß es selbst, er hätte den Weg zum Bahnhof nicht mehr machen sollen, aber er ist mit einer Frau mit Kinderwagen so nett ins Gespräch gekommen, ist ein Stück mit ihr mitgewandert und hat ihr dann beim Einsteigen in die Straßenbahn geholfen. Franz lernt immer Menschen kennen, gleich wo er hinkommt, mit denen er ins Gespräch kommt.

Franz ist gerne in Graz. Jedes Mal wenn er da ist, schwärmt er von der Stadt. Wien mag er auch und mit 76 Jahren ist er sogar nach New York gefahren, seinen Sohn besuchen. Da ging er dann ganz Manhattan ab. Später, bei Kaffee und Kuchen wird er dann erzählen, dass er „so nette“ Menschen kennen gelernt hat. Früher war er ein richtiger Bergfex. Ein Bergsteiger, einer der seine karg bemessene freie Zeit in den Bergen verbracht und Klettertouren unternommen hat. Kein Wunder, dass es ihn hinaus und hinauf drängte, hat er doch jahrelang in einem Magnesitbergwerk unter Tag gearbeitet, daneben ein Haus gebaut und drei Kinder ernährt.

Er weiß es eh selbst. Das ist vielleicht sein einziges großes Manko. Er will seine körperlichen Grenzen nicht wahrhaben und überschätzt sich gerne und jetzt schmerzen eben die Knie, aber es ist ein angenehmer Frühlingstag in Graz. Durch die Strassen weht eine kühle Brise, die das eine oder andere Blatt Papier vor sich hertreibt. Der Morgenstress in den Strassen ist abgeebbt, ältere Menschen, junge Mütter mit Kinderwägen geben der Stadt das Vormittagsgesicht. Die Mittagszeit – in der alle aus den Büros und Geschäften strömen und zum Essen hetzen – ist gerade noch nicht angebrochen.

Der Wind zerzaust sein schlohweißes aber noch dichtes Haar. Seine an der Stirn keck geschwungene Tolle steht steil auf. Würde jemand da sitzen und ihn beobachten, was wir nicht wissen, ob das geschieht, würde man einen schwer gehenden und gebeugten, alten Mann sehen. Von seiner früheren ländlichen Breitschultrigkeit und kompakten Größe ist nur mehr wenig übrig geblieben. Das ärgert ihn. Er will nicht wahrhaben, dass aus ihm ein „oltes Mandel“ geworden ist. Aufgewachsen ist er in Oberkärnten, im Liesertal, in einfachsten bäuerlichen Verhältnissen. Sein Vater war ein armer „Keuschler“ und ist früh gestorben. Als Ältester von sieben Geschwistern musste er den jüngeren den Vater ersetzen, als Halbwüchsiger war er schon Senner, allein auf der Alm.

Als die Straßenbahn vor ihm zu stehen kommt, klettert er schwerfällig hinein und findet gleich neben dem Eingang einen Sitzplatz. Mit einem Stock täte er sich leichter, aber den lehnt er noch kategorisch ab, weil „das ist was für alte Männer“. Franz sitzt zufrieden mit sich und der Welt am Fenster und erfreut sich an der Großstadt. Für ihn ist Graz eine Großstadt.

Dann kam der Krieg und Franz musste mit, obwohl er als tiefkatholischer Bauernbub von Hilter nichts hielt. Als Funker trieb es ihn in die Weiten des Ostens, bis auf die Krim und bis zum Fuße des Kaukasus. Nach Stalingrad ging es zurück, die berühmte Wende. Schon fast zu Hause, wenige Kilometer vor der österreichischen Grenze gerieten die Reste seiner Einheit in russische Gefangenschaft und es ging wieder zurück in den Osten, auf die Krim. Franz kam erst 1948 zurück, von Typhus und der Kriegsgefangenschaft gezeichnet. Überlebt hat er das alles wohl nur, weil er Funker war und schnell russisch gelernt hatte und ein kommunikativer, respektvoller und sozialer Mensch in dem Wahnsinn um ihn herum geblieben ist.

Ein lautes „Die Fahrscheiiinee bitte“ reißt ihn aus seinem „Fensterschauen“. Er wendet den Blick zu einem unauffälligen Mann um die 40 Jahre, der in zivil neben ihm steht und ihm eine Marke vor´s Gesicht hält. Franz – mit einem freundlichen „Grüß Gott“ auf den Lippen – beginnt nach seinem Fahrschein zu suchen. Er kramt in seiner Brieftasche, findet den Fahrschein und übergibt ihn dem Kontrolleur. Ein Blick reicht. „Tja mein lieber Herr“ hört Franz den Kontrolleur sagen, „des ist ja schen und guat, aber der ist jo net ogestempelt“. Franz steigt die Hitze empor, er hört sein Herz laut pochen und sich sagen: „Abstempeln?“ und stammeln: „…hab den Fahrschein ja gekauft… äh, hab´ geglaubt … ich nichts mehr tun…, dass reicht schon,… Herr Kontrolleur bitte, …aus Gmünd und nicht gewusst… von entwerten, nein… er …alles richtig gemacht.“ Franz bringt einfach keinen ganzen Satz heraus, so aufgeregt ist er, sieht dem Kontrolleur in die Augen, der ihm bisher ruhig zugehört hat und wartet auf das Urteil. Nach einem Moment löst sich der Mann vom Blickkontakt und geht zu seinem Kollegen, der etwas weiter vorne eingestiegen ist und Uniform trägt. Welch eine Schande denkt sich Franz, schweigt und senkt den Kopf. Er vermeint, die Blicke der anderen, nur wenigen Fahrgäste zu spüren. Er werde jetzt bestimmt die Polizei kommen und ihn abführen.

Sie tuscheln, der andere Kollege nickt und der Mann in Zivil geht zum orangen Automaten, der nicht zu übersehen auf einer Stange gegenüber dem Einstieg hängt, führt das Ticket ein und entwertet es.

„So der Herr, amoi lossen wir des no durchgehn. Aber vergessens net, in Graz müssen sie die Fohrkoatn immer auch abstempeln, damit sie gültig ist.“ Damit gibt er ihm den Fahrschein zurück, lächelt ihn kurz an und fährt mit seiner Arbeit fort, die anderen Fahrgäste zu kontrollieren. Franz sollte später zu seiner Tochter sagen, dass er einen so netten Kontrolleur kennen gelernt und der ihn für seine Dummheiten nicht bestraft hat. Aber mit einem schelmischen Blick gibt Franz zu, dass er dem Kontrolleur auch ein bisschen was vorgespielt hat und so getan hätte, als ob er von nichts wüsste und er das erste Mal in Graz sei. Der Kuchen schmeckte ihm besonders gut.