Verschwundene Orte 1: Liebenauer Hauptstraße 44

Oma war klein, vielleicht 150 cm, als sie älter wurde und schrumpfte, ging sie eher auf 140 cm zu. Sie trug Tag für Tag eine geblümte Kittelschürze – so wie Omas in den 1950-80er das eben trugen. Seit ich mich an sie erinnern kann, hatte sie grau-blau meliertes Haar. Als ich bei den Großeltern lebte, waren beide noch gar nicht so alt. Mitte – Ende ihrer 40er Jahre. Jünger auf jeden Fall, als ich es jetzt bin.  Trotzdem schienen sie für mich uralt und sie sahen — bei Betrachtung alter Fotos — auch so aus; Oma und Opa mäßig eben.

Oma hatte so etwas wie einen Tick. Wenn sie arbeitete und das tat sie bis auf die „Siesta Zeit“ immer. Da saß sie dann am Küchentisch, löste Kreuzworträtsel und trank einen Kaffee. Wobei das eher Milch mit ein wenig Kaffee drinnen war und nicht selten war der Kaffee von gestern und längst abgestanden, aber das machte ihr nichts.  Sie blies immer aus dem Mundwinkel heraus eine tatsächliche oder imaginäre Haarsträhne aus der Stirn. Das war so typisch und ich habe das eigentlich von niemanden anders gesehen, bis auf Franco Foda, der Fußballtrainer – früher bei Sturm Graz, dann ÖFB Teamtrainer – der tat das auch.

Oma war Hausmeisterin in dem Mehrparteienhaus.

Sie wohnte in der ersten Wohnung des Hauses im Parterre, die einen Holzerker besaß. Später – Opa war bereits gestorben – siedelte sie in die zweite Wohnung im Parterre, gleich daneben.

Auf die Straße vorne raus, Richtung Osten war das Haus unscheinbar, einfach strukturiert. Die Fenster in jedem Stockwerk symmetrisch angeordnet. Nur ein Giebel in der Mitte unterbrach die Ordnung. Wollte man zu den Wohnungen, musste man um das Haus herumgehen. Auf der Rückseite, im Innenhof gelangte man zu einem Torbogen und ins Stiegenhaus. Da lagen dicke, breite, abgetretene Bohlen, die fasrig und brüchig waren. Für das beliebte Barfuß laufen im Sommer schlecht geeignet. Wir zogen uns immer Speile ein. Wenn man auf die Bretter stieg, knarzten die meisten. Anschleichen und die Freunde hinter einer Ecke überraschen und schrecken, ging schlecht, die Bohlen verrieten einen.

Oma mühte sich mit dem alten Wänden und Stiegen ab. Sie mussten einmal in der Woche geputzt werden. Bei normalen Wochen fiel der Unterschied nicht wirklich auf. Es sah immer abgewohnt und alt aus, auch die Wände. Manche Schlieren, Kratzer und Kerben waren nicht wegzuwaschen. Im Winter bei Schnee und Matsch war das Reinigen des Stiegenhauses eine richtige Schufterei. Denn dann war Oma jeden Tag beschäftigt. Obwohl sie unten im Parterre Vorsorge traf und für die schneematschigen Schuhe Abstreifmöglichkeiten auflegte, waren die Stufen an solchen Tagen reif für einen Putz. Den Parteien war das egal, denn die sahen ja nur die dreckigen Stiegen und regten sich auf, wenn es „aussah“; wie die Kritik verklausuliert angebracht wurde. Dann musste sich Oma rechtfertigen, dass sie eh erst heute Morgen geputzt habe. Half aber nichts, es musste wieder sauber gemacht werden.

Das Haus gehörte der Konsumgenossenschaft. Rechts im Parterre, wenn man von der Straße aus davor stand, gab es eine Konsumfiliale, mit zwei großen Auslagenscheiben und einem Eingang. Wissen Sie noch, was der Konsum war? Die größte Einzelhandelskette Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Entstanden und entwickelt aus der sozialdemokratischen Genossenschaftsbewegung! Deren Ziel war es, die Nahversorgung der österreichischen Bevölkerung sicher zu stellen. Nach einer Reihe von Expansionsschritten und Fusionen sowie fatalen Fehlentscheidungen kollabierte der „rote Riese“, wie er oft genannt wurde, 1995.

Insgesamt waren 15.000 Mitarbeiter*innen davon betroffen. Dass das einmal passieren könnte, konnte sich niemand vorstellen, war doch der Konsum mit der Bawag – der „Arbeiterbank“ – die institutionelle Stütze der Sozialdemokratie. Konsumjobs galten als so sicher wie Beamtenjobs: Denkste! Mein Vater war einer davon, der in diesem Glauben aufwuchs. Sein gesamtes Arbeitsleben war er stolz, Konsumangestellter zu sein. Bis auf die Lehrjahre, die er bei einem kleinen Greissler in der Triester Siedlung absolvierte, war er immer beim Konsum, mehr als 30 Jahre, bis zum Ende. Als er dann nach dem Konkurs zum Arbeitsamt gehen musste, wie es damals noch hieß; dort, wo er gleich ums Eck einmal eine Konsumfiliale geleitet hatte und alle vom Arbeitsamt kannte, die zu ihm „Jausen kaufen“ kamen, brach eine Welt für ihn zusammen. Aber das wäre eine andere Geschichte.

Auf der Rückseite des Geschäftes waren nach und nach eine Warenhalle, ein Aufenthaltsraum für die Bediensteten, ein Kühlraum und die LKW-Zufahrt, für die Lieferung der Waren, angebaut worden. Von oben betrachtet war das ganze L-förmig. In dem rechtwinkeligen Dreieck, das ein L fabriziert, lag der Hof. Ein abgezäunter Bereich, zuerst nur geschottert und mit ein wenig Gras ausgestattet, später betoniert; zuerst ein Holz-, später eine Betonmäuerchen mit Maschendrahtzaun und Tor. Das musste Oma abends zusperren.

Ich steckte sie mir in den Mund.

Über den Tag hinweg kamen die Lieferwagen, brachten die Waren für den Verkauf. Frühmorgens der weiße Milchwagen. Meist war ich da noch im Bett. Aber riechen konnte ich ihn schon, den unangenehmen typisch säuerlichen Milchgeruch, der dann durchs Haus zog.  Später folgte der kleine, braune Kastenwagen, der das Gepäck brachte. Auch den roch man sofort. Der ganze Wagen schien den Geruch von frisch gebackenem Brot zu verströmen. Manchmal stand er mit offenen Türen im Hof, der Fahrer erledigte den Papierkram und plauderte mit dem Filialleiter, dem Walland Karli, der im Haus im ersten Stock wohnte. Das war der Moment, an dem ich mich an den Wagen ran schlich und Brotkrümel und runter gefallenen Krusten von Semmeln aufsammelte, die auf der Ladefläche gelandet waren. Ich steckte sie mir in den Mund. Ein Genuss.

Als das Oma einmal sah, schimpfte sie mit mir. Schließlich sei das ein dreckiger Boden und was ich mir da alles holen könnte. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass die Brotkrumen dreckig waren. Nur wenn ich ein altes, schon länger liegendes, versehentlich aufnahm, kamen in mir leichte Bedenken auf. Aber ich bekam ein gutes Gespür, für die frischen, gerade erst abgefallenen Krusten.

Im Laufe des Vormittags fuhr der große LKW des Konsums vor. Er brachte Paletten voll Lebensmittel und war mit sonstigem Zeug, was so ein Konsumladen alles verkaufte, beladen. Manchmal, wenn wir im Hof spielten, bekamen wir einen kleinen Bensdorp Riegel vom Fahrer zugeworfen. Leider viel zu selten. Eine meiner Lieblingskatzen dürfte den Gerüchen der Lieferwagen auch erlegen sein und verschwand mit einem von ihnen. Das war zumindest Opas „offizielle“ Erklärung. Möge sie gestimmt haben. Denn dann hätte sie überlebt. Viele andere Katzen, die wir und die Nachbarn im Haus hatten, erlagen dem Autounfalltod, auf der damals schon stark befahrenen Liebenauer Hauptstraße.

Linker Hand des Hauses war ein kleiner Park, geschätzte 10 mal 10 Meter, mit einer wadenhohen Steinmauer eingefasst. Auf einer Seite war er abgerundet. Da führte die Einfahrt zum Hof vorbei. Hinter dem Park, auf der gegenüber liegenden Seite der Zufahrt begann das Firmengelände der Fa. Prochaska. Die hatten Getreidespeicher, einen Mais Silo und Lagerhallen auf dem Gelände. Autos, Traktoren und LKWs kamen und fuhren. Das Gebäude – anfangs noch ein alter Fabrik-Ziegelbau, der dann sukzessive  renoviert und ausgebaut wurde – stand von der Straße und dem 44er Haus aus gesehen, vertikal in 90 Grad und reichte weit nach hinten, Richtung Westen; von der Straße weg. Ein Bürotrakt und einige Wohnungen gehörten dazu. Richtung Norden, für uns Kinder war das eigentlich die Vorderseite, gab es Unterstände für Maschinen und landwirtschaftliche Geräte. Da standen Mähmaschinen, mit Messern vorne dran, Mähdrescher und -wender, Anhänger mit runden kaminartigen Aufsätzen und einem kleinen Förderband darunter. Vermutlich um das Geschnittene auf den daneben fahrenden Traktoranhänger zu werfen. Die ließen allerlei Gruselszenarien in Bezug auf Verletzungen bei uns hochkommen; abgeschnittene Füße, in die Scheren eingeklemmte Hände, Messer, die wir uns durch den Bauch rammten, und vieles mehr, was einem so einfallen konnte. Alle Familienmitglieder warnten praktisch täglich davor, dass wir dort zwischen den Maschinen nicht spielen sollten. Was uns natürlich nicht davon abhielt, genau das zu tun. Soweit ich mich erinnere, ist aber bei den Maschinen nie etwas Schlimmeres passiert; blessuren, blaue Flecken, Aufschürfungen waren normal.

Eine halbrunde Fußballarena.

Stand man vor dem Torbogen des 44er Haus, im Hof und in der Zufahrt zum Konsum, erstreckte sich dahinter ein staubig-erdiger Platz, der rechts (nördlich) und an der Rückseite (westlich) von Einfamilienhäuschen mit kleinen Gärten davor, gesäumt wurden. Links (südlich) stand das Prochaska Haus bzw. die überdachten offenen Unterstände, unterbrochen von Gebäudeteilen. Durch das Ensemble entstand so etwas wie eine längliche halbrunde Arena – unser Spiel- und Fußballplatz. Der ganze staubige Sandplatz war unser Spielplatz, der gehörte uns, für alles was wir tun wollten: Abfangen, verstecken, Fußball, Cowboy und Indianer, Radrennen, Hindernislaufen, „Voda leich ma d´ Scher´“.

In westliche Richtung dehnten wir mit zunehmenden Alter unser Revier aus und stießen bis an den Bahndamm, der das Gelände begrenzte. Da donnerte der Zug Richtung Südosten vorbei, Richtung Feldbach – Fehring. Als wir schon größer waren und ich nur mehr sporadisch bei Oma war, war das beliebte „Spiel“, die Grenze zu überschreiten, durch den Zaun hindurch und auf den Bahndamm zu klettern. Dann legten wir uns hin und warteten auf einen Zug. Die Trasse machte dort eine langgezogene Kurve, sodass die Zugführer uns eigentlich kaum sehen konnten. Wenn sie aus dem Norden vom Ostbahnhof kamen, sah man sie schon auf der Geraden, die am Liebenauer Stadion und der Eishalle vorbei führte. Die Züge kamen nicht mit Höchstgeschwindigkeit vorbei, weil es ging ja Stadtgebiet war.

Aber wenn ein Zug mit 80 Km/h vorbei braust, dann bleibt einem ein bisserl der Atem stehen. Im Laufe der Zeit wurde wir immer kühner und standen auf und pirschten uns so nahe wie nur möglich an. Bis uns ein Lokführer einmal sah und das Horn blies, was uns dermaßen erschreckte, dass wir rücklings runter sprangen und unter dem Zaun hindurch und uns im hohen Gras versteckten, mit pochendem Herzen und angstvollem Blick. Dem gefährlichen Treiben wurde ein Ende gesetzt, als uns eines Tages die Mutter vom Karli gesucht hatte und von anderen Kindern, den kleineren, auf die Spur gesetzt wurde, dass wir uns da am Bahndamm rumtrieben. Das Donnerwetter habe ich verdrängt, muss aber gewaltig gewesen sein.

Kinder gab es genug, sowohl im 44er Haus als auch in den umliegenden Häusern, die sich regelmäßig auf der Arena einfanden. Auch aus den Prochaska Wohnungen lief immer eine Schar in die Arena ein. Wenn wir Buben unter uns waren, wurde eigentlich immer Fußball gespielt. Waren die Mädchen dabei, dann ließen wir uns „halt meinetwegen“ zu irgendeinem anderen Spiel erweichen, um sie nicht vollends zu vergraulen. „Cowboy und Indianer“ war beliebt, bei allen. Wir Buben konnten dann um „die Squaws kämpfen“, sie entführen und an den Marterpfahl fesseln. Die Strommasten boten sich idealerweise an. Das fanden die Erziehungsbeauftragten nicht so toll, denn dann hatten die Mädchen Teerflecken und Holzspäne an den Blusen, Leiberln und Jacken und manchmal auch in der Haut. Aber was eine richtige Squaw sein wollte, musste auch den Marterpfahl überstehen.

Ich hatte alles, um einen richtig cooler Sheriff abzugeben  – Hut, Sheriffstern, Colt und -halfter, sogar Plastiksporen gab´s. Und trotzdem war ich immer lieber Indianer. Es gibt eine Fotografie, auf der ich im Hof vor dem Konsum in einem Indianer Dress posiere. Es bestand aus Hose und Jacke, einem braunen Wildlederimitat mit Franzen an den Armen und einen Häuptlingsschmuck am Kopf. In den Händen hielt ich ein „Gewehr“. Der große Waschküchenlöffel, den Oma benutzte, um die Kochwäsche im Steinbecken umzurühren, war umfunktioniert worden.

Der Arena Boden war hart und steinig.

In der Arena lernte ich gehen, laufen, Fußballspielen, Roller, Rad- und Auto fahren. Am Schoss vom Opa habe ich zum ersten Mal meine Runden gedreht. Ich musste lernen, mit meiner Eifersucht umzugehen, wenn die anderen ohne mich spielten, ich nicht der Mittelpunkt der Welt war und mit meinem Ehrgeiz immer der beste zu sein; was ich definitiv nicht war, auch wenn ich es mir glauben machte. Ich wurde sozial verträglich, auch wenn ich ein „Zornbinkerl“ war, wie Oma immer sagte, und mich schnell beleidigt zurück zog. Diese Charaktereigenschaften hatte ich mir wohl von Opas Familienzweig geholt.

Ich wurde seelisch und körperlich abgehärtet. Der Arena Boden war hart, steinig und staubig. Dort hinzufallen führte zu Blessuren, Schürfungen und blutenden Wunden. Wie oft das am Tag passierte, kann ich gar nicht zählen. Kaum ein Tag, wo ich nicht mit einer Abschürfung  in die Wohnung kam. Ich lernte, mich ans Dunkle zu gewöhnen, darin zu sehen und davor keine Angst zu haben, weil wir spielten solange bis uns die Erziehungsberechtigten in die Wohnungen riefen.  Manchmal war es dann schon finstere Nacht.

Die Erwachsenen ließen uns meistens in Ruhe. Nur der Harald, etwas jünger, aber groß gewachsen, aus einem Haus, am westlichen Ende der Arena,  der wurde öfter barsch nach Hause zitiert. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir jemals im Haus der „Resch“ waren. Hm, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war der ziemlich arm. Er wirkte immer geknickt, eingeschüchtert und ängstlich. Er war ein unbeholfenes Kind, konnte schlecht Fußballspielen und war auch sonst langsam und tollpatschig in allem, was wir taten. Und er durfte oft nicht raus in die Arena, obwohl wir sahen, dass er zu Hause war und hinter den Fenstervorhängen herauslugte. Er hatte aber auch etwas hinterhältiges, unterschwellig Aggressives. Meistens konnte er es kontrollieren, manchmal schoss es jedoch eruptiv aus ihm heraus. Dann stellte er einem Gegenspieler beim Vorbeilaufen einfach ein Bein oder schlug unvermutet wirklich zu, wenn er beim Cowboy und Indianer Spielen nur Schläge andeuten sollte.

Zu den Erwachsenen; manchmal schrie einer aus dem Haus, dass wir nicht so laut sein oder den Ball nicht dauernd gegen die Wand knallen oder die Autos in Ruhe lassen sollten. Nur einmal erinnere ich mich, dass mein Opa wutentbrannt, mit hochrotem Kopf in die Arena stürmte und einen Jungen – der nicht direkt aus den Arena Häusern stammte, sondern aus dem Nachbarsgarten und etwas älter als wir waren – rüde von mir wegriss und laut schreiend nach Hause schickte. Ich weiß nicht, ob mich meine Erinnerung täuscht, aber es konnte sogar sein, dass er dem Jungen eine runter gehaut hatte. Wir waren ineinander verkeilt und rauften; wie halt Buben das oft taten. Vielleicht war ich im Schwitzkasten und brüllte oder was weiß ich, was los war. Mir war der cholerische Anfall und die rüde Intervention Opas etwas peinlich.

Aber so waren die Männer in meiner Familie insgesamt, lange Zeit ziemlich herzensgute und umgängliche Genossen, ein wenig proletarisch, ein wenig derb und ungehobelt, aber die meiste Zeit friedlich. Aber wenn sie in Rage gerieten, dann ging die Post ab, dann konnte man sie mit einem Stier vergleichen. Dann war kein Halten mehr. Besonders Onkel Rudi – eigentlich war er der kleine Bruder von Opa, also mein Großonkel, war ein Heißsporn, speziell auf dem Fußballplatz. Der war nicht einmal in Raufhändel verwickelt. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Ein Koloss von Zugmaschine.

Die Fa. Prochaska hatte bei ihren Lagerhallen eine Rampe in Kinderschulterhöhe, um die Materialien leichter ein- und ausladen zu können. Davor, parallel dazu, waren im Boden Gleise eingelassen. Etwa einmal im Monat kam ein riesiger LKW, der einen langen, flachen Schlepper zog, auf dem ein gedeckter Waggon verankert war. Die Anlieferung des Waggons erzeugte Aufruhr. Der Spezial-LKW, der den Güterwaggon brachte, war selbst ein Koloss von Zugmaschine. Man hörte sein schweres, tiefes Dieselaggregat schon von weitem die Liebenauer Hauptstraße entlang kommen. Ein Zugbegleiter hüpfte vom LKW runter, winkte mit einer roten Fahne, um den entgegen kommenden Verkehr anzuhalten, damit der LKW ausscheren und einbiegen konnte.

Dann fuhr der LKW mit dem Waggon auf das Prochaska Gelände und brachte den Waggon am Beginn der Schienen an der Rampe zum Stehen. Das Kunststück war, den Waggon in die verlegten Schienen im Boden hinein gleiten zu lassen. Der Güterwaggon wurde losgezurrt und langsam runter gelassen. Der LKW hatte ein großes Zugseil an der Rückseite der Kabine, mit dem konnten sie ihn langsam über die Rampe hinunter in die eingelassenen Geleise lassen. Mittels Zugseil und Bremsklötzen rückten die Arbeiter ihn dann an die richtige Stelle.

Der Waggon stand zwei-drei Tage zum be- und entladen. Neben Maschinen wurden auch große Säcke geliefert. Vermutlich Getreide, aber es waren auch Baumaterialien dabei. Zementsäcke, Ziegel, Holz. Schließlich wurde er wieder abgeholt, das Prozedere verlief umgekehrt. Der LKW mit dem Waggon Huckepack drauf, scherte in die für ein paar Minuten gesperrte Liebenauer Hauptstraße ein und verschwand Richtung Bahnhof.

Die erste Wohnung bestand genau genommen aus zwei Zimmern, war rechteckig angelegt, ohne WC und ohne Badezimmer. Nur ein Spiegel und ein kleines Waschbecken in der „Küche“, für die kleine Wäsche, das Zähneputzen und das Rasieren von Opa. Es war ein unbequemer, nicht selten bitterkalter Gang mit dem großen WC Schlüssel über den Hof (20 Meter?) Man musste eine alte verwitterte Holztüre öffnen, dahinter zwei Stufen hochsteigen, den Schlüssel in ein altes Schloss stecken. In einem hohen, schmalen, kahlen und kalten Raum stand die Toilette. Die eisige Klobrille, die auf den Oberschenkeln anzufrieren schien, bleibt mir immer in Erinnerung. Das Geschäft so schnell wie möglich erledigen, die Kette ziehen und nichts wie raus und zurück ins Warme.

Auf die Liebenauer Hauptstraße mit zwei Fenstern ausgestattet, Richtung Osten war der eine Raum. Richtung Westen, mit einem Fenster und einem Erker, zu dem ein paar Stufen hinaufführten, der andere. Der Erker war Opas kleine Werkstatt. Links von der Tür stand ein Kastl, mit zwei Schubladen und darunter Stauraum fürs Werkzeug. Sägen, Schraubenzieher, Rohrklemmen, Franzosen, Zangen aller Art und es gab einen Schraubstock, auf dem Opa arbeitete und reparierte. Eine Holzbank, die auch gleichzeitig die Kohlen beherbergte, stand unter dem Fenster, auf der man sitzen und ich als ich noch klein war, stehen konnte, um aus dem Fenster und auf den Hof und die Arena zu schauen, um jederzeit zu wissen, was läuft.

Das vordere Zimmer, jenes Richtung Westen, war von den Großeltern unterteilt worden, in einen Wohnzimmerbereich im östlichen Teil und einer Küche im westlichen Teil. Für mich schien das normal, dass das gefühlte zwei Zimmer waren. In Wahrheit war der Raum nur durch einen Vorhang getrennt, der in etwa 2 Meter Höhe endete. Die Halterung übrigens, hat mein Opa selbst gebastelt, aus Wasserinstallationsrohren, die er an den Wänden und im Boden verankert hatte.

Es funktionierte. In meinen Kopf und wohl auch in denen der ganzen Familie waren das immer zwei Zimmer. Die waren auch dementsprechend unterschiedlich eingerichtet. Hinten stand der Fernseher, eine Couch, ein kleiner Tisch und zwei bequeme Wohnzimmersessel. Im Eck verbreitete ein Kohleofen nicht nur Gestank, sondern auch Wärme.

Der vordere Teil war die Küche mit einem Ofen/Herd, einem Küchenschrank, einem ausziehbaren Tisch, zwei Sesseln, einer Holzbank und einem Waschbecken, sowie einer Abwasch. Da wurden die Familienessen abgehalten, saß die Familie zu Weihnachten zusammen, bis drinnen im Schlafzimmer die Glocke läutete und das Christkind kam.

Farb TV für Arme.

Opa hatte schon früh auf einen „Fernseher gespitzt“ und sobald er das Geld zusammen hatte, stand ein solcher im „Wohnzimmer“. Doch bald kam die Farbe in die Bildschirme. Aber die Geräte waren noch ein bisserl zu teuer für den Opa. Also beschloss er, sich eine färbige Glasplatte zu kaufen, die vor dem Bildschirm verankert wurde. Die gab´s damals zu kaufen, als TV Zubehör. Die Glasplatte barg Farben in sich; von Blau (oben)  über rot-orange-braun Töne in der Mitte bis grün unten. Das war Farb-TV für Arme. Es sollte Farb-TV imitieren, sah aber eher komisch aus, denn nur in den seltensten Fällen passte die Farbabstufung auf der Glasplatte mit dem tatsächlichen Geschehen am Bildschirm zusammen.  Wenn einer Person etwa am unteren Bildrand im Bett lag, so war das Gesicht grün.

Das Haus hatte einen recht tief gelegenen Keller. Der Abgang – mit einer Doppeltüre ausgestattet – war neben dem breiten Torbogen und es ging steil hinunter, geschätzte 30 Stufen.  Es war ein nicht verputzter Ziegelabgang mit Bögen. Unten angekommen kamen rechts die jeweiligen Abteile der Hausparteien, die dort meist ihre Kohlen und das Holz gelagert hatten. Solange sie in dem Haus wohnte, hatte Oma immer nur Holz-Kohleöfen. Das Material dafür schleppte sie bis zum Schluss vom Keller herauf. Oft halfen ihr die Söhne, einen Vorrat rauf zu transportieren, sodass sie nicht mehr so oft gehen musste, bis wieder einer sie besuchen kam. Wobei Onkel Andi wesentlich konstanter war, der hatte einen fixen Nachmittag, an dem er sie besuchte.

Am Ende des Ganges war die Waschküche. Eine dunkle und kalte Angelegenheit – auch aufgrund des groben Beton- und Terrazzobodens und der dunklen Fliesen. Das besondere war ein großer Waschtrog, im Raum einbetoniert, der für die Wäsche diente, aber auch für das Kinderbaden geeignet war. Als ich klein war, wurde ich in einem Blechschaffel gebadet, das im Sommer auch draußen im Hof stand, in dem ich planschen konnte. Die Wäsche in dem Trog zu waschen, war ein schwerer Job. Für uns Kinder war das zwar aufregend und interessant, aber Oma schöpfte den ganzen Tag und war am Abend erledigt, es tat ihr alles weh. Dann kam auch mein „Indianer Gewehr“ zu seinem eigentlichen Einsatz und verwandelte sich in einem großen Waschlöffel, mit dem heiße Wäsche im Trog umgerührt wurde.

Dass ich bei den Großeltern meine ersten sechs Jahre verbrachte, erschien mir so normal, dass ich keinerlei Gedanken verschwendete, dass es anders sein könnte. Dienstagnachmittag verpackte mich der Opa und brachte mich zur Mama. Er holte sie vom Frisiersalon in der Innenstadt ab und brachte uns beide ins Stiftingtal. Mama hatte nämlich am Mittwoch ihren freien Tag; nicht wie man annehmen möchte den Montag, an denen der Legende nach alle Frisiersalons geschlossen hielten. Bei meinen Eltern blieb ich bis Mittwochabend, dann holte mich Opa wieder. Dasselbe spielte sich Samstagmittag ab. 

An ein Ereignis kann ich mich erinnern, wenn es nicht überhaupt eine meiner frühesten Erinnerungen ist. Mama sollte mit Opa im Auto kommen und ich wartete, hatte meinen Posten im Erker auf der Bank bezogen. Ich war schon ungeduldig. Da bog ein Auto ein, hatte eine ähnliche Farbe wie Opas Auto und ich war überzeugt, dass sie das wären sie. Das Auto blieb im Hof stehen. Eine Frau stieg aus; ich los, runter von der Bank, die Tür aufgerissen, die paar Stiegen hinunter und auf die Frau los und ihr in die Arme. Und da erst bemerkte ich, dass es weder Opa mit seinem Auto noch Mutter war, die ich inniglich umarmt hatte. Die Scham brachte mich zum Weinen, sie sagte irgendetwas Nettes zu mir, aber da war schon alles passiert. Ich lief zurück in die Wohnung und versteckte mich im Bett.

Du, der Karli hat jetzt seine Karin geheiratet.

Ich hatte zwei Freunde im Haus, die etwa 2 Jahre älter waren, als ich. Den Peter und den Karli. Im Nachhinein betrachtet, waren die beiden eigentlich sehr nett, denn  sie waren sozusagen moralisch verpflichtet worden, mit mir zu spielen – der guten Nachbarschaft der Erwachsenen willen – und auf mich aufzupassen, obwohl 2 Jahre in dem Alter wirklich viel sind. Aber sie bemühten sich sehr und wir wurden auch wirklich Freunde.

Das war auch der Impuls für mich, ihnen möglichst bald und schnell ebenbürtig zu sein und ihnen nicht zur Last zu fallen. Ich konnte bald Roller fahren, Radfahren, spielte Fußball mit und war einer von den aufgeweckten, den Wilden; wohl um zu kompensieren, dass ich schmal und klein und 2 Jahre jünger war. Als ich dann aus der Schule draußen war und die Besuche bei der Oma immer seltener und sporadischer wurden, verlief sich die Freundschaft mit den Beiden auch. Klar, sie heirateten, gründeten eigene Familien, zogen weg. Oma war immer die Überbringerin der neuesten Nachrichten – „…Ja mei, du der Karli hat jetzt seine Karin geheiratet…“ – und der lieben Grüße, die man sich gegenseitig schickte.

Am Vorabend des 26. Oktobers musste Onkel Andi kommen, der Bruder meines Vaters, um mit Oma auf den Dachboden zu gehen und die große Rot-Weiß-Rote Fahne auszupacken und sie an einer langen runden Holzstange zu befestigen und durch einen Ausguck an der Vorderseite des Hauses rauszuhängen. Damit das Haus ordentlich beflaggt war, für den Nationalfeiertag. Das war immer der Tag, an dem ich auf den Dachboden kam und mit Staunen den Staub, den Duft, die schmalen Lichtstreifen durch die Ziegel und die Sachen, die da oben rum lagen, zu bestaunen.

Opa war einer von der Sorte „richtig zum lieb haben und knuddeln Opa“. Er spielte mit mir, war lustig, immer zu einem Streich aufgelegt, ließ mit sich ganz viel anstellen und brachte oft etwas mit, wenn er heimkam; entweder ein Stück von der Arbeit oder was zum Naschen oder spielen. Opa schenkte mir meinen ersten Teddy, da war ich 1 Jahr alt, er fast gleich groß, wie ich. Als ich ins Spital wegen eines Leistenbruches musste, bekam ich eine Ritterburg, als ich das überstanden hatte und brav war. Der Teddy sitzt heute noch bei mir im Schlafzimmer. Dass Ritter, Cowboys, Autorennfahrer und Indianer wild durcheinander um die Vorherrschaft auf der Burg kämpften und dass dies historisch und geografisch nicht ganz zusammen passte, wurde mir erst später klar. Hinderte mich aber nicht daran, einfach so weiter zu machen und es schön zu finden.

Opa war Installateur bei der Fa. Brandl und die verschiedenen Rohre, mit denen er zu tun hatte, faszinierten mich, vor allem die Verbindungsstücke, mit denen die Rohre zusammengesteckt wurden, das Fett, mit denen er die Gewinde einschmierte und der Hanf, der um das Gewinde gewickelt wurde. Es war daher nicht verwunderlich, dass ich bald mehr mit dem Schraubstock, der im Erker stand, spielte und „arbeitete“ als er. Ich spannte Rohre ein, sägte und schliff, fettete ein und steckte zusammen. Mein liebstes Spiel war, dass die Oma bei der Fa. Brandl anrufenmusste, weil in der Wohnung was kaputt war. Es musste dringend ein Installateur kommen. Ich kam und reparierte den Schaden. Dass ich in die Fußstapfen von Opa treten und Installateur werden würde, war damals für die Familie völlig klar. Doch mit Schulbeginn ließ das Interesse nach. Es kam dann ganz anders.

Und so waren meine ersten Jahre sehr okay. Dass ich die meiste Zeit bei Oma und Opa lebte, war für mich ganz normal, dass wir nicht reich waren und die Eltern und Großeltern beide hart arbeiteten, hinterfragte ich nicht. Die ganze Gegend rund um mich herum, war nicht reich.

Oma sprach ein wenig anders.

… und das fiel mir als kleiner Bub natürlich überhaupt nicht auf. Erst später, als ich in die Schule ging. Sie schrieb in Kurrent, die alte Schreibschrift im deutschen Sprachraum. Das war ja damals in den 1960er bei den älteren Menschen durchaus nicht unüblich. Als Kind und Halbwüchsiger konnte ich Kurrent lesen, nicht rasend schnell aber doch, so dass ich Briefe, die sie an ihre Schwester in Freiburg schrieb oder Postkarten, die sie von dort bekam, entziffern konnte. Oma konnte auch die lateinische Schrift, aber man merkte ihr an, dass sie die erst später, als Erwachsene erlernt hatte. So flüssig ging ihr das nicht von der Hand. Aber Oma hatte auch spezielle Begriffe und Satzkonstellationen, die ich nur bei ihr hörte. Es war eindeutig Deutsch, aber in Graz eben unüblich. Zum Beispiel sagte sie, wenn sich ein Unwetter zusammenbraute, „wird a Wetter kemman“.

Später als ich größer wurde, löste sich das Rätsel auf. Ich erfuhr, dass Oma aus Ostpreußen-Vorpommern, aus dem Gebiet um Stettin, kam. Damals in den 1930er Jahren gehörte das zum deutschen Staatsgebiet, heute liegt das in Polen. Wie es sie hier nach Graz verschlagen hatte, war gar nicht so leicht rauszukriegen und es war keine lustige Geschichte. Alles begann Ende 1940 – Anfang 1941, mitten im Krieg. Opa war freigestellt, wegen wirtschaftlicher Interessen der Firma. Er war auf Montage nach Norden geschickt worden und da er kein Kind von Traurigkeit war, wie ich später nach und nach heraus fand, hat er meine spätere Oma, die ein junges, hübsches Mädel war, im Zug einfach angequatscht oder angebraten, wie wir heute sagen würden.

Offensichtlich hat er ihr auch gefallen. Auf jeden Fall haben sie sich wieder getroffen. Naja und wie es so ist, haben sie ein „Pantscherl“ angefangen und prompt hat es – salopp gesagt – eingeschlagen. Mein Vater reifte in Omas Bauch. Oma arbeitete auf einem großen Gut in der Nähe von Stettin in einem Nest namens Barminslow, als Arbeiterin, Haushaltshilfe oder Magd – so etwas in der Art. Ostpreußen und Vorpommern wurde später von den Russen eingenommen und die deutsche Bevölkerung musste nach Ende des Krieges verschwinden.  Im Zuge des Zusammenbruches des deutschen Reiches zerriss es auch die Familie. Ihre Schwester und deren Mann flüchteten nach Schleßwig-Holstein. Ein Bruder von ihr war nach Wittenberge gezogen. Dass war ja dann bald DDR. Zwei sind – meiner Erinnerung nach – im Krieg gefallen. Eine Schwester landete in Freiburg im Breisgau. Mit der hatte sie zeitweise Kontakt, die habe ich sogar kennengelernt.

Als die Montage-Zeit zu Ende ging, brachte er das schwangere Mädel mit nach Graz. Die war aber todunglücklich, kannte keine Menschenseele hier und war häufig allein. Den Zwischentönen zu entnehmen, war mein Opa auch nicht unbedingt ein Familienmensch und war häufig lieber unterwegs, als zu Hause bei einer Schwangeren zu sitzen. Mein Vater wurde in Graz geboren. Aber deswegen wurde es nicht besser. Oma litt an Heimweg, packte schließlich ihre Sachen und das Kind und fuhr zurück nach Barminslow, zu ihrer Mutter. Dass kam meinem Opa nicht ganz ungelegen. Das mit Familie und Kind war nicht seins. Da machte ihm aber seine Mutter – meine Urgroßoma – einen Strich durch die Rechnung und las ihm die Leviten. Es gab Rabatz. Sie machte ihm die Hölle heiß und drängte ihn, zu seinem Kind zu stehen und die beiden nach Graz zu holen.

Er fuhr ihr wohl oder übel nach und holte sie wieder nach Graz. So, jetzt saß die Oma, mit dem kleinen Joachim in Graz in dem 44er Haus und war noch immer einsam und todunglücklich. Die Uroma war zwar bemüht, aber die wohnte nicht dort und musste selbst arbeiten und schließlich war Krieg und 1942 wurde es immer prekärer.

Zusammen im Luftschutzbunker.

Die einzigen, mit denen sie Kontakt hatte, waren die Nachbarn. 1943 kam ein zweites Kind, der Onkel Andi. Danach musste Opa einrücken. Er wurde nach Jugoslawien beordert. Nachdem der Krieg in eine neue Phase eingetreten war und paranoide Durchhalteparolen den anfängliche Siegesrausch ablösten, wurde das alltägliche Leben immer anstrengender. Der erste Bombenangriff auf Graz fand bereits 1941 statt. Richtig los ging es aber ab 1944. Graz war eines der meist bombardierten Ziele Österreichs. Also fand sich Oma mit ihren zwei kleinen Buben, häufig mit den anderen Frauen zusammen im Luftschutzbunker. Sie standen gemeinsam Ängste aus und halfen sich gegenseitig. Das war zwar furchtbar, aber es schweißte die Frauengemeinschaft zusammen. Das Haus wurde glücklicherweise nie direkt getroffen. Nach dem Krieg zerrte Oma von dieser Gemeinschaft und bekam später, nachdem sie zuvor in der Brauerei Puntigam als Arbeiterin tätig war, den Hausmeisterposten im 44er Haus.

Opa kam mit dem Rückzug und dem Zusammenbruch der Südfront der Heimat immer näher. Die offizielle Version lautete, dass er in Celje in Slowenien von der Truppe desertiert sei, mit einigen Kameraden gemeinsam und sie sich zu Fuß nach Graz durchschlugen. Opa war die letzten Tage vor der Kapitulation bereits in Graz und wurde als U-Boot versteckt. Man erwartete sehnsüchtig das Ende des Krieges.

Eines Tages Anfang Mai 1945 verdichteten sich die Gerüchte, dass die Front bereits ganz nah war. Es war ein Wettrennen zwischen den Russen, aus dem Osten, den Tito-Partisanen aus dem Süden und den Engländern aus dem Westen. Plötzlich – eines Tages – standen russische Kampftruppen im Hof. Oma sagt immer, dass sie so gehofft hatten, dass die Engländer als erstes kommen würden. Aber es war die Russen. Grimmig dreinschauende und ihre Waffen im Anschlag haltende, verdreckte und erschöpfte ehemals junge Gesichter, schauten sie misstrauisch an. Das war kämpfende Truppe, die schon alles hinter sich hatten und zu allem bereit waren.

Die ersten Stunden waren sehr angespannt, die Frauen kamen aus den Luftschutzbunkern mit den Kindern und rotteten sich zusammen. Die Russen durchkämmten jedes Haus, jede Wohnung und die Keller. Opa fanden sie nicht. Man hatte von den Russen schreckliches gehört, was die alles tun würden, wenn sie als erstes kommen und schlimme Rache nehmen würden. Aber zumindest in dem Hof des 44er Hauses geschah nichts, abgesehen von ein paar Unfreundlichkeiten und Handgreiflichkeiten. Nach ein paar Tagen kamen Nachschubtruppen, das war keine kämpfenden mehr, das war für die Verwaltungsaufgaben ausgebildetes Personal. Es begann sich zu normalisieren, Opa tauchte irgendwann auf, wurde kontrolliert und überprüft und durfte sich dann frei bewegen. Nach ein paar Wochen rückten die Engländer in Graz ein und übernahmen die Verwaltung. Der Wahnsinn hatte ein Ende. Was blieb, war die materielle und soziale Not, von der ethischen und moralischen mal abgesehen.

Meine Eltern waren sehr jung, als ich unterwegs war.

Das war Anfang der 1960er. Ich war der Grund, warum sie heirateten. Ein Foto von der Trauung in der Kirche zeigte meine Mutter Ende Jänner und man sah kaum einen Bauch. Ich kam Anfang Mai bereits auf die Welt. Der Liaison gingen einige Dramen voraus. Als die Eltern meiner Mutter von der Beziehung erfuhren, wurde sie von meinem anderen Opa windelweich geprügelt. Als er erfuhr, dass sie schwanger war, warf er sie aus der Wohnung. Sie stand buchstäblich auf der Straße. Sie zogen in die Liebenauer Hauptstraße. Mama erzählte, wie sie aus der Innenstadt – die anderen Großeltern wohnten in der Kaiserfeldgasse – mit dem Leiterwagen nach Liebenau schlichen. Da in der Wohnung zu wenig Platz war, schließlich wohnte auch Andi – der  jüngere Bruder – noch zu Hause, bezogen sie notbehelfsmäßig eine Souterrainkammer, die eigentlich ein Heizungsraum war, in dem die Heizungsrohre verliefen.

Papa war gerade erst von seinem Militärdienst abgerüstet und bekam glücklicherweise bald danach eine Anstellung beim Konsum. Mama war Friseurin und begann bald nach meiner Geburt beim Frisiersalon Dietmar zu arbeiten. Das war auch dringend notwendig, denn die junge Familie konnte nicht länger dort bleiben. Es musste eine Wohnung her. Das Glück fügte sich, mein Vater wurde als Konsummitarbeiter in die Stiftingtalstraße geschickt. Dort gab es eine kleine Filiale. Glücklicherweise gab es im gleichen Haus darüber auch eine Wohnung. Und so kamen meine Eltern ins Stiftingtal. Und ich blieb in Liebenau, bis ich in die Schule kam.

Als Opa relativ früh starb, Ende der 1970er – er wurde nur knapp 60 Jahre – war Oma wieder alleine. Sie machte die Hausmeisterei weiter, zog irgendwann einmal in die Nebenwohnung, im Parterre des Hauses, die nur unwesentlich anders war. Zwei relativ große Zimmer, eine Küche, ein Wohn-Schlafzimmer. Der Vorteil war nur, dass ein Klo und Bad in der Wohnung waren. Sie hausmeisterte solange, bis sie das auch nicht mehr schaffte. Die Besitzer des Hauses wechselten auch. Es gehörte nunmehr der Fa. Prochaska. Und die waren so nett und boten der Oma eine neue, kleinere Wohnung in einem der neuen Häuser am südlich-westlichen Rand der Arena an.

Als sie aus dem 44er Haus auszog, war ihr ums Herz schwer, sie hatte ihren großen Teil des Lebens darin verbracht, ihre Söhne und Enkeln aufgezogen, gute wie schlechte Zeiten erlebt und doch war es – schweren Herzens und erst nach einiger Zeit – ihre Heimat geworden. In der neuen Wohnung bliebt sie, bis sie am Ende ihres Lebens glaubte, in einem Altersheim glücklicher zu werden und nicht so alleine zu sein, was sich als fataler Fehler erwies. Als sie diesen einsah, war es zu spät. Es gab kein Zurück mehr. Nach etwas mehr als einem Jahr starb sie. Sie war im 86. Jahr.

Die Fa. Prochaska zog sich vom Standort zurück, verkaufte nach und nach die Gebäude und Liegenschaften an eine Automobilverkaufsfirma. Anfangs war die ehemals alte Konsumfiliale noch der Schauraum für die neusten Automodelle. Dann wurde der Schauraum auf der ganzen Front des Hauses ausgebaut und schließlich wurde das 44er Haus einfach dem Erdboden gleich gemacht. Das musste Oma aber glücklicherweise nicht mehr erleben. Heute erinnert nichts mehr daran. Weder das Haus, noch der Park noch das Prochaska Haus, noch die Arena gibt es noch. Das alles sind Autoverkaufsplätze und Schauräume. Ich wüsste heute nicht mal mehr, wo die Wohnung von Oma gewesen hätte sein können.