Verschwundene Orte 4: Babenbergerstraße

Marienplatz, Babenbergerstraße 34-36

Tante Anna war eigentlich gar keine richtige Tante sondern die angeheiratete Frau vom Großonkel Rudi. Sie war von ihrer Physiognomie ganz anderes als die Abkömmlinge des Gulis Clans. Groß, hager, resolut, laut. Sie erscheint mir, wenn ich an sie denke, immer rauchend, mit einem Staubmantel angetan, die große knollige Nase hervortretend. Sie trägt ein Kopftuch und an ihrem Unterarm baumelt lässig ein Schirm. Für all die Jahre, die ich Tante Anna kannte, konnte das natürlich nicht stimmen, denn ich sah sie ja nicht nur im Regen, im Herbst oder im Frühling, sondern wir waren auch gemeinsam auf Ausflügen, fuhren gemeinsam zum Baden oder waren auf der Alm unterwegs.

„Marienplatz“

Die Gegend in der der Marienplatz lag, war mir wenig vertraut. Sie war auch nicht sehr einladend. Das langgestreckte Bürogebäude der Arbeitsmarktverwaltung (AMV), wie das Arbeitsmarktservice damals noch hieß,  gab es schon. Gegenüber der AMV standen einige alte Häuser, die nach den Kriegsschäden, da diese rund um den Bahnhof besonders schlimm ausgefallen, wieder renoviert worden waren. Es folgte ein Bretterzaun. Gleich zu Beginn dieser Zaunreihe gab es ein windschiefes, knarzendes und knarrendes Holztor. Durchschritt man es, tat sich eine, für das ansonsten dicht besiedelte Viertel, ungewöhnlich weiträumig abfallende Wiese auf, die in der Senke in den Fußballplatz auslief. Am nördlichen Rand standen einige hohe Bäume. Ein gemauerter Weg mit Stufen führte hinunter. Rechts dann die Fußballumkleidekabinen, die Abstellräumlichkeiten für die Maschinen für den Platzwart und die kleine Kantine. Der Weg endete im südlicheren Teil des Platzes, etwa auf der Höhe des 16ers – des Strafraums. Im Hintergrund ragten die Türme der Kloster- und Marienkirche auf. Inmitten der rauschenden Stadt ein kleine Idylle.

Der Platz war sogar für Meisterschaften der unteren Klassen kommissioniert, hatte also einen Platzwart, Tore mit Netzen, war mit Linien versehen und mit Eckfahnen. Groß genug nach den FIFA-Regeln war er auch, um Meisterschaftsspiele zu spielen. Zumindest der FC-Wickenburg – den Verein gibt es schon lange nicht mehr – tat dies dort. Den Rest der Zeit wurde er von Jugendmannschaften und diversen Hobbytruppen genutzt. Solche Plätzen gab es früher einige in Graz; etwa der Körner Platz in der Schönaugasse, dann das Heimstadion des Grazer Sportklubs in der Conrad von Hötzendorfstrasse und in Mariatrost, einige hundert Meter hinter der Kegelbahn Gruber. Außer dem Mariatroster Sportplatz, der jetzt allerdings wo anders liegt, gibt es von all den Plätzen keinen mehr. Genauso wenig wie es viele Grazer Teams noch gibt, die mit der Zeit so ganz nebenbei, still und heimlich verschwanden.

Mein Großonkel Rudi, der von vielen Freunden gar nicht Rudi gerufen wurde, sondern Peter, war ein typischer  Vertreter der Gulis Gattung. Klein, rundlich, stattliche Geheimratsecken. Dick aber nicht fett, von der Sorte klein und kompakt. Die beiden – Anna und Rudi – passten also rein optisch gar nicht zusammen. Sie war um einiges größer als er. Bis zu Tante Annas Tod, einige Jahre bevor Rudi in Pension ging, waren sie trotz aller Unterschiede, die nicht nur ihr Äußeres betrafen, ein Ehepaar. Gemeinsame Kinder hatten sie nie. Übrigens, ein Merkmal der sich durch den Gulis Zweig zieht. Wir vermehren uns nicht so gerne, deswegen wird die Familie auch immer kleiner und stirbt demnächst aus. Die einzige Nachkommin, die Tochter meiner Schwester trägt zwar einen Teil der Gene aber nicht den Namen weiter.

Warum der Onkel Rudi Peter gerufen wurde, hat sich mir nie erschlossen. Ich habe auch versucht nachzufragen, aber es kam dabei nie etwas raus. Komisch ist es aber schon, denn Peter wäre ja nicht so ein viel anderer Name als Rudi, weder ausgefallen oder irgendwie auf einen Spitznamen hin deutend. Vielleicht hatte er zwei Identitäten? Gar nicht abwegig der Gedanke. Es blieb und bleibt für immer ein Rätsel, wenn auch ein kleines, unbedeutendes. In der Fußballerrunde riefen ihn jedenfalls alle Peter.

Was mich mit Tante Anna und Onkel Rudi verband, waren Treffen an so manchen Wochenenden zum Fußballspielen und -schauen. Wenn Sie sich das genauer vorstellen wollen, dann kommt es am ehesten hin, wenn man Happening dazu sagen würde. Die Angehörigen – Freundinnen, Ehefrauen, sonstige Verwandte und Bekannte,  die dazu gehörenden Kinder, sie alle saßen auf den Holzbänken auf der Seite der Plätze, wo auch immer die Mannschaft gerade spielte; manchmal auch im Gastgarten der Kantine – wenn es eine gab – unter einem Schirm und wohnten dem Match bei. Wobei die Redewendung nicht sehr treffend ist, weil ich kann von den meisten nicht wirklich behaupten, dass sie „dem Spiel beiwohnten“. Vielmehr ging es darum, sich zu treffen. Während sich die Männer über den Rasen mühten, saßen die Angehörigen zusammen, tratschten, aßen, wenn es was gab, tranken und schleckten Eis. Die Kinder rauschten ab, tollten auf der angrenzenden Wiesen umher; waren in der Nähe, standen aus den Augenwinkeln unter Beobachtung, störten aber nicht und wurden nicht gestört; es sei denn, es gab Zoff. Wenn das Wetter schön war, war es wie ein Familienausflug. Der Wind rauschte durch die Bäume. Gegen späteren Nachmittag läuteten die Glocken der Marienkirche. Alles perfekt. Fast. Nicht ganz?

Tanta Anna

Nicht einmal kam es vor, dass es an so einem idyllischen Samstag, Aufruhr gab. Irgendetwas war auf dem Spielfeld passiert. Es gab eine Rudelbildung. So fing das an. Das sonst übliche Geschrei auf dem Platz hatte sich verändert. Die unaufmerksame Tante Anna – sie interessierte sich nicht wirklich für Fußball – war plötzlich hellwach, sah auf das Feld, sondierte blitzschnell die Lage, zögerte daraufhin keine Sekunde mehr, sprang auf, schlüpfte unter dem Geländer zum Spielfeld durch und lief auf das Spielfeld dem Rudel entgegen. Den Schirm hatte sie von einem Accessoire zu einer Waffe umgewandelt, mit der sie schwingend auf die streitenden, schupfenden und manchmal auch schlagenden Kicker zulief.

Sie müssen sich das jetzt wie aus einem Asterix Comix vorstellen, wenn Obelix auf die Römer-Phalanx trifft und diese auseinander sprengt. Tante Anne machte keine Gefangenen. Sie hieb und stach auf die Raufenden ein. Regelmäßig war das Tohuwabohu schnell zu Ende. Die einen waren froh, dass Tante Anna dazwischen gegangen war, die anderen – meist die generischen Mannschaftsmitglieder – waren so überrascht über den fremden – noch dazu weiblichen – Wüterich, das alle rasch voneinander abließen. Die am Boden Liegenden rafften sich auf, die Spieler beruhigten sich gegenseitig. Rasch herrschte wieder Spielbereitschaft.

Tante Anna schrie noch mit einigen, straffte schließlich ihre Schultern, wandelte ihre „effektive Waffe“ wieder in ein Accessoire um und stolzierte vom Platz. Ganz einer Lady gleich, die ihren Einkauf abgeschlossen hatte, setzte sie sich auf die Bank, rauchte sich eine an und nahm das Gespräch wieder auf. Sie rauchte im Übrigen immer Falk.

Manchmal kam es vor, dass irgendwo in der Nähe der Sitzbänke ein Foul gegen einen unserer Spieler begangen wurde. Auch da verwandelte sich Tante Anna in eine Furie. Sie sprang auf, klammerte sich an die Eisenrohre, die als Geländer fungierten an und schrie in kreischender, rauchiger, sich überschlagender, aber sehr lauter Stimme, Unflätiges hinein. Vieles davon kann man einfach nicht wiedergeben, aber „heast Deppata! I hau das Kreiz o“ war vergleichsweise milde, was aus ihrem Mund zu hören war. Drohungen, was mit ihm passiere, wenn sich das wiederholte, waren obligatorisch. Das Gemächt – und was sie damit machen würde – des Übeltäters spielte dabei nicht selten eine Rolle. Die große Mehrzahl der Spieler ließen das über sich ergehen, sie legten sich mit Tante Anna nicht an. Sie war eine Respektsperson, gefürchtet und bekannt.

Tante Anna hatte drei Schwestern. Zwei davon waren ausgewandert, eine nach Übersee in die Staaten, die andere nach England. Annas Schwester in den USA kannten wir nur von Fotos und spärlichen Erzählungen. Die Erinnerung und das Wissen über sie blieb bruchstückhaft.

Die zweite ausgewanderte Schwester kannten wir etwas besser. Sie hieß Rose oder Rosa und sie lebte in London. Sie war das etwas kleinere Abbild ihrer Grazer Schwestern, mittelgroß, hager, resolut, laut. Mit einem englischen Einschlag dazu; etwas schriller, weniger rauchig, etwas kitschiger, etwas farbiger, mehr toupiertes, schillernd bläulich schimmerndes Haar. Mit einem lustigen steirischen Dialekt, geprägt von einer britisch-englischen Intonation. Wie bei vielen Auswanderinnen war der Wortschatz nicht mehr so präsent. Nach manchem Wort musste Rosa schon suchen oder sie ersetzte es einfach kurzerhand durch den englischen Begriff. Das war für uns Kinder lustig.

Fast ebenso exotisch-lustig war ihr Lebensgefährte, der bei den Besuchen meist mit kam. Der war, als wir ihn kennenlernten, Arbeiter in einem Kühllager in London, später dann am Flughafen in der Gepäcksortierung beschäftigt. Er hieß Tunde und er war dunkelhäutig. Na, Sie können sich wohl vorstellen was das in den 1970 für eine Überraschung war. Tunde sprach wenig Deutsch, aber verstand sehr viel, sogar Dialektwörter; nicht nur die schlüpfrigen. Rosa behauptete, dass er ein Prinz sei, ein Abkömmling eines Stammeskönigs und aus Nigeria stamme. Mit der Geschichte spielte er auch gern und bediente nahezu jedes Klischee, das einem so dazu einfiel. Tunde konnte mit seiner unkomplizierten und lustigen Art schnell die sprachlichen, sozialen und sonstigen (?) Barrieren abbauen und wurde in die Familie aufgenommen. Was nicht so schwer war, da es sich ja immer nur um einige Treffen und wenige Tage handelte, die sie in Graz verbrachten.

Tunde war das Gegenteil zu Rosa. Sprach sie ununterbrochen, hüpfte auf und ab und konnte keine Minute still sitzen und aß kaum was; so war er der Typ: gemütlicher, phlegmatischer Biertrinker, der alles aß, was man ihm vorsetzte. Stellen sie sich das Bild vor! Tunde, mittelgroß, rundlich und sehr dunkelhäutig saß in einem typischen 1970er Jahre Wohnzimmer auf der Couch, beobachtete das Treiben, aß und trank vor sich hin, während Rosa sich „die Haare machen“ ließ. Die Frauen gingen in die Küche und ins Bad und führten ihre eigenen Gespräche, während die Farbe aufgetragen oder die Wickler eingedreht wurden. Wenn Rosa unter der Trockenhaube saß, war sie noch lauter, als sonst.

Dann saßen die Männer im Wohnzimmer, tranken Bier und hatten Teller mit Snacks und zwischendurch Imbissen vor sich stehen. Die Männer sprachen generell weniger, kommentierten eher das Geschrei aus der Küche und da gab Tunde von Zeit zu Zeit irgendeinen kurzen Kommentar ab. Manchmal auf Deutsch, meist auf Englisch. Die waren meist witzig, manchmal auch schlüpfrig und sexistisch angehaucht, ohne dass es böse gemeint war. Wie das im globalen Patriachat halt so ist. Sofern man ihn verstand. Da ich ein bisschen mehr Englisch konnte als meine Eltern, kapierte ich eher, was er sagte.

Das mit der Abstammung könnte durchaus gestimmt haben. Man weiß ja nie. Auf jeden Fall lebte er schon viele Jahre in England, bevor er Rosa kennenlernte. Rosa kam des Öfteren nach Österreich, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Das fing bei den Zähnen an und ging bis zu aufwändigeren medizinischen Behandlungen und Eingriffen. Wenn Rosa über das englische „Health Care System“ erzählte, wurde uns damals schon bewusst, wie gut wir es in Österreich eigentlich hatten und wie gut unser System war und das betonten alle Erwachsenen ständig. Es machte deutlich, dass das National Health System damals schon kaputt gespart wurde und von neoliberalem Gedankengut zerfressen wurde.

Beide Schwestern hatten eine nicht so robuste Gesundheit, ganz im Gegensatz zu ihrer nach außen gestellten Robustheit. Tante Anna hatte schon einmal einen diagnostizierten Brustkrebs, den sie im ersten Anlauf besiegte, wenn auch zum Preis einer totalen Brustabnahme. Aber der Tumor hatte nur Pause gemacht – wenngleich eine längere. Dafür kam er umso heftiger zurück und führte schließlich auch zu ihrem raschen Tod. Rosa laborierte auch an vielen anderen Krankheiten und sie starb einige Zeit nach Tante Anna, auch weil sie nicht mehr nach Österreich fahren konnte und die Behandlung in London für sie zu teuer kam. Bald nach dem Tod von Rosa verlief sich die Spur zu Tunde. Das letzte, was wir hörten, war, dass er als Nachtwächter arbeitete. Obwohl er eine Pension hatte, reichte diese für den Lebensabend nicht aus. Mit dem Tod von Onkel Rudi riss auch der letzte Faden zu diesem entfernten Teil der Familie.

Onkel Rudi

Die Gulis Fama lautet, der Onkel Rudi sei ein Hallodri gewesen und wäre sicher auf der schiefen Bahn gelandet, wenn nicht die Tante Anna die Zügel in der Hand genommen und gehalten hätte. Evident ist, dass er gerne Karten spielte, nicht „Schwarzer Peter“, wenn Sie wissen, was ich meine, sondern er eine Menge Geld in diversen Hinterzimmern von diversen Kaschemmen im Gries und Lend[1] liegen gelassen hatte. Auch belegt ist, dass er das eine oder andere Mal von Tante Anna aus einem Puff „abgeholt“ – oder ausgelöst – werden musste. Gerüchten zufolge war er gerne im damals noch existierenden und für mich als Kind reichlich abstoßend klingenden „Kleinen Pelz“ zu Gange. 

Sie erzählte das mit großer Offenheit und ohne Scheu, allerdings nur, wenn die Frauen unter sich waren. Ich hörte das immer mit Freuden, weil ich auf der anderen Seite auch bei den Männerrunden schon dabei saß und so auch die andere Seite der Geschichte hörte. Der Vorteil war, dass man als männliches Kind noch nicht als Mann angesehen wurde und ich daher oft daneben saß und alles hörte, was es über die Ehemänner zu berichten gab. Da  war dann der Wettbewerb eröffnet, wer den schlimmeren, schlechteren, dümmeren Mann hatte. So schien es mir damals schon. Aber ich hielt immer dicht. Ich erzählte den Männern, wenn ich bei ihnen saß, nie, was die Frauen über sie sprachen und dachten.

Nach Annas Tod war Onkel Rudi noch einige Jahre mit einer wesentlich jüngeren, dunkelhäutigen Frau aus der Dominikanischen Republik zusammen, die wie er selbst sagte, aus einem Etablissement „heraus geholte hatte“. Allzu lange war ihm das neue Glück jedoch nicht vergönnt. Kaum ein Jahr, nachdem er mit 60 Jahren in Pension gegangen war, verstarb er. Sie – leider weiß ich den Namen nicht mehr – hatte einen Sohn in der Dominikanischen Republik und nachdem sie ein bisserl ein Geld von ihm vermacht bekommen hatte, kehrte sie zurück nach Hause. Auch diese Spur verliert sich damit; nicht ohne, dass sie in der Erzählung der Familie Gulis als Phantom mit schlechtem Leumund zurück blieb. Sie habe es doch nur auf das Geld von Rudi (Peter) abgesehen gehabt und als er starb, hatte sie ihr Ziel erreicht und sei abgehauen. Sonstige Gerüchte? Aber sicher.

„Ich will ja nichts sagen, aber ganz okay war das alles nicht, mit seinem Tod. Er sah doch noch gut aus und fühlte sich fit.“ 

„Was willst du damit sagen, etwa dass …“

„…ach Gott, nein, dafür gibt es ja keinerlei Hinweise. Ich sag´ ja nur, was man so hört.“

In unserer Familie wurde gerne der Halbwahrheiten und Gerüchten gefrönt, Aufklärung und evidenzbasierte Fakten waren keine Handlungsmaxime in der Familie. Heute würde man dazu Fake News sagen.

Tante Anna und Onkel Rudi wohnten in der Kapellenstraße. Ich war einige Male dort zu Besuch. Eine kleine, nette, recht helle Wohnung. Vorraum mit Bad und WC, eine geräumige Küche mit Tisch, Sesseln und Eckbank, in der sich das gesellschaftliche Leben abspielte und ein Schlafzimmer. Das Haus war das vorletzte in einem 2 Stock Häuser Ensemble, direkt an der Kapellenstraße. Das Haus der beiden lag an der Ecke zur Siebenundvierzigerstraße. Ein Haus weiter, brach das Reihenhausensemble abrupt ab. Es fing eine Wiese an und weiter hinten standen recht schäbige Häuser, ja eigentlich Baracken. Alle Erwachsenen, insbesondere Onkel Rudi, warnten mich immer wieder davor, dort ja nie hinzugehen, weil da dunkle Gesellen leben würden, arbeitsscheues Gesindel, Kriminelle und vor allem Zigeuner.

Ich kam nie auf die Idee, bei Besuchen bei Onkel Rudi das Haus zu verlassen, um herumzustreunen. Aber die Aussagen der Erwachsenen und insbesondere von Onkel Rudi, der es ja schließlich wissen musste, blieben tief eingebrannt. Auf die damals brüchige soziale Hierarchie, die zwischen Onkel Rudi und dem angeblich arbeitsscheuen Gesindel auf der Wiese jenseits der Kapellenstraße, wurde ich erst später aufmerksam und war verblüfft, wie abfällig Onkel Rudi über die Leute zu sprechen in der Lage war. Er, der selbst, „das Arbeiten nicht erfunden“ hatte, wie sein älterer Bruder – also mein Opa – einmal nebenbei fallen ließ. In seinen jungen Jahren war er viele Jahre lang mehr arbeitslos, als dass er arbeitete, bis er bei der Arbeiterkammer in Graz seinen Lebensjob fand.

Als ich – dann schon etwas älter – mehr über die familiären und sozialen Zusammenhänge mit kriegte, war Onkel Rudi Betriebsratskassenprüfer der steirischen Arbeiterkammer und – wie sagt man so schön – stabil. Das blieb er auch bis zu seiner Pensionierung.

„Ein Häferl“

Onkel Rudi war seit seiner Jugend Fußballspieler. Er verdingte sich in diversen unterklassigen Ligen, bei Klubs wie Hausmannstätten oder Steirerbus Liebenau. An sich war er ein ganz passabler Stürmer, für Kopfballtore etwas zu klein geraten, aber er hatte einen guten Schluss. Er war wendig und schnell. Sein großes Defizit war, dass er ein sogenanntes „Häferl“ war. Abfällige Bemerkungen, Schimpf oder vermeintlich hartes Einsteigen gegen ihn vertrug er ganz schlecht. Da war er schnell in Rage; cholerisch bis zum Anschlag.

Dann fing er Wortgefechte mit seinen Gegenspielern an. Bei Zweikämpfen und Attacken packte er alle „dreckigen“ Tricks aus, die im Amateurfußball – aber nicht nur dort – gang und gäbe waren: Bei einem Sprungduell auf die Zehen treten, bei einem Getümmel im Strafraum in „die Eier zwicken“ oder mit dem Knie in den Oberschenkel ausschlagen, Nachtreten und vieles mehr, was es da noch so alles gab. Kurzum, er provozierte. Die anderen, die ihn kannten, wussten schon: Oje, das geht nicht lange gut. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange sich der Gegner das gefallen ließ.

Wenn der selbst Maßnahmen zu setzen begann, dann war der nächste Schritt der Eskalation eingeleitet. Rudi bekam regelmäßig einen roten Kopf, die Bewegungen von ihm wurden ruckartig und kantig. Beim nächsten Mal hinblicken lag der Spieler der gegnerischen Mannschaft schon am Boden, hielt sich das Gesicht. Peter oder Onkel Rudi hatte zugeschlagen. Wenn es in den Mannschaften nicht besonnene Mitspieler gab, die die Heißsporne bändigten, konnte das rasch eskalieren. Denn natürlich entstand ein Rudel, die gegnerischen Spieler wollten ihren Sportskameraden rächen. Und Tante Anna war auch nicht immer zugegen. Dann konnte daraus rasch eine Massenschlägerei werden. Mein Vater war ein besonnener, der konnte Onkel Rudi manchmal beruhigen und weg drängen vom Gewühl.

Das war das eine, aber er war nicht nur mit sich selbst beschäftigt, sondern er schwang sich in der Mannschaft auch als Rächer auf. Wenn andere böse gefoult oder unfair behandelt wurden, dann war es genauso um Rudi geschehen. In einer Saison wurde er vier Mal wegen Raufhandel ausgeschlossen. In dieser Saison spielte er nicht oft. Später, als er nicht mehr Vereinsfußball spielte, sondern nur mehr bei der Hobbytruppe „Schramke Santner& Cie“ und schon in seinen 40er war, spielte er Verteidiger, machte den damals sehr modernen und beliebten Libero, frei nach Franz Beckenbauer. Aber auch da endeten nicht wenige „Freundschaftsspiele“ – was für ein Euphemismus – im Raufhandel und Abbruch. Onkel Rudi musste vom Platz oder das Spiel war überhaupt zu Ende, weil die gegnerische Mannschaft abtrat.

Ich sehe heute noch eine Szene vor mir. Es war am besagten Marienplatz. Onkel Rudi stand am eigenen Tor am 16er und plauderte mit dem Tormann „Zepferl“ – ein weitschichtig Verwandter von ihm. Der Schwerpunkt des Spiels lag in der anderen Hälfte des Spielfeldes. Irgendwas war passiert. Es wurde laut, Hannes – unser zweiter „Problembär“ in der Mannschaft – auch ein Häferl und Auszucker, lang am Boden und schrie. Es bildete sich sogleich ein Rudel, es wurde geschupft, geschrien und wild gestikuliert. Aus dem rechten Augenwinkel sah ich Onkel Rudi als kleinen, roten Blitz nach vorne schießen. Er war auf kurze Distanzen noch wieselflink. Angekommen bei der Gruppe konnte niemand so schnell reagieren, um ihn davon abzuhalten, den vermeintlichen Missetäter mit einem Kinnhaken niederzustrecken. Dann ging´s richtig los. Das Spiel konnte man vergessen.

Ob die beiden – Anna und Rudi – den sprintschnellen, raschen Überraschungsangriff in ihrer Freizeit übten, weiß ich nicht. Wahrscheinlich war es einfach nur eine gegenseitige Adaption einer erfolgreichen Angriffssituation. Sie lehrten mich, mit deftigen, derben und gewaltvollen Umgangsformen umzugehen.

Hannes – das zweite Häferl im Verein – der selten ein Spiel absolvierte, das er nicht mit Wort- und Körpergefechten absolvierte, war „privat“ – also wenn er nicht auf dem Platz stand – ein friedlicher und witziger, wenn auch einfach gestrickter Zeitgenosse. Am Platz verwandelte er sich in eine tickende Zeitbombe. Das Problem an Hannes war, dass er sein Verhalten auf dem Platz auch noch für richtig hielt. Er nahm mich nicht einmal auf die Seite und vertraute mir sein Geheimnis an. Er meinte, man müsse weder groß noch stark sein, man müsse nur schnell und der Erste in einer drohenden körperlichen Auseinandersetzung sein. Das war sein Motto. Die Überraschung ausnutzen und gleich zuschlagen.

So könne man auch weitaus stärkere und größere Gegner niederstrecken und siegen. Und so handelte er auch. Wenn er „in Saft ging“, dann flog gleich einmal eine „Watschen“ oder ein Kinnhaken. Übergangslos. Wenn das, den zum Feind gewordenen Gegenspieler, nicht wirklich beeindruckte, weil er etwa schlecht traf oder der andere einfach robuster war, dann war Hannes einer der schnellsten, beim Antritt der Flucht. Darüber konnte er später im Gasthaus stundenlang erzählen und Witze darüber reißen: Ich hab den eine „betoniert“ und der hat sich nur geschüttelt.  Da war mir klar, „ jetzt aber nix wie weg“.

Ich war ein Vertreter der dritten Generation aus dem Gulis-Clan, die bei „Schramke Santner& Cie-Santnter“ spielte. Entstanden war die Hobbytruppe, weil unser Nachbar bei der Firma arbeitete und  auf die Idee kam, dass man eine Hobbytruppe gründen könnte; eine „Wirtshausmannschaft“ – in unserem Fall war es eine „Kracherlzustellfirma-Mannschaft“ für Gasthäuser, Cafés und Bars. Geführt wurde Schramke Santner& Cie damals von zwei Frauen und die waren von der Idee angetan. Sie sponserten die Dressen. Weiße Hosen, grüne Trikots, mit weißen, runden Kragen und mit rundem Logo.

„Spü´ her, schick eam, Schiass, stö di frei“

Die Firma gibt es nicht mehr. Ihren Sitz hatte sie in der Leonhardstraße –zwischen Beethovenstraße und Merangasse, auf der rechten Seite stadtauswärts. Es war eine ziemlich enge Einfahrt, in der die LKWs rein und raus manövrieren mussten. Rudi oder Peter, mein Großonkel, war von Anfang an dabei, die erste Generation.  Ebenso dabei waren mein Vater und Onkel Andi, die zweite Generation. Mein Cousin und ich stiegen später ein, wir waren die dritte. Als wir groß genug waren, um körperlich mitzuhalten, durften wir dann auch. Aber ich war als Bub immer schon dabei, auch wenn ich nicht mitspielen durfte; oft auch meine Mutter. Denn wie schon gesagt, es war eine Freizeitbeschäftigung für die Familie. Nach dem Kick gingen viele noch gemeinsam in ein Lokal.

Damals gab es viele solcher Hobbytruppen, die in Freundschaftsspielen aufeinander trafen. Auch eine rege Turnierszene existierte in der Steiermark, sowohl am Feld als auch in der Halle. Man konnte als Hobbytruppe nahezu jedes Wochenende spielen, im Winter in der Halle. Es war zwar Hobby, aber der Fußball, der da zeitweise gespielt wurde, wenn gespielt wurde, war gar nicht so schlecht. Bei „Schramke Santner& Cie & Santner“ spielten auch einige Kickern, die bei Vereinen in höheren Ligen aktiv waren. Das ging über die Landesliga bis zu Nachwuchsspielern des ESK (Eggenberger Sportklub, damals Landesliga) und bis zu Sturm und GAK. Ich kann behaupten, dass ich mit dem Bundesligaspieler Mario Zuenelli vom GAK zusammen in einer Mannschaft gespielt habe. Damals war er allerdings erst 18 Jahre und in der GAK Reserve engagiert.

Das Team von „Schramke Santner& Cie“ bestand in seinem Grundgerüst aus Gulis Abkömmlingen. Onkel Rudi als Libero. Mein Vater im zentralen Mittelfeld (6er Position), mein Onkel Andi etwas weiter nach vorne geschoben (8er), ich auf der rechten Flügelseite und Manfred, der ein Linksfuß war, auf der Linksaußenposition. So spielten wir nicht sehr oft, denn es war für uns –  Angehörige der 3. Generation – alles andere als erbaulich und wir gaben bald auf. Alle älteren Gulisse fühlten sich bemüßigt uns Tipps und Ratschläge zu geben, brüllten am Spielfeld auf uns ein, was wir gerade, jetzt, im Moment zu tun hätten: „Spü´ her, schick eam, Schiass, stö di frei…“ usw.

Es wurde generell in der Mannschaft gerne geraunzt und gemeckert. Bei den Söhnen, Neffen und Cousins glaubten sie aber noch viel mehr, dass das angebracht war und man die „Jungen eben führen“ müsse. Und all die anderen Freunde in der Mannschaft, die wir natürlich auch von klein auf kannten und mit am Platz standen, hielten sich auch nicht zurück. Wenn man den Ball gestoppt hatte und führte, dann brüllte das halbe Team auf einen ein. Vom Gegner, der auf einen zustürzte, um einem den Ball zu entreißen, rede ich noch gar nicht.

Wehe, wenn wir zurückredeten oder selbst kritisierten. Na dann, aber hallo. Dann ging die Keiferei erst richtig los. Niemand von den Alten vertrug es, wenn uns was gelang und wir vielleicht sogar so gut oder gar besser als die Alten waren. Dann war der Rest des Tages dahin. Neid und Eifersucht – demonstrative Ignoranz; schlichtweg niedere Instinkte und Gefühle regierten bis zum dritten Bier im Gasthaus die Stimmung.

Also, in Wahrheit machte das Kicken bei „Schramke Santner& Cie“ überhaupt keinen Spaß. 90 Minuten Ungemach, generationale, familiäre und fußballerische Ausnahmesituation, diese Samstage. Mein Cousin und ich waren generell Fremdköper in der Truppe von Vätern und Freunden von Vätern, die meisten schon in den Vierzigern. Nachwuchs gab es nicht so viele, denn entweder interessierten sich die Kinder nicht für Fußball, was für einige der Väter eine tiefe Kränkung war. Andere, etwa Hannes und Ewald, hatten nur Töchter. Die waren zwar mit dabei, spielten aber viel lieber auf der Wiese nebenan – und ganz anderes. Mit jedem Jahr, in dem ich älter wurde, wurde mir die Truppe unheimlicher, fremder. Ich ging auch immer seltener mit, um am Wochenende zu spielen. Ich hatte besseres zu tun. Zumal wir es kaum mehr schafften, ein Spiel wirklich einmal ohne Raufhandel oder Abbruch zu Ende zu spielen. Ich ging vom Platz und war frustriert, weil Fußball zur Nebensache geriet.

Wie im Kleinen, so im Großen“

Auch auf der größeren Bühne – den Bundesligaspielen – ging es nicht viel besser zu. Auf dem Platz hielten sich alle einigermaßen ans Regelwerk und die Autorität der Schiedsrichter reichte, um das Spiel in geordnete Bahnen abzuwickeln. Aber auf den Stehplätzen in der Gruabn ging es oft zur Sache. Einmal, ich war ziemlich jung – vielleicht 7-8 Jahre – fingen, mitten im Spiel zwei Zuseher einige Reihen hinter mir, zu raufen an. Der Stehplatz war schütter besetzt. Die anderen Zuseher machten Platz und so konnten die zwei sich austoben. Nicht nur, dass das Bier im hohen Bogen samt Becher durch die Luft flog, sie ließen auch die Fäuste sprechen. Ich höre heute noch die Geräusche, wenn eine Faust auf den Schädel auftrifft. Sie stolperten im Schwitzkasten über die Stufen, krachten gemeinsam gegen die Stehplatzhalterungen, schlugen sich, keuchten und schrien atemlos.

Das Geschehen am Platz selbst war unwichtig geworden. Alle schauten nur auf die Raufenden. Nicht einer versuchte die beiden Streithähne zu trennen, man ließ sie einfach kämpfen. Irgendwann hatte der eine den andere auf einer der Halterung festgenagelt, verdrehte seinen ganzen Körper um die dicken Eisenstangen und würgte ihn damit. Der war bereits ganz rot im Gesicht, und das nicht nur vom Blut. Dann riefen einige Zuseher, dass die Polizei anrücke und sie aufhören sollten, was auch zum Glück geschah, denn lange hätte der Unterlegene nicht mehr durchgehalten. Die Lücken schlossen sich wieder. Alle taten so, als wäre nichts geschehen. Als die zwei Polizisten zur Stelle kamen, war nahezu nichts mehr zu sehen vom Kampf. Der rotgesichtige, Blut verschmierte, unterlegene Kämpfer, hatte sich in der Menge verdrückt.  Der andere holte sich ein neues Bier.

Und ein weiteres Erlebnis ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Es war ein Fan, ausnahmsweise nicht in der Gruabn, sondern im Liebenauer Stadion. Der SK Sturm spielte zwischen 1974 und 1982 dort. Ich war mit Stiftingtaler Freunden am Platz. Wir standen ganz vorne am Zaun, ich war schon älter als 12. Etwas von mir entfernt stand ein ganz normal dreinblickender und unauffälliger Mann, im mittleren Alter. Er sang die Gesänge mit, manchmal schrie er was rein; nix auffälliges, „Schieber“ oder Foul“ oder sowas.

Aber jedes Mal, wenn sich das Spielgeschehen in unserer Nähe befand, dann rastete er vollkommen aus. Sein Bier, das er in der Hand hielt, spritzte rum. Höhepunkt war, als ein gegnerischer Spieler gefoult wurde und der ganz in unserer Nähe beim Spielfeldrand lag. Er begann zu brüllen: „Steh auf du Sau“. „Markierer“ kam es von den Rängen. Dann verfiel er in einen Sermon, der so abstoßend, wie faszinierend war: „Trogts eam ausse de Leich, der stinkt jo scho.“ Das wiederholte er immer wieder. Der Spieler wurde auf dem Spielfeldrand behandelt und schließlich davon getragen. Danach war der Mann wieder ganz normal, unauffällig, unterhielt sich mit den umstehenden. Bis die nächste Spielszene in unserer Nähe vorbei kam.

Der Marienplatz, an dem wir so viel Zeit in der Kindheit verbrachten, verschwand schon bald. Bald nachdem ich mich von der Truppe Schramke Santner&Cie mehr oder weniger verabschiedete hatte. Die Wiese und der Platz wurden verkauft. Es entstand eine neue Häuserzeile an der Babenbergerstraße und ein Studentenheim von Wist. Dass ich heute in unmittelbarer Nähe zum ehemaligen Marienplatz wohne, ist ein kleiner seltsamer Zufall, den es im Leben öfters gibt. 


[1] Früher schlecht beleumundete Bezirke, in denen es viele Nachtklubs mit Prostitution und Hinterzimmer-Caféhäuser gab, in denen das illegale Glücksspiel florierte.

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