Verschwundene Orte 2: Riesstrasse 141

 

Am ersten Tag begleitete mich meine Mutter. Ausgestattet mit einer rechteckigen, roten Schultasche aus Leder am Rücken, spazierte ich an ihrer Hand den Berg hinauf. Das hatte nichts von einem kurzen, gemütlichen Spaziergang, sondern war eine richtige Wanderung. Wir hatten beim ersten Mal sicher an die 30 Minuten für eine Strecke gebraucht. Wir zwei waren ja nicht die schnellsten. Ich, noch klein, sie schon schwerfällig, hochschwanger, mit dickem Bauch. Es war alles neu. Fortan lebte ich am Stadtrand, um mich herum grüne Wiesen, kleine Wäldchen, ein Bach.

So trotteten wir die Stiftingtalstraße stadtauswärts, bogen nach rechts in den Stiftingbachweg ab. Es ging hinunter zum Bach, über die kleine Brücke, immer bergan an Vorstadthäuser vorbei. Etwa ab der Hälfte des Weges wurde es beschwerlich. Nach der steilen Passage gab es eine S-Kurve. Viel später fuhren wir das mit dem Rad, denn meine Freunde hatten einen „Tour de Stifting“ in zehn Etappen organisiert. Und bei der erwähnten S-Kurve gab es eine Bergwertung.

Am Ende der Kurvenkombination, bogen wir in einen Fußweg – eine Abkürzung, durch ein kleines Wäldchen – ein. Wir überquerten wieder die Straße, die in einem weiten Bogen herumführte, mussten durch ein zweites Wäldchen bis zu einem schmalen Weg, der von zwei Zäunen begrenzt wurde, alles aufwärts. Diesem Weg folgten wir, die letzten Meter mit Stufen nehmend, um dann schnaufend auf der Ries zu stehen. Jetzt fehlte noch ein Gehweg, stadtauswärts ca. 300 Meter, bis man die Schule erreichte. Gleich neben der Schule war eine Schneise, die steil runter zur Stiftingtalstraße führte. Von dort oben sah man weit unten unser Haus. Später, etwas älter schon, setzten wir uns im Winter auf die Schultaschen und rodelten die abgeholzte Schneise hinunter. Noch etwas später war das eines der steilsten Stücke in einer längeren Ski-Abfahrt, die spektakulär begann. Am Ende des Steilhanges musste man über die Straße springen. Da stand immer ein „Ordner“, der aufpasste, dass uns kein Auto erwischte. Der Hang war echte Mutprobe.

Jenseits der Riesstraße begann der noblere Teil des Bezirkes. Villen, Bungalows, stattliche Neubauten standen dort. Dort wohnte unter anderem auch Alexander Götz, der spätere Bürgermeister der Stadt Graz. Ein mehr als weit rechtstehender Recke der FPÖ. Sie erinnern sich noch? Das war der, der eine sagenhafte Pension der Stadt Graz erhielt und diese später, als sie gekürzt werden sollte, eingeklagt und Recht bekommen hat. Bis 2008 stieg die monatliche Pension auf € 14.800,00 monatlich an. Nachdem er im Jahre 2018 verstarb, dürfte das Salär bis dahin erheblich höher gewesen ein. Von seinen anderen Einkünften als Technova Chef (bis 1997) und Messe Chef wollen wir hier schweigen, weil wir darüber nichts wissen. Er hatte auch noch Aufsichtsratsposten bei der Steiermärkischen Sparkasse und beim Bankhaus Krentschker inne.

Sein Sohn – auch Alexander getauft – ging mit mir in die gleiche Klasse. Unsere Wege trennten sich erst in der dritten Klasse des Gymnasiums. Bis dahin waren wir eigentlich so etwas wie Freunde. Es konnte schließlich nicht gut gehen, denn er war im Gymnasium genauso schlecht wie ich, aber er kam immer durch. Irgendwie ergatterte er noch einen Vierer oder bei den alles entscheidenden Schularbeiten bekam er – im Gegensatz zu mir – doch ein Gut. Es reichte halt nicht. So war es immer, am Ende rutschte er durch und ich nicht. Und so nahm seine „Karriere“ seinen Lauf. 1997 folgte er zufällig seinem Vater bei Technova und später als Messechef. Aber gut, wenn man das Karriere nennen mag?

Damals am ersten Tag wusste ich von all dem nichts. Ich mochte Alexander, er war kein Angeber, eher ruhig. An den ersten Tag hab ich keine Erinnerung. Ängstlich war ich sicher, unsicher auch, vielleicht gespannt und neugierig? Denn ich kannte ja niemanden. Es war kein Karli da, kein Peter und die Karin auch nicht. Die blieben alle zurück in Liebenau. Ich war erst am Wochenende vor Schulbeginn zu meinen Eltern ins Stiftingtal endgültig und dauerhaft umgesiedelt.

Eine erste Erinnerung habe ich erst an einem der folgenden Tage. Der begann schlecht. Meine Mutter musste wegen einsetzender Wehen ins Spital und konnte mich nicht begleiten. Wie ich in die Schule kam, weiß ich nicht. Möglich, aber eher unwahrscheinlich, dass mich Vater hin brachte oder auch, dass er mich einfach ein paar Buben mit gab, die auf mich aufpassen sollten. Opa sollte mich nach der Schule holen und nach Liebenau mit nehmen. Mama war ja im Spital, ein Notfall sozusagen. Daher hatte ich den Auftrag vor der Schule im – mit Steinen und einem Zaun ausgelegten und umzäunten – Vorhof zu warten. Einige Erstklassler*innen wurden bereits an der Tür empfangen und geherzt, die anderen im Vorhof. Aber nicht ich. Opa war nicht da. Nach einigen Minuten war der Vorhof leer. Ich stand alleine da. Wo sollte ich hin? Liebenau war endlos weit weg, keine Chance dort jemals hinzukommen, wo wenigstens Oma gewesen wäre. Ins Stiftingtal – auch aussichtslos, ich wusste ja noch nicht mal den Weg zurück.

Kaum drinnen, war ich schon fertig mit ihr

Ich wurde immer verzweifelter, meine Hoffnung sank. Wahrscheinlich waren es nicht mehr als zehn Minuten – höchstens. Opa hatte einfach den Verkehr unterschätzt, oder er war zu spät aus der Firma weg gekommen. Schließlich arbeitete er ja und musste sich extra dafür frei nehmen. Ungeachtet all der rationalen Einwände, für mich war es die Katastrophe. Als er kam, mich umarmte und ins Auto setzte, blieb ich stumm. Die Tränen waren schon getrocknet. Ich sagte mir aber, dass ich mit der Schule fertig war, sie mich nicht mehr interessierte und ich dort sicher nicht mehr hingehen würde. Am nächsten Tag bemerkte ich aber, dass es nicht nach meinem Willen ging. Ich hatte da nichts zu bestellen. Ich saß wieder am gleichen Platz.

Die nächsten Tage verbrachte ich wieder bei den Großeltern in Liebenau, bis Mutter mit meiner kleinen Schwester aus dem Spital nach Hause kommen würde. Aber es war nichts mehr so, wie es vorher war und das ging mir gewaltig auf die Nerven. Den Schulweg musste ich mit meinen neuen – schon wieder 2 Jahre älteren – Kumpanen bestreiten. Und nach ein paar Wochen waren wir mehrere Volksschüler*innen, die den gleichen Weg gingen. Zu Hause hatte keiner mehr Zeit für mich, alles drehte sich um das kleine rosa Balk, das ununterbrochen schrie. Die Geburt war nicht ganz komplikationslos; irgendwas mit Rhesus Faktor und zu lange gewartet und daher selbst vergiftet oder so ähnlich. Aber fragen Sie mich nicht genauer. Mutter hatte es mir mal erzählt, aber ich habe es schon wieder vergessen. Auf jeden Fall hatte die kleine Brigitte ständig Kolliken und war ein richtiges Schreikind, das durch nichts zu beruhigen war. Eh klar, sie hatte ja auch wirklich Schmerzen. Das dauerte Wochen.

Ich entdeckte den Schulweg als Abenteuerspielplatz, als Experimentierfeld, als Platz, wo niemand schrie. Dabei waren vor allem die Nachhausewege bald der Inbegriff von Trödeleien und Umwegen. Die neuen Freundschaften begleiteten sich gegenseitig nach Hause, bogen in den Wald ab, suchten sich neue Wege oder bauten am Stiftingbach Dämme, um Fische zu fangen, was aber nie gelang; und vieles mehr, was 6-10jährigen Jungen so einfiel. Ja damals gab es noch Forellen im Bach. Bis ein Bauer Gülle oder Jauch´n – wie wir sagten —  in den Bach ablud und die Wasserqualität im Eimer war. Manchmal landete ich sogar in der Ragnitz, weil wir irgendein verwegenes Spiel spielten.

Auf der anderen Seite der Riesstraße ging es ebenso steil hinunter, wie auf „unserer“ Seite. Über den Ledermoarweg – ja der heißt wirklich so – der weiter unten in die Rauchleitenstraße mündete. Vorbei an der Frankensteingasse – auch das ist wahr, sie können es ja selbst eingeben und suchen, wenn sie mir nicht glauben – bis man auf die Ragnitzstraße stieß, einige hundert Meter vor dem legendären Ragnitzbad. Da verlagerte sich aber erst später unser Freizeitmittelpunkt. Einstweilen war das Stiftingtal noch unser Revier; Ragnitz die Ausnahme.

Die Volksschule Ries hatte drei Einzugsgebiete, woher die Schüler*innen kamen. Erstens, die Stiftingtaler, aus jungen Familien stammend, Arbeiter und kleine Angestellte, die sich auf dem Weg in die Mittelschicht befanden, ihren klassischen Traum, von Familie und Haus träumten und ihn sich gerade verwirklicht hatten. Dementsprechend von Schulden geplagt waren und schufteten und wenig Zeit hatten. Zweitens, die Ragnitzer, aus dem schon erwähnten besser situierten Großbürgertum, Villenbesitzer*innen, Kinder aus besserem Haus. Sowie drittens die Rieser. Kinder, die  meistens von Bauernfamilien stammten, die es stadtauswärts noch einige gab. Eine lustige Mischung, die es sonst wohl heutzutage nirgends mehr gibt. Die Unterscheidungslinien zogen sich aber stärker entlang des Geschlechtes, also Mädchen gegen Buben. Mit dem Ende der Volksschule war die Vermischung zu Ende. Die Ragnitzer und die meisten Stiftingtaler gingen ins Gymnasium, die Rieskinder kamen in die Hauptschule.

Einmal erinnere ich mich, dass wir eine Gruppe von Stiftingtaler*innen in der Früh auf dem Weg zur Schule waren. Es ging laut her, wir schupften, hänselten uns und nahmen uns Dinge weg. Buben gegen Mädchen, aber natürlich gab es auch interne Fraktionen, die Erst- gegen die Drittklassler*innen usw.  Ich stieß eine Klassenkollegin so stark, dass sie hinfiel. Sie schürfte sich das Knie auf, blutete und die weiße Strumpfhose ging kaputt. Sie weinte, lief laut plärrend nach Hause. Es tat mir leid, so fest wollte ich das nicht. Aber es war schon zu spät. Wir riefen ihr zwar nach, sie möge doch da bleiben, aber es half nichts mehr. Mir war mulmig, aber es ließ sich nicht mehr ändern und so gingen wir übrig gebliebenen weiter zur Schule.

Ich hatte den Vorfall schon vergessen. Doch irgendwann in der zweiten Schulstunde ging die Tür auf und ein Schüler aus der 4. Klasse holte mich auf Geheiß der Direktorin. Die Mutter der Schülerin stand, böse und finster drein schauend, neben der Direktorin. Ich erhielt eine Abreibung und Ermahnung, musste mich entschuldigen, was mir gleich nach dem Vorfall nicht schwer gefallen wäre, aber jetzt unter dem Druck der Anklagebank, mir kaum von den Lippen kam. Dann wurde ich, gedemütigt und verbal geprügelt, zurück in die Klasse geschickt. Ich fand, das hätten wir uns doch unter uns ausmachen können. Da hätte es doch die Mutter nicht gebraucht!

Abteilung Taschenfeitl

In der dritten Klasse war ich dann Teil eines größeren angehenden Verbrechersyndikats. Meine Position war die eines – heute würde man im Drogenmilieu – Streetrunners. Wenige Meter neben der Schule lag der Lachmann, ein typischer Greissler der damaligen Zeit. Heute gibt es so etwas in der Form nicht mehr. Ein Laden für Jausen, Süßigkeiten und Schulbedarf. Einer von den Großen – aus der 4. Klasse – kam drauf, dass man beim Lachmann vermeintlich leicht was mitgehen lassen konnte. Nach den ersten geglückten Versuchen, wollte er gleich einen ordentlichen Handel aufziehen, also „klotzen nicht kleckern“. Es gab Kompagnons, die stahlen, es gab Kinder, die das „Diebsgut vercheckten“.

Ich war in der Abteilung „Taschenfeitl“ beschäftigt. Alle paar Tage sollten aufklappbare Taschenmesser, mit Holzgriff gestohlen werden und die sollte ich dann an Mitschüler*innen „verticken oder verchecken“, um in der coolen Junggangstersprache zu bleiben. Das ganze ging nicht lange gut. Wie zu erwarten. Die Lachmann Besitzer rochen den Braten relativ schnell und ließen die Bande auffliegen. Na, was soll ich sagen; große Aufregung! Aufmarsch in der Direktorion, in Reih und Glied stehen. Androhung des Ausschlusses, Rufe nach der Polizei wurden laut. Die Eltern wurden informiert. Entsetzen, rundum. Die eine oder andere „Watschen“ wurde zu Hause sicher ausgeteilt. Es fand ein Tribunal im Direktionszimmer statt, bei dem die Eltern teilweise anwesend waren. Wir kamen glimpflich davon, mussten Widergutmachung leisten. Mein Glück war, dass praktisch alle Taschenfeitl wieder retourniert werden konnten. Einen hatte ich selber, einen hatte ich verkauft. Der Schüler gab ihn anstandslos zurück. Einer war gerade eingetroffen, war aber noch nicht verkauft worden. Der wurde mir auch abgenommen. Die Verbrecherkarriere war also abrupt gestoppt worden, sie flackerte nur später nochmal kurz auf. Aber das ist eine andere Geschichte.

Meine Lehrerin in der 1. und 2. Klasse mochte ich sehr. Sie war freundlich, umgänglich und ging mit allen aufmerksam und liebevoll um. Ich meine, wir waren ja noch kleine Stoppeln, kaum den Windeln entstiegen. Sie war die richtige für uns. Sie schaute drauf, dass es uns gut ging und dass wir durcheinander gemischt wurden und das niemand zurück blieb. Irgendwann in der ersten Klasse kam ich neben der Dani zum Sitzen. Jene Daniela, die später noch einmal in der Geschichte vorkommen wird. Ich war einer der ersten Buben, die neben einem Mädchen saß. Zuerst war es furchtbar, was für eine Erniedrigung, neben einem Mädchen sitzen zu müssen. Aber insgesamt und heimlich fand ich es super. Die Mädchen waren so anders, so freundlich und sanft. Sie rochen auch ganz anders und die Dani war immer sehr nett zu mir, half mir, ordnete meine Sachen. Ich glaub´, ich war ein bisschen verliebt in sie. Aber das durfte nicht raus kommen.

Singen hasste ich allerdings, was sie und auch die Lehrerin sehr gerne taten. Nicht grundsätzlich, das muss ich betonen, aber das Singen im Klassenchor, das war mir zuwider. Vor allem wenn wir „Summ-Summ-Summ Bienchen summ herum“ sangen. Da forderte die Lehrerin uns alle auf mit den Händen die Flügel nach zu machen und uns um unsere eigene Achse zu drehen. Die Mädchen sangen bei dem Lied immer besonders enthusiastisch. Ich fand das Lied und die Darbietung immer affig und verweigerte die Mitarbeit.

Die Frau J. – unsere Lehrerin – war ein dunkler Typ, italienisch, griechisch, slawisch oder so. Halt so einfach mal eingeteilt. Sie hatte dichtes schwarzes, welliges, halblanges Haar, das mit grauen Strähnen durchzogen war. Das Alter von Volksschullehrerinnen einzuschätzen, fällt schwer. Für uns war sie uralt. Aber ich denke mir, sie war so mittelalterlich, vielleicht 40. Nicht so alt wie die Frau Gasparic, die später für sie einsprang und mich an eine KZ-Wärterin erinnerte, aber eben auch nicht so jung wie Frau Herbst, die wunderhübsch war und mit ihrem roten VW-Käfer anbrauste, ausstieg und frischen Wind in ihren wallenden Haaren mit brachte und alle verzückte. Kollektive Verliebtheit für einige Monate, dann ging sie aber gleich wieder, weil sie wurde schwanger.

Frau J. hatte auch einen Damenbart, ihr Flaum auf der Oberlippe war deutlich sichtbar und beim Turnen, wenn sie einen Art Badeanzug trug, sahen wir auch ihre beharrten Beine. Sie war Alles in Allem betrachtet, aber ein Goldgriff. das hätte was Gutes werden können. Mit der Zeit fielen uns jedoch ein paar Seltsamkeiten auf. Wenn wir eine Aufgabe hatten und still in unseren Heften schrieben, lasen oder malten, saß sie vorne am Pult und verschwand von Zeit zu Zeit unter dem Pult. Wir hatten keine Ahnung, was sie da unten tat. Manchmal wirkte sie dann etwas desorientiert und dann sprach sie langsamer und schwankte, wusste manchmal unsere Namen nicht. War sie krank? Jeder konnte mal einen schlechten Tag haben und sie war ja auch schon alt, aus unserer Sicht. In der zweiten Klasse,  ich glaube mich zu erinnern, dass es im ersten Semester war, kam die Frau Direktor herein und sagte, dass wir eine Zeitlang eine andere Lehrerin bekommen würden, weil Frau J. auf Kur gehe.

Dieser zweite Abschnitt der zweiten Klasse geriet zum Martyrium für mich. Die erwähnte Frau Gasparic zog bei uns ein und alles wurde anders. Der Ton war rau, wenn es nicht gleich so passte, wie sie wollte, schrie sie mit uns. Wir wurden bestraft, wenn wir was falsch machten. Mein Schulstarttrauma feierte wieder fröhliche Urstände. Meine Leistungen wurden schlechter. Im Halbjahreszeugnis hatte ich im Schönschreiben ein Genügend. Okay, meine Klaue war nicht sehr elegant, aber musste man das als so wichtig bewerten. Einige Monate lang wurden Schule zum Alptraum und meine Ängste begründet.

Als Frau J. wieder zurückkam, sah sie gut aus und wirkte frisch. Meine Noten wurden wieder besser. Aber die Angst, dass Frau Gasparic zurück kommen würde, blieb.  Als die zweite Klasse zu Ende war, bekamen wir eine neue Klassenlehrerin, die war auch nett, die Frau Oitzinger. Aber sie war nicht mehr so sanft und mütterlich und das ganze wurde schon mehr zur Schule, wie wir es seit 200 Jahre kennen. Mit Frontalunterricht, mit Diktat, mit Diziplin, mit einer Stunde nach der Anderen und mit Hausaufgaben. Ich erinnere mich, dass sie oft ein hellbraunes Kostüm trug und insgesamt lieb und nett aber auch strenger war, als Frau J.  Damit wechselten wir auch in den ersten Stock, womit wir bereits die Großen waren. Das war natürlich ein Riesenaufstieg in der sozialen Hierarchie der Schule. Die VS-Ries hatte ja nur jeweils eine Klasse in jeder Schulstufe. Die 3. und die 4. Klassen waren im ersten Stock beheimatet.

Viele Jahre später – als ich schon selbst mit diversen Substanzen in Berührung gekommen war – wurde mir klar, was das Problem der Frau J. war. Sie war Alkoholikerin. Ich traf sie in einem Grazer Schwimmbad. Sie war sehr nett, konnte sich sogar noch an mich erinnern und wir plauderten ein wenig. Aber es war sehr deutlich, dass sie am frühen Nachmittag schon ziemlich abgefüllt war und trotz der typischen Düfte, die in einem Schwimmbad umher waberten – Chlor, Frittieröl und Sonnencreme – war ihr Alkoholgeruch deutlich zu riechen. Die Kur hatte offensichtlich nichts geholfen.

Immer unter den Kleinsten

Die Turnstunde wurde bei schönem Wetter in einem quadratischen Hof, gleich neben der Schule abgehalten. Der Hof, der prinzipiell einen Grasboden hatte, der aber sehr in Mitleidenschaft gezogen war, war von einer Steinmauer, eine Gehweg aus Steinplatten und einem Zaun sowie Büschen umgrenzt, damit wir nicht auf die stark befahrene Riesstraße laufen konnten. Beim chaotischen und extensiven Fußball spielen – sie kennen das ja wenn ein Rudel Kinder dem Ball nach jagt und auf alles tritt, was sich bewegt – flog schon mal ein Ball über den Zaun auf die Straße.

Auf dem Platz, verbrachten wir auch unsere Pausen. Später, als ich einmal die Schule besuchte, da gab es sie noch als Schule, war ich überrascht wie klein das alles war. Wenn da 4. Klassen Pause hatten und 100 und mehr Kinder alle ihren Bewegungsdrang auslebten, musste es da ordentlich umgegangen sein. Im Winter oder wenn das Wetter schlecht war, wurde der Turnunterricht in die Räumlichkeiten der ersten Klasse verlegt. Der wurde zu einem Turnsaal umfunktioniert. Der war auch der größte Raum in der Schule und wenn ich mich nicht täusche, waren auch Sprossenwände an der Rückseite. Auf jeden Fall war ein roter rutschfester Plastikboden verlegt, wir sagte alle Linoleum dazu, ohne zu wissen, was das meinte.

Da die räumlichen Umstände ziemlich prekär waren, wurde einige Jahr später, ein Zubau vorgenommen, in der dann eine eigene Klasse untergebracht war, damit die ehemalige 1. Klasse zu einem richtigen Turnsaal umgebaut werden konnte. Als meine Schwester, sechs Jahre später in die gleiche Schule kam, stand der Zubau schon.

Turnen war immer auch die Größenmessung. Aus welchem Grund auch immer, musste sich die Klasse der Größe nach aufstellen. Ich war immer im letzten Viertel anzutreffen, nie der kleinste, aber auch entfernt, ins Mittelfeld aufzusteigen. Natürlich wäre ich gerne größer gewesen. Aber es wurde nicht besser, auch später nicht. 23-26 von 30 war so meine Position.

Erster, Stärkster.

Für einige Tage war ich der Stärkste der Schule, ja sie lesen richtig: In der Schule, nicht der Klasse. Das kam so. Es gab einen kleinen Platz in der Nähe der Schule, am Rande des Wäldchens, dort wo die Stufen zur Riesstraße hinauf ging, von der Stiftingtaler Seite her. Dort war damals ein Schotterhaufen aufgeschichtet. Nach der Schule trafen immer viele Schüler zusammen. Schülerinnen, auch, aber die waren nur Staffage, Publikum, die durften zusehen. Ja so war das damals, heute ist das natürlich ganz anders!

Auf jeden Fall wurden dort immer Kämpfe ausgetragen, bei dem nach einem ausgeklügelten System und genauen Regeln der stärkste Schüler ausgefochten worden ist. Es war im wesentlich etwas Ähnliches wie Ringen. Zuschlagen war verboten, mit der Faust gar, war verpönt. Man musste seinen Gegner auf jeden Fall auf die Wiese oder auf den Schotterhaufen bringen.

Eines Tages zog ich das Los gegen – ich glaube, ich war in der Dritten und natürlich viel zu klein und schmächtig, um gewinnen zu können – den regierenden Champion aus der Vierten. Er nahm den Kampf nicht ernst, ich war ja einen Kopf kleiner als er. Er stolzierte umher, plusterte sich gegenüber den Zuschauer*innen auf, hänselte mich und platsch lag er im Dreck und hatte verloren.

Kids bei der Essensausgabe zu Mittag

Maximal 2-3 Tage war ich der Hero und wurde in der ganzen Schule gefeiert. Typisches david gegen Goliath Syndrom. So denke ich mir das halt, im Rückblick. Ich war stolz und ich zeigte, man musste nicht der größte sein, um etwas zu erreichen. Dann kam der Zeitpunkt, an dem ich wieder kämpfen musste. Ich konnte ja nicht einfach so für immer Champion bleiben und nie mehr kämpfen; sondern ich musste meinen Titel verteidigen. So waren die Regeln. Es kam, wie es kommen musste, der Herausforderer, der machte den Fehler seines Vorgängers nicht mehr und unterschätzte mich. Klarerweise legte er mich aufs Kreuz. Aus, vorbei. Der Titel war weg.

Mir ginge es da wie dem Thomas Muster, der auch nur sechs Wochen Nummer 1 im Tenniszirkus war. Aber meine Fertigkeiten im Infight und mein Selbstbewußtsein waren gestärkt worden und brachten mir oft Vorteile gegenüber Größeren, was vor allem im Gymnasium wertvoll war.Mit der Oberstufe endeten aber meine Auseinandersetzungen auf körperlicher Ebene. Ich war dann später nie mehr in einen Raufhandel oder eine Prügelei verwickelt.

Samstag, Mittag – Religion

In der Schule kam ich bald drauf, dass ich anders war, als die anderen. Ich hatte nämlich einen eigenen Religionsunterricht. Ich war evangelisch getauft worden; wohl auch, weil eine der beiden Großmütter aus Vorpommern stammte. Vielleicht auch weil mein anderer Großvater im Clinch mit irgendeinem katholischen Pfarrer lag und daher die Kirche wechselte. Später hat er sich der katholischen Kirche wieder eine Zeit lang angenähert, bis er schließlich zum esoterischen Guru wurde, was er im Alter forcierte und sehr genoss. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.

Auf jeden Fall war ich evangelisch. Für „die Evangelischen“ gab es eine eigene Religionsstunde, die am Samstag nach der vierten Stunde, angehängt an den normalen Unterricht, stattfand. Wir wurden aus allen Klassen gemeinsam unterrichtet. Die Lehrerin war die Großmutter einer Klassenkollegin, der vorher erwähnten Dani, deren Eltern früh gestorben waren und die beiden Töchter bei der Oma aufwuchsen. Alles sehr tragisch, aber als Religionslehrerin war sie eine Katastrophe. Ich kann mich an nicht mehr viel erinnern. Aber ich weiß, dass mir das alles – was da erzählt wurde – völlig absurd erschienen war und ich immer Zeichnungen anfertigen musste, die irgendeine biblische Szene zeigen sollten. Zeichnen war sowieso nicht meine Stärke und zu den Geschichten fand ich keinen Zugang, sie berührten mich nicht.

Was aber das schlimmste war, mit ein paar Hanseln und Greteln in einer menschenleeren, gespenstisch stillen  Schule sitzen zu müssen, wo doch die anderen Schulkamerad* und Freund*innen bereits auf dem Heimweg waren und ihren Spaß hatten. Das traf mich und ärgerte mich maßlos, machte mich depressiv. Warum musste ich da am Samstag von 12 bis 13 Uhr Religion machen und alle anderen dürften spielen? Ich empfand das als Bestrafung; und wer weiß, vielleicht war es als solche auch gedacht. Wenn die Glocke zwei Sekunden geläutet hatte, war ich schon aus dem Klassenzimmer draußen, rannte aus dem kalten, leeren und traurigen Schulgebäude und suchte nach den letzten versprengten Schulkamerad*innen, die ich hoffte noch zu treffen. Aber meistens waren alle schon zu Hause.

Der Samstagnachmittag hatte begonnen. So trottete ich einsam und traurig nach Hause. Religion war seitdem bei mir unten durch. Evangelischen Gottesdienst am Sonntag gab es auch in der Schule. Einige wenige Mal musste ich mit meiner Mutter mitgehen. Das war noch trostloser. Am Sonntag in einer Schule zu sein, war für mich das traurigste, was es damals für mich gab. Die Pastorin spielte auf einem mit gebrachten kleinen elektrischen Klavier, Lieder. Das erinnere ich mich noch und ir saßen in der 2. Klasse. es waren vielleicht 10 Leute da. Gut, ich hatte ja noch nicht so viel Trauriges erlebt damals. Glücklicherweise erlahmte das religiöse Feuer bei meiner Mutter auch bald wieder. Sonntag in der Schule, gruselig.

Damals in den frühen 1970er waren die Geschäfte viel eingeschränkter offen und die Schule dauerte bis Samstag zu Mittag. Das erzeugte eine Situation in der Stadt, in der es bis Samstagmittag ein geschäftiges Leben gab, welches ab 12 Uhr – spätestens 13 Uhr – in einen Ruhemodus abbrach. Die Schulen leerten sich, die Geschäfte schlossen, alle fuhren nach Hause und es war somit Wochenende. Es entstand mit einem Male eine ruhige, entschleunigte, ja gelangweilte Stimmung auf den Straßen, auch weil sie oft menschenleer waren. Da konnte man auf der Stiftingtalstrasse und den Parkbuchten Radgeschicklich-keitsspiele spielen, ohne das minutenlang ein Auto vorbei kam. Man hörte die Vögel, irgendwo lief ein Radio, ganz entfernt. Es war auch kein Lärm von Kindern zu hören. Die verhielten sich auch ruhig. Meine Oma in Liebenau saß zu der Zeit immer am Küchentisch, trank ihren Kaffee und löste Rätsel. Manchmal kommt diese Stimmung heute noch auf, wenn Sommer in Graz ist und die Stadt leerer als sonst und niemand gerade etwas vorhat. Aber das ist selten.

Einmal noch bin ich zur Volksschule gegangen, mit meiner Frau, der ich das alles zeigte und ich weiß noch, dass ich dachte, wie klein das alles ist, wo sie mir doch damals als richtig große Schule vor kam. Und noch einmal einige Jahre später hatten wir ein Volksschul-Klassentreffen, das sehr nett war, weil man Menschen traf, die man danach im Leben nie mehr traf und wieder sah. Einige davon erkannte ich sofort wieder, andere wusste ich nicht mal mehr, dass ich mit denen in die Schule gegangen war. Aber da trafen wir uns in einem Lokal und nicht in der Schule. Wiederum einige Jahr später wurde die Riesschule aufgelassen, wegen zu geringer Kinderanzahl. Trotz verschiedener Protestmaßnahmen einer Bürgerinitiative, die die Schule erhalten wollte, war der Zug der Zeit abgefahren. Sie wurde 2006 geschlossen. Das Gebäude selbst stand dann einige Jahre leer und wurde dem Verfall preisgegeben, bis es irgendwann mal in ein Wohnhaus umgebaut worden ist. Von dem Schulcharakter ist nicht mehr viel vorhanden. Schüler*innen lärmen auf jeden Fall nie mehr wieder in und vor dem Haus.