Verschwundene Orte 3: Stiftingtalstrasse 6

Der Ball schien endlos lange in der Luft. Als wäre er der Mond selbst, der seine wundervoll geplante Bahn über den Himmel zieht. Er flog und flog, nahezu über das ganze Spielfeld und landete schließlich auf der Querlatte des Tores. Alle dachten, die Zeit würde still stehen. In Filmen könnte die Szene mittels Superzeitlupe und verzögerter Zeitlinien, durch Schnitte zu parallelen Situationen erzeugt, viel besser umgesetzt werden. Die Zuseher*innen, die Spieler, alle verfolgten den Weg des Balles. Mit weit geöffneten Augen und angestrengten Gesichtsausdruck wanderten sie mit ihren Augen und den Köpfen der Flugbahn des Balles hinter her, der ohne viel Spin in einem weiten Bogen dahin flog.

Mit einem schmatzenden, donnernden und rüttelnden Geräusch, als würde das Tor gleich aus den Erdboden rausgerissen werden und nach hinten stürzen, ganz so, als wäre es tödlich getroffen worden, endete die Flugszene und die gedachte Superzeitlupe. Ganz so, wie wir es aus klassischen Western kennen; langsam aber sicher, erstaunt über das gerade erlittene, mit großen Augen steht der Duellant da, in die Kamera blickend. Der Revolver schwenkt am Abzugfinger nach unten, dann kippt er langsam nach hinten und stirbt. Musik auf, eine Fliege umschwirrt den Todesschützen, von dem man nur die Augen sieht. Schnitt. Der Todesschütze wirbelte seinen Colt ebenso um den Finger und steckt ihn in den Halfter. Kamera amerikanisch. Musik wird lauter.

Aber das Tor fiel nicht. Es wackelte, es knirschte im Boden und pendelte sich wieder ein. Ungeziefer stob von der Oberseite der Querlatte auf und flog hektisch umher, ohne zu wissen, welch wichtigen Sekunden sie beigewohnt hatten. Mein Vater wirbelte auch keinen Colt umher, sondern – wie alle anderen auch – verfolgte er gespannt seinen getretenen Ball und drehte sich einmal um die Achse, als klar war, dass er nur das Aluminium getroffen hatte. In den früheren Zeiten, sagte man dazu Holz. Aber das Fußballtore noch aus Holz und quadratisch waren, diese Zeiten waren sogar schon damals längst vorbei. Der Ball sprang zurück ins Feld und mein Vater stampfte einmal auf und rief etwas Unflätiges. Schließlich fand er sich in sein Schicksal und das in einer Sekunde und trabte schon wieder los, um an das Spielgerät zu gelangen.

Ebenso erwachten alle anderen Beteiligten aus ihrer Erstarrung. Was akustisch folgte, war ein kollektives Ausatmen, das wie ein langgezogener Zischlaut – ähnlich einer quietschenden Zugsgarnitur über den Platz schallte. Schreie folgten. „Ohhs und Ahhs“ entwichen den Kehlen und sie begannen mit ihren Nebenleuten Kontakt aufzunehmen, sich nonverbal auszutauschen, durch Gesten und Mimiken, um ihrer Bewunderung und Verzauberung Ausdruck zu verleihen.

Während dessen flog das derart malträtierte Spielgerät in hohem Bogen wieder zurück ins Spielfeld, sprang weit außerhalb des 16ers zum ersten Mal wieder auf dem Boden auf. Niemand von den Spielern war in der Nähe und konnte sich rasch genug aus der kollektiven Zeitlupe und Überraschung herauslösen. Niemand konnte von der Situation Nutzen ziehen. Niemand konnte den Ball unter seine Kontrolle bringen und niemand konnte sich einen Aufmerksamkeitsvorsprung erarbeiten; weder die Stürmer, die mit der Verwertung des Abprallers überraschen hätte können, noch die staunenden Verteidiger, noch der perplex dreinschauende Torhüter Ralph, der sich um seine eigene Achse drehende Torhüter bei den Söhnen. Und so päppelte der gerade so im Fokus stehende Ball einige Male auf und rollte dann im Mittelfeld aus. Fast unbeachtet, fast ungeliebt, fast vernachlässigt, streunte er auf dem Platz umher. Vielleicht genoss er aber auch die kurze Phase der Ruhe, des Alleingelassen seins. Sie dauerte nur wenige Sekunden, bis einer kam und ihn wieder trat. Einige am Rande stehenden Zuseher*innen, hauptsächlich Verwandte, Mütter und Geschwister applaudierten spontan und transformierten so ihre innere Anspannung in Bewegungsenergie.

Väter gegen Söhne

Es war ein Samstagnachmittag, an dem sich eine kleine Karawane aus dem Stiftingtal, rund um die Siedlung am Großgraben- und Viktor Geramb Weg und den anliegenden Häusern bis zur Ortnerstrasse, Richtung Stadt bewegte, um Akteur* und Zeug*innen eines Fußballereignisses am Platz in Leonhard zu werden. Die lokal und zeitlich begrenzte Völkchenwanderung, die da an dem besagten Samstag losbrach, war dem Match Väter gegen Söhne geschuldet. Eine Premiere und dementsprechend aufmerksam registriert, von vielen. Auch wenn sie nicht fußballinteressiert waren.

Der Platz – das Stadion – lag in der ersten Kurve der damaligen Stiftingtalstrasse, der Eingang dazu auf einer kleinen Kuppe, keine hundert Meter von der Endstation Leonhard stadtauswärts entfernt. Die Karawane kam jedoch von der anderen Seite – aus den Tiefen des Stiftingtals. Von dort – wo ich (wir) wohnte/n – waren es etwa 2 Kilometer zum Platz oder 5-6 Stationen mit dem Bus. Die meisten von uns fuhren mit dem Rad, der Rest saß hinten drauf, am Gepäcksträger. Treffpunkt war die Ecke Stiftingtalstrasse-Großgrabenweg. Die Kicker radelten im Konvoi zum Platz.

Wir kamen an den alten Holzzaun mit Tor, das windschief in seinen Angeln hing und schwer auf zu kriegen war, so als würde es uns nur sehr ungern rein lassen, weil sicher was kaputt werden würde. Etwas tiefer unten gelegen, stand das erste Tor, ohne Netz in der Nachmittagssonne, kahl und leer. Kurz gemäht war er und sogar Linien gab es heute. Das war ja nicht immer so. Linien gab es eigentlich nie und gemäht war er oft auch nicht, sodass das Spiel unter der unebenen Wiese und dem zu hohen Gras litt. Vor den Toren hingegen gab es zwei kahle Stellen, ja fast Senken könnte man sie bezeichnen, die bei leichtem Regen matschig, sich bei heftigerem sogar mit Wasser füllten. Bei Trockenheit jedoch staubig und steinhart waren; Schürfwunden waren vorprogrammiert.

Der als Fußballplatz ausgewiesene Bereich hatte nicht die erforderlichen Längen- und Breitenmaße für einen richtigen Fußballplatz – nach FIFA Richtlinien – und demnach war der 16er kein echter 16er. Aber es war „unser Stadion“.

Stiftingtaler Rundfahrt

Ich kann nicht mehr beschwören, wer es organisiert hatte. Ich glaube, es war der Nikolaus und der Ralph. Der Nikolaus – der älteste Leitner Bub – der damals noch Klaus hieß, organisierte schon immer gerne. Als wir noch kleiner waren, gab es im Garten der Leitners im Sommer des Öfteren einen Circus. Einige von uns studierten Kunststücke ein und präsentierten diese, sangen, tanzten und spielten kleine Szenen. Die Vorstellungen wurden dann in der ganzen Siedlung publik gemacht, mit kunstvoll bemalten und beschrifteten selbsthergestellten Zetteln, die der Klaus entwarf und die an Laternenmasten und Zäunen aufgehängt wurden. Die anderen Kinder und manchmal auch ein paar Erwachsene zahlten Eintritt und sahen den „Artisten“ zu.

Ein andermal – das war Jahre später – der Nikolaus war schon in der Oberstufe des Gymnasiums, organisierte er eine Stiftingtaler Radrundfahrt. Es gab 10 Etappen, alles dabei, was zu einer Radrundfahrt gehörte; Zeitfahren, Sprint- und Bergwertungen. Nikolaus hatte sie nicht gewonnen, das weiß ich, weil er sich sehr darüber ärgerte. Der Sieger kam nicht direkt aus dem Stiftingtal, war ein Legionär quasi. Ich weiß den Nachnamen noch, er hieß Brett. Er wohnte in der Billrothgasse. Der war schon zu Beginn, der heiße Kandidat auf den Gesamtsieg. Der hatte ein Rennrad, aber hallo… Da fielen uns die Augen raus.

Ich habe noch eine Szene vor meinem geistigen Auge, als der einen steilen Teil der Stiftingtalstrasse nahm, weit draußen schon, nach dem Stadtschild – bei der Abzweigung – wo es einerseits ins Schafthal und andererseits nach Mariatrost ging, durch den Wald der Ries-Ankunft entgegen flog. Da konnte keiner mit. Wir staunten. Das konnte doch nicht ganz allein nur das Rennrad sein. Da waren wir uns danach sicher. Aber vielleicht wurde damals auch schon beim Stiftinger Radkriterium gedopt? Wer weiß! Es gab sogar einen Pokal für den Brett. Hieß er Christian? Möglich! Die Siegesfeier fand im Garten der Leitners statt, mit  anschließender Pool Party. Haha, wie das klingt, aber es war so, weil die Leitners hatten einen gemauerten, rechteckigen Swimming Pool im Garten.

Nikolaus oder Klaus und wir mit ihm, organisierten und führten viele Turniere und Wettbewerbe durch. Tischtennis, Fußballtennis, Fußball, Federball, Waldcross – mit den Rädern durch den Wald, alles wurde einzeln gewertet, als Team und als Gesamtwertung bewertet und in Listen geführt, mit Koeffizienten versehen und Tabellen geführt, mit Turniersiegen gekrönt oder am Ende der Saison mit dem Meistertitel belohnt.

So gab es etwa im Pool das Spiel „Matratzen entern“. Einer saß in der Mitte des Pools auf einer dreiteiligen Luftmatratze und die anderen versuchten auf die Matratze zu hüpfen, um den Sitzenden von der Matratze zu bringen. Eigentlich ein sehr lustiges Spiel. Papa Leitner mochte es nicht so, weil so viel Wasser aus dem Pool spritzte und schwappte.

Und das ganze fand natürlich im Winter auch statt. Da gab es mehrere Abfahrten in der Gegend; außerdem einen Slalomhang, eine Rodelpiste, im Hohlweg durch den Wald, zwei Sprungchancen und zwei Teiche, die oft genug zugefroren waren, so dass wir dort Eishockey spielen konnten.

Das ewige Derby

Der spielerische Alltag im Stiftingtal war geprägt von regelmäßigen 2 gegen 2 Kicks im Garten der Leitners. Es gab zwei reguläre Fußballmannschaften. Den SAK (Stiftinger Athletic Klub) und den SK Stifting. Der SAK waren der Nikolaus und ich, der SKS waren der Gerhard und der Gernot. Im Laufe der Jahre kam eine dritte Mannschaft hinzu. Das waren die jüngeren, bestehend aus dem Thomas (Tömpi) und dem Andreas (Änder). Als wir älter wurden, kamen mehr Freunde auf Besuch. So entstanden Legionärsmannschaften oder Mixed Teams.

Heli, ein Schulfreund von Thomas wechselte oft über den Berg aus Mariatrost zu uns herüber. Der Kurti aus Wr. Neustadt spielte öfter mit, wenn er zu Besuch war. Den hatte Gernot kennengelernt, als er auf die Wiener Filmakademie ging; und diese Freundschaft blieb bis zu Kurtis plötzlichen Tod im Jahr 2014. Der Kurti brachte auch einmal an einem Wochenende einen anderen Freund mit, den man ohne zu übertreiben, als Prominenten bezeichnen konnte. Wir staunten nicht schlecht, als Fredl Tatar, der damals noch eine eigene richtige Fußballprofikarriere im Blick hatte, bei uns im Garten, bloßfüßig mit kickte. Mit der richtig großen Kicker Karriere wurde es bei ihm nix – obwohl er sogar dem Mario Kempes in Erinnerung geblieben ist und sie gute Freunde wurden – immerhin spielte er bei der Vienna, die damals noch erstklassig waren. Später wurde er Trainer, kam ein wenig in der Welt (Russland) herum und heute ist er Co-Kommentator von irgendeinem Sender. Aber prominent wurde Nikolaus dann später ja auch.

Ach ja und einen Legionär gab es auch, der teuerste weil einzige Legionär, den das Stiftingtal jemals hatte. Und nicht wie sie vielleicht glauben, der Kurti oder der Fredl, nein. Wie immer wollten wir Fußballspielen, jeden Tag, jede Stunde, immer. Aber es fehlte der Gerhard und so fragten wir den Martin, den drittältesten der Leitners, der sich prinzipiell für Fußball überhaupt nicht interessierte und eigentlich auch nicht spielen konnte. Also redeten wir auf ihn ein und wollten ihn überzeugen, dass er mit seinem Bruder Gernot gegen den SAK (also uns) spielen sollte. Das zog sich, zwischendurch glaubten wir schon, wir hätten ihn endlich soweit, aber dann kam wieder der Schwenk und etwas dazwischen und er bockte wieder. Das ging so dahin, den ganzen Nachmittag lang, bis es schon bald Abends wurde. Da kamen wir auf die Idee, ihn dafür zu bezahlen, dass er mit kickte. Das wirkte zwar auch erst nach einiger Zeit, aber er bekam Geld, das er spielte.

Ich weiß den Preis nicht mehr, auf den wir uns einigten, aber er war für unsere Verhältnisse  beträchtlich. Vielleicht so 20 oder 30 Schilling. Das Geld war nicht gut investiert, weil das Match machte wenig Spaß. Martin war und blieb ein miserabler Kicker und war auch entsprechend lustlos bei der Sache. Man möchte fast sagen, wie Legionäre halt so sind, Diven und mit Starallüren ausgestattet. Aber das wäre gemein und pauschal. Wir gewannen das Match, zahlten das Geld aus und waren um eine Lektion reicher. Das wiederholte sich nicht mehr. Daraus erfanden wir eben andere Spiele, die man auch zu zweit oder zu dritt spielen konnte; wie etwa das Spiel, das wir auf die schmälere Wand des Swimming Pools von außen schossen. Ein zweiter stand als Tormann im Pool. Ging natürlich nur, wenn es nicht eingelassen war. Man durfte die erhöhte Mauer des Pools von außen nicht berühren. Zu dritt war es noch lustiger, weil man sich dann über den Pool hinweg zu passen und etwa mit dem Kopf einnetzen oder den Ball aus der Luft volley übernehmen konnte und auf die schmale Mauer hinunter in den Pool schießen konnte.

Richtig viele Kinder

Die Siedlung zeichnete sich durch eine große Zahl an Kindern aus; richtig viele Kinder. Dementsprechend groß war das Gedränge, bei dem Match der Matches mit zu spielen. Die Raths hatten sechs Kinder, davon zwei, der Hannes (Hampi) und Bernd, die im engeren Kader standen. Die Candussis waren auch sechs. Aber ich erinnere mich nicht daran, dass der Klaus oder der Hermann dabei gewesen wären, wahrscheinlich schon, aber sie hatten es mit dem Kicken nicht so. Die Kemps waren fünf, davon stand der einzige Sohn Mike im Kader. Die Leitners waren vier Buben, die beiden älteren, Nikolaus und Gernot waren Fixstarter. Der Martin, wie schon erwähnt, der teuerste Legionär des Stiftingtals nicht. Thomas der jüngste war noch zu klein.

Die Leitls waren zwei, spielten aber nicht mit. Die Familie Neger waren auch fünf, da spielte aber keiner mit. Die Horners waren drei Kinder, aber alles Mädels. Die Muralters waren vier Mädchen. Damals undenkbar, dass da eine mitgespielt hätte. Jurtschitsch hatte einen Sohn, der noch zu klein war. Mauthner hatten zwei Töchter, aber der Vater spielte mit. Wir waren zwei Kinder, ich spielte mit, mein Vater auch. Der Gerhard war allein, spielte mit. Sein Vater nicht. Hollomay waren dabei, Sohn Ralph und der Vater Werner. So standen also die Leitner Jungs ihrem Erzeuger ebenso gegenüber, wie die Raths ihrem Vater und ich meinem. Das lustige war, dass beide Hollomays die Tore hüteten. Werner bei den Vätern, Ralph bei uns.

Bei den Vätern sah es mit dem Kader nicht so rosig aus. Einige davon waren Fußballer, teilweise ehemalige Ligakicker, zumindest regelmäßige Hobbykicker, wie mein Vater und der Ewald. Andere wiederum standen bis dahin wohl noch keine 3x auf einem Fußballfeld.

Es ging ja um die Gaude

Das sagten zuerst alle. Wiewohl das schnell umschlug, als das Spiel angepfiffen wurde. Wir hatten für das Spiel sogar einen Schiedsrichter. Von seinem Sohn wollte sich kein Vater eine Niederlage zufügen lassen und daher wurde es rasch ernst. Zweikämpfe wurden nicht zugunsten der schmäleren Söhne verloren gegeben. Mein Vater stach als Vereins- und regelmäßiger Hobbykicker eher hervor. Dass er den Ball aus dem eigenen Feld, etwa 10 Meter vor der Mittellinie auf die Querlatte schoss, unterstrich das. Wenn die Rede in sentimentalen Momenten auf das Match kommt, fällt vielen der Schuss meines Vaters ein.

Nur meiner Mutter nicht, die glaubt fest, dass er so ehrgeizig dabei war, dass er mich einmal umgerannt hatte. Das kann ich aber nicht bestätigen, denn ich weiß nicht mal, ob ich längere Zeit mitgespielt habe. Sicher ist, dass ich Ersatz war, denn bei den Söhnen gab es viele Ältere, die körperlich schon robuster waren, um gegen die „ausgewachsenen Mannsbilder“ zu bestehen. Nikolaus, Gernot, Gerhard, Hampi, Ralph, Mike, Klaus, Hermann. Ich war mindestens zwei Jahre hinter den anderen und körperlich zart. Das Problem, das ich mittlerweile habe, ist, dass ich nicht mehr weiß, wie es ausgegangen ist und ob ich nicht doch noch einige Minuten gespielt habe. Es konnte ja dauernd getauscht werden.

Soweit ich mich erinnere, war das wohl das einzige Mal, das die Familien aus diesem Teil des  Stiftingtals gemeinsam bei einem Ereignis beisammen waren. Man kannte sich. Durch die Kinder gab es immer wieder Kontakt, manchmal auch deswegen, weil wir was angestellt hatten, oder sie zusammen kommen mussten, weil die „Buam“ irgendwas ausgeheckt oder zerstört hatten. Wirklich ernsthaft und nachhaltig gab es aber keinen Ärger. Näher befreundet waren nur die unmittelbaren Nachbarn. Die Leitners waren schon mal bei den Kemps im Garten eingeladen und meine Eltern hatten engen Kontakt mit der Mauthner Familie und mit Jurtschitsch.

Ladenschluß

Alle kannten meinen Vater, weil er Filialleiter des Konsums war. Für viele aus der Umgebung war das nicht nur eine nützliche sondern auch wichtige Bekanntschaft. Weil zufälligerweise wohnten wir über dem Konsum Geschäft und so geschah es nicht einmal, dass nach Ladenschluss ein Steinchen an die Balkontür klopfte und unter dem Balkon auf der Stiftingtalstrasse jemand aus der Nachbarschaft stand, der um Einlass in den Laden bat, weil was vergessen worden war. Vor allem Samstagmittag passierte das öfters, dass etwa einer der Leitner Buben Steine warf, um noch drei Liter Milch zu ergattern, weil sie die Zeit übersehen hatten und beide Läden im Stiftingtal schon geschlossen waren. Die Ladenschlusszeiten waren wesentlich strenger, als heute. Es gab Mittagsschließzeiten, einen Nachmittag, an dem die Läden geschlossen hielten und am Samstag um 12 Uhr war Schicht im Schacht.

Auf jeden Fall war es kein Nachteil, wenn man sich mit dem „Herrn Gulis gut stellte“, weil dann konnte man die Ladenschlusszeiten auch mal umgehen. Die Leitners waren dabei notorisch, aber auch andere kamen regelmäßig, so etwa die Frau Rath. Und das ging ja nur beim Konsum, weil wir darüber wohnten. Beim zweiten Geschäft im Tal, das es damals noch gab, den Gröhenig, war das nicht möglich, denn da wohnte keiner im Haus. Beide Geschäfte gibt es seit Jahrzehnten schon nicht mehr. Wie überhaupt es im Stiftingtal nahezu nichts mehr gibt, was es früher einmal gab.

Wochenende war „Grotte Zeit“

Die „Disco-Dancing Grotte“ war eine Zeit lang in den 60er und 70er eine beliebte Wochenendbeschäftigung der Jugend. Freitag, Samstag standen vor der Grotte viele Autos und es dröhnte hinter den verdunkelten Scheiben. Die Disco Zeit hatte auch das Stiftingtal erreicht. Die Grotte sah innen tatsächlich wie eine Grotte aus. Da stürzten Felswände auf einen ein und schmale Gänge führten zu den Tischen, schwere Stein ragte über den Köpfen herab. Bei Tageslicht oder normaler Beleuchtung durfte man sich das Interieur der Grotte nicht ansehen. Es war gar schauderhaft, wie schlecht und billig das war. Aber das hatte ja eh niemand vor und der Zauber im schummrigen Disco Licht funktionierte. Irgendwann begann der Lack zu blättern und die Grotte kam aus der Mode, wohl so ab den mittleren 1980er Jahren.

Wir waren für die Glanzzeiten der Grotte zu jung. Als wir alt genug für die Grotte waren, da war sie schon out und bei uns „die Stadt“ in. Wir gingen oder fuhren einfach nur vorbei. Spätabends aus der Stadt kommend,  zu Fuß oder mit den Rädern hörten wir schlechte Schlager und gedämpfte Tanzmusik aus dem Inneren, ein paar Autos standen davor. Alles verströmte den Geruch einer „alten Generation“ und einer Zeit, die nicht unsere war. Wenn die Tür aufging, wurde die Musik lauter. Bei den Autos standen oft Gruppen, die rauchten und sich laut unterhielten. Eine Zeitlang nahmen wir uns immer vor, doch „endlich in die Grotte zu gehen“ und hatten es doch nie getan.

Einmal waren wir drinnen, unter Tags, weil wir einen Raum für ein Kabarettprogramm suchten und uns das anschauen wollten und wissen wollten, was es kosten würde, die Grotte zu mieten. Aber abgesehen davon, dass es viel zu teuer war, war das Interieur abschreckend. Als wir durch die Tür eintraten, kam uns ein muffig-schimmliger Geruch entgegen, der untermalt und hinterlegt wurde mit abgestandenen Zigaretten-, Bier- und Pissgestank. Das brachte man auch mit nichts mehr raus. Das hatte sich in die Pappmache Wände eingefressen. Irgendwann schloss sie, wurde verkauft, abgerissen und ein Kindergarten wurde dort später errichtet.

Aber ich schweife ab, das Match war also zu Ende, alle fuhren wieder nach Hause. Es hatte sich niemand ernsthaft verletzt und wenn mich nicht alles täuschte, hatten die Väter gewonnen, 6:4 oder so. Damit war das Wochenende gerettet. Zu einer Revanche kam es nicht mehr, obwohl gleich nach dem Match alle Beteiligten schworen, dass man das wiederholen wolle. Die Stiftingtaler Arena war noch eine Zeit lang, einer unserer beliebten Plätze. Als dann immer mehr mit ihrer Schule fertig waren und weg zogen, arbeiteten und studierten, fielen die Kicks in der Leonhard Arena immer öfter aus. Die Prioritäten verlagerten sich. Viele fanden andere Klubs oder Hobbytruppen, die zu ihrem neuen Leben besser passten.

Den Platz gab es noch einige Zeit, aber es gab keine nachfolgende Generation, die ihn ähnlich intensiv nützte, wie wir. Er lag eine Weile brach, um dann gänzlich zu verschwinden. Der Platz wurde verbaut – war ja ein wertvoller Baugrund – der größere Teil davon zuerst von einer Tiefgarage für die LKH Besucher*innen. Der restliche Teil verschwand wegen des Neubaus der Med-Uni. Dort, wo die Straße vorbei führte und das schiefe Holztor knarrte, rumpelt jetzt die Straßenbahn und ein überdachter Radweg führt daran vorbei.