Gesundheit hat Bleiberecht
Hg. Eva Rasky
Gesundheit und Migration
Festschrift der Marienabmulanz, 2009
Ich möchte meinen Beitrag mit einem Gleichnis beginnen, das ich anlässlich einer Konferenz – erzählt von Manuel Carballo[1] – hörte. Er sprach über die Titanic und nahm sie als Metapher für die meisten europäischen Gesundheitssysteme und deren Umgang mit armen Menschen.
Die Titanic, die ja bekanntlich bei ihrer Jungfernfahrt durch eine Kollision mit einem Eisberg unterging, wurde in der damaligen Öffentlichkeit als Luxusdampfer der Sonderklasse verkauft. Exklusivität und Noblesse wurden gepriesen – für die oberen Zehntausend. Man tat alles, um den 1st Class Passagieren gerecht zu werden.
Die Realität sah jedoch anders aus – wie so oft stimmte Anspruch und Wirklichkeit nicht überein. In Wahrheit führte die Titanic bei ihrer verhängnisvollen Jungfernfahrt nur einen kleinen Teil Luxuspassagiere mit sich (329 von 2.208), die Mehrheit waren 2. Klasse (272) und vor allem 3. Klasse Passagiere (710), der große Rest war Mannschaft. Was die Titanic Parabel mit dem Thema Gesundheit, medizinische Grundversorgung und Armut zu tun hat, wird deutlich, wenn man sich die Opferzahlen der Titanic ansieht.
Da tritt nämlich zu Tage, dass die 3. Klasse Passagiere deutlich weniger Chancen hatten, den Untergang zu überleben, als die 1. Klasse. Wurden von den 329 1. Klasse Passagieren immerhin ca. 60% gerettet, so starben in der zweiten Klasse schon mehr als die Hälfte (56%). Dramatisch wurde es in der dritten Klasse. Denn über 75% (536 von 710) starben beim Untergang. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass nur die Mannschaft der Titanic (897) noch schlechter dran war, denn von ihnen starben nicht weniger als 685, also 76 %.
Die Titanic war ein ganz normales Passagierschiff. Das wissen die wenigsten. Viele Auswanderer in die USA hatten eine Passage gebucht. Die 3. Klassetickets konnte man sich leisten, das billigste Ticket kostete damals $ 34.
Warum stehen die Chancen für die billigen Karten schlechter?
Die schiffsinternen Verbindungen zwischen den Klassen waren durch verriegelbare Barrieren unterbrochen. Die 3. Klasse Passagiere keinen wurde der Zugang zu den Decks verwehrt. Dafür gab es einen volksgesundheitlichen Grund. Die amerikanischen Behörden wollten verhindern, dass durch die Einwanderer Krankheiten eingeschleppt wurden, somit war die 3. Klasse unter Quarantäne. Nach Berichten von Überlebenden blieben einige dieser Übergänge auch während des Untergangs geschlossen.
Als die Passagiere der unteren Decks mit bekamen, was vor sich ging, mussten sie erst mühsam die Barrieren über Außentreppen überwinden. Ein weiterer Grund war, dass die dritte Klasse nicht oder schlecht informiert worden war. Während der überwiegende Teil der Mannschaft mit der Rettung der ersten Klasse beschäftigt war, gab es im unteren Teil kein Alarmsystem und zuwenig Mannschaft. Da außerdem viele der Auswanderer nur schlecht Englisch sprachen, lag es auch an der fehlenden Verständigung, um zu verstehen, was tatsächlich vor sich ging.
Als die 3. Klasse Passagiere – viel zu spät – an Deck kamen, waren die meisten Rettungsboote bereits weg. Die 1.Klasse Passagiere hatten die meisten Boote bereits in Beschlag genommen. Laut Augenzeugenberichten waren viele davon nur halbvoll. Bis die 3. Klasse vom drohenden Unglück erfuhr, war es für die meisten schon zu spät.
Gesundheit, wie sie in der Ottawa Charta[2] definiert wurde, ist kein abstraktes Menschenrecht und eine in die Zukunft gerichtete Zielformulierung, sondern ein Tag für Tag erlebbarer Prozess der Aus- und Eingliederung, der Gestaltung von Rahmenbedingungen und der sozioökonomischen Umwelt, in der wir gesund bleiben oder gesund werden können oder eben nicht. Die Chancen dafür stehen für manche besser, für viele schlechter. Das „System Titanic“ war für die Luxuspassagiere gedacht und konstruiert, nicht jedoch für die Auswanderer tief unten im Rumpf des Schiffes – und nicht weil man es nicht konnte, sondern weil man es nicht wollte.
Die dritte Klasse auf unserem „Luxus – Gesundheitsdampfer“ ist prall gefüllt, die Barrieren sind – wie bei der Titanic – hochgezogen, die Ressourcen sind gering, die Verständigung funktioniert schlecht. Und das, obwohl riesige Geldmengen eingesetzt werden.
Das österreichische System – zumindest in der tertiären Prävention und in der kurativen, medizinischen Versorgung schneidet in diversen weltweiten Vergleichen immer wieder gut bis sehr gut ab. Noch nie rollte ein so breiter Gesundheits- und Wellness Boom in den europäischen Staaten über die Menschen hinweg, der Lebensstiländerung groß schreibt. Doch mit jedem Werbebild und jedem Sujet der Anbieter und Versicherer wird klar: Hier geht es nicht um die, die Gesundheit am dringendsten bräuchten, die aufgrund der Umweltbedingungen und ihrer eigenen Ressourcen am ehesten in Gefahr sind, unter zu gehen. Hier geht es um den Mittelstand, um den Bildungsbürger und um die 1. Klasse am Dampfer, um in dem Bild noch kurz zu bleiben.
Wie stark das Titanic Phänomen auf unseren Alltag wirkt, wird deutlich, wenn wir MigrantInnen dabei unterstützen, ihr Menschenrecht auf Gesundheit durchzusetzen. Wenn wir Menschen dabei begleiten, sich durch den Dschungel der Institutionen zu kämpfen und eine adäquate Behandlung zu bekommen, sichern wir – so meist die bittere Erkenntnis – weniger den Weg zur Gesundheit, als vielmehr die Verhinderung und/oder Verschlechterung der Krankheit.
Also sind die meisten der nicht medizinischen, institutionalisierten Sozial- und Gesundheitseinrichtungen mit der Grundversorgung beschäftigt, mit dem Schließen von Lücken des Systems, mit dem Stopfen von Löchern im sozialen Netz[3], mit der Versorgung der Menschen mit dem Allernotwendigsten.
Wir würden so gerne dem Prinzip eines salutogenetischen[4] Weltbildes – also der Vermehrung von Gesundheit, der Stärkung der eigenen Ressourcen – folgen. Wir würden so gerne helfen, die Prinzipien der Ottawa Definition umzusetzen und Gesundheitsförderungsprogramme entwickeln. Wir bemühen uns ständig, eine gesunde Umwelt für Menschen zu schaffen, die Überlebende von politischer Gewalt sind und die aus dieser Überlebensstärke heraus, ihr Leben als im Exil Lebende neu entwickeln und sichern müssen.
Einer der Leitsätze ZEBRAs ist es, an den Ressourcen der Menschen anzusetzen, sie nicht zu Opfern und Bittstellern zu machen. Wenn Menschen für ihre Belange selbst eintreten, dann sind sie meist am erfolgreichsten, wenn sie sich das Selbstvertrauen und die Ressourcen erkämpfen können, dass sich nicht nur im jeweiligen Einzelfall etwas verändert, sondern auch an Strukturen, an den Barrieren, an der Verteilung der Ressourcen. Um beim Bild der Titanic zu bleiben würde das bedeuten, dass die Decks für die 3. Klasse ebenso begehbar wären, dass die Barrieren wegfielen und es stünden auch mehr Mannschaft für die Betreuung zur Verfügung.
Und so entstanden in den 1990er Schulungen für MigrantInnen. Diese wurden zu Peers ausgebildet, zu MultiplikatorInnen gemacht, KulturdolmetscherInnen-Curricula wurden entwickelt, DolmetscherInnen im medizinischen Bereich eingesetzt, u.v.m.
Doch je mehr wir Menschen unterstützten, ihre eigenen Ressourcen zu entwickeln und weiter zu bilden und zu schulen und ihnen Möglichkeiten für Beschäftigung [5] boten, desto deutlicher wurde auch, dass das trotz allem nicht den gewünschten Effekt im System erzielt. All jene, die mit den MigrantenkollegInnen arbeiten durften, bemerkten rasch die Sinnhaftigkeit und den Nutzen für die konkrete Arbeit. Doch sobald die Projektgelder, die spärlich genug waren, nicht mehr flossen, war es mit der Beschäftigung vorbei. Das System – die Politik, die Verwaltung, die Kliniken nutzten die Leistungen gerne, solange es für sie nichts oder wenig kostete und alles seinen gewohnten Gang nehmen konnte. Sobald aber die Verantwortung für eine strukturelle Veränderung gefragt war, herrschte Stille: „Leider, aber dafür haben wir kein Geld.“
Neben der Empowerment Strategie, leitet uns eine zweite Stoßrichtung. Integration wird ja – etwas vereinfacht – als wechselseitige Beziehung zwischen Integrierendem und dem System, in das Menschen integriert werden sollen, definiert. Nun, wenn MigrantInnen bereit sind, für diese Gesellschaft etwas zu tun, obwohl es ihnen alles andere als leicht gemacht wird, dann sollte doch das System, die Verwaltung, die Politik auch etwas dafür leisten, dass es leichter wird, dass der Prozess in Gang kommt.
Daher haben wir uns aufgemacht, unsere Expertise, unser Wissen unsere Erfahrung Institutionen und Organisationen anzubieten. Analyse, Coaching, Begleitung anzubieten um beim Abbau der Schranken und Barrieren, bei der strukturellen Umgestaltung, bei den konkreten Lösungen von Problemen im Alltag, die sich aus der gesellschaftlichen Entwicklung einer vielfältiger gewordenen Bevölkerung ergeben, mitzuhelfen.
Und dabei geht es nicht nur um konkrete Lösungen – wie etwa das Kommunikationsproblem im Alltag von Krankenhäusern – sondern vor allem um eine Änderung einer Geisteshaltung. Die nichts anderes wäre, als eine Gesundheitspolitik, wie sie in den Menschenrechten, der WHO und in vielen anderen Dokumenten der demokratischen Welt zu finden ist und die den erforschten und am Tisch liegenden Fakten gerecht wird. Diese besagen, dass Gesundheit viel nachhaltiger erzielt wird, wenn die sozialen, ökonomischen und bildungspolitischen Rahmenbedingungen für benachteiligte Gruppen verbessert werden – also ein sehr umfassender Ansatz. Das heißt für die Realität, dass konkrete Strukturen verändert werden müssen, dass die Leitlinien für die Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, neu erstellt werden müssen. Da stehen konkrete Auseinandersetzungen bevor, da geht es auch um Interessensgegensätze. Es muss in den großen Einrichtungen dieses Landes darüber diskutiert werden, wie die Mittel für die Gesundheit für Alle eingesetzt werden und nicht für die Krankheitsverhinderung. Es muss diskutiert werden, wie die Zukunft aussehen soll, ob die Fakten und das Wissen über die Zusammenhänge zwischen Gesundheit des Individuums und Strukturen und Verhältnisse der Gesellschaft auch zu Veränderungen führen. Das Wohlbefinden von uns allen definiert sich vorrangig nicht durch die medizinische Versorgung, sondern durch die sozioökonomische Stellung und durch die gesellschaftliche Akzeptanz.
Richard Wilkinson[6] ist wohl einer der herausragendsten Wissenschaftler, der durch seine Forschungsergebnisse glaubhaft nachweisen kann, dass Respekt, Anerkennung, soziale Netzwerke und möglichst geringe Einkommensunterschiede die besten und nachhaltigsten Auswirkungen auf die Verbesserung der Gesundheit haben. Eine der sozioökonomischen Erkenntnisse aus den Wilkinson Thesen ist also, dass nicht die Armut bzw. der Reichtum generell und alleine ausschlaggebend für Gesundheit sind, sondern das Gefälle innerhalb der Gesellschaft entscheidend ist. Je stärker die Unterschiede desto größer die Krankheitsgefährdung für jene, die unten stehen, die unter Deck leben müssen..
Und nicht alles der Gesundheitsungleichheiten lässt sich nur mit dem Arm-Reich Verhältnis erklärt. Weitere – psychosoziale Aspekte sind mit zu berücksichtigen. Wilkinson meinte selbst, dass er überrascht gewesen sein, als deutlich wurde, dass etwa Respekt, Freundschaft und die soziale Anerkennung insgesamt wesentliche Faktoren schafft. Weitere Untersuchungen bestätigten ihn darin, dass Dominanz und Subordination wichtige Faktoren sind. Je stärker etwa in der Arbeitswelt Menschen von Unterordnung, Fremdbestimmung und Kontrolle dominiert werden und ihren Arbeitsalltag nicht selbst bestimmen können und/oder wenig soziale Netzwerke besitzen, desto stärker ist ihre Krankheitsgefährdung.
Betrachten wir unter diesem Aspekt die gesellschaftliche Situation von MigrantInnen und von anderen benachteiligten Gruppen, so müssen wir feststellen, dass alles darauf hin steuert, dass wir es zulassen, dass Menschen gezielt krank gemacht werden. Ein soziales Wohlfahrtssystem versagt auf der ganzen Linie. Nicht nur in den Konzepten, auch in der Strategie und im konkreten Alltag. Die erste Klasse wird mit Yoga Kurse und Wellness Buffets versorgt, während die unter Deck, nicht einmal als Menschen registriert werden.
Einige wenige kämpfen um eine medizinische Grundversorgung. In ganz Österreich gibt es engagierte MedizinerInnen und Mitglieder anderer Gesundheitsberufe, die mehr oder weniger ehrenamtlich kostenlose Versorgung anbieten – in Wien ist etwa Amber, in Graz die Marienambulanz zu erwähnen. Sie alle leisten großes, Tag für Tag. Doch es kann nur das Nötigste getan werden, um es nicht in Katastrophen enden zu lassen, um den hilfesuchenden Menschen wenigstens das Mindestmaß an Würde und Hoffnung zu geben.
Krankheit kann manchmal damit abgefangen werden, es kann verhindert werden, dass es schlimmer wird, oft wird auch geheilt. Doch, kann es das sein, was wir uns für unsere Gesellschaft wünschen?
Das Thema betrifft eben nicht nur MigrantInnen, Flüchtlinge und Folteropfer. Sie sind in dieser Kette sicherlich die objektiv und subjektiv schwächsten Glieder. Vielmehr betrifft es aber auch eine immer größer werdende Anzahl von Menschen, die nicht nur durch das Aufenthaltsdokument oder den Reisepass stigmatisiert sind, sondern die auch Opfer des Systems/der Systeme werden und nicht mehr funktionieren, wie von ihnen erwartet wird. Und dass dies so ist, sollte uns allen zu denken geben.
MigrantInnen sind benachteiligt, darüber länger zu diskutieren, ist unnötige Zeitverschwendung, die Fakten sind erdrückend. Sozial-ökonomisch ist die große Mehrheit der in Österreich lebenden MigrantInnen im unteren Einkommenssegment beheimatet und das nicht erst seit wenigen Jahren sondern seit dem es Zuwanderung – sprich die Gastarbeiterbewegung nach Österreich, beginnend in den frühen 60er Jahre – gibt. Das Stigma Migration wird in Österreich nicht nur durch die fehlenden Aufstiegschancen verfestigt sondern auch vererbt. Die unseligen Debatten über die Jugendlichen der zweiten Generation sollten uns Mahnung genug sein. Das liegt an der Arbeitsmarktpolitik, an der Bildungspolitik aber insbesondere auch an der Gesundheitspolitik.
Die wohlfahrtsstaatlichen Systeme, die sich in West-, Nord- und Mitteleuropa entwickelt haben, sind eindeutig zu bevorzugen. Je mehr Ausgleich, Umverteilung und soziale Sicherungssysteme vorhanden sind, desto mehr gelingt der Weg hin zur Gesundheit. Österreich war in dieser Hinsicht weltweit verglichen, durchaus auf einem guten Weg. Das letzte Jahrzehnt hat jedoch auch hier der Vorstellung zu Durchbruch geholfen, dass die Deregulierung und Ökonomisierung im Gesundheitssystem notwendig sei. Gerade die aktuellen Entwicklungen und die Finanzierungsfragen bei den Gesundheitssystemen sollten uns wieder gewahr werden lassen, dass der Dampfer auf dem wir gebucht haben, nicht nur für einige wenige oben im Ballsaal gedacht ist.
[1] Manuel Carballo ist Direktor des internationalen Zentrums für Migration und Gesundheit (ICMH) in Vernier. Den Vortrag hielt er anlässlich der 5. Internationalen Konferenz des Netzwerkes über Gesundheit in der Stadt (ICUH) in Amsterdam, 25.-28.Oktober 2006
[2] Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1986): Gesundheit ist dann gegeben, wenn eine Person konstruktiv Sozialbeziehungen aufbauen kann, sozial integriert ist, die eigene Lebensgestaltung an die wechselhaften Belastungen des Lebensumfeldes anpassen kann, dabei individuelle Selbstbestimmung sichern und den Einklang mit den genetischen, physiologischen und körperlichen Möglichkeiten herstellen kann.
[3] Auf das Bild, das in dieser Floskel bemüht wird, möchte ich extra hinweisen.
[4] Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky, geb. 1923 in New York, gest. 1994 in Israel. Geht der Frage nach, wie Menschen trotz großer Belastungen gesund bleiben (Konzept der Gesundheitsentstehung).
[5] ZEBRA führte mehrere Kurse und Schulungen durch, die alle zum Ziel hatten, MigrantInnen in unterschiedlichen Funktionen als ExpertInnen im Sozial und Gesundheitssystem einzusetzen, als „MulitplikatorInnen, als DolmetscherInnen oder als KulturvermittlerInnen.
[6] Richard Wilkinson, Professor an der Abteilung für Soziale Epidemiologie und Public Health an der Universität in Nottingham (GB). Die zitierten Themen referierte er anlässlich eines Vortrages bei der Zebra - Tagung „Migration kann ihre Gesundheit gefährden“ am 25. Juni 2004 in Graz.