Serie: Allen was gemeinsam, Teil 4: „Tut mir leid, so sind die Regeln!“

Foto: Nicht jede Behöre ist so prachtvoll ausgestattet, wie dieses Postamt in Bischkek.

Im vierten Teil der Serie „Allen was gemeinsam“ wird eine kleine, typische Alltagsszene erzählt. Darin geht es um den Umgang zwischen einer Mitarbeiterin einer Behörde[1] und einer Kundin. Sie ist frei erfunden, könnte sich jedoch genau so abgespielt haben. Ähnlichkeiten mit realen Szenen, sind erwünscht und intendiert.


„Tut mir leid, so sind die Regeln!“                               

Es ist 10:30 Uhr: Ein Schalter eines Sozialversicherungsträgers in Österreich, vor denen Menschen warten, um Krankenstandsmeldungen, Arztbestätigungen und vieles andere mehr abzugeben. Vor dem ersten Schalter stehen drei Personen, die zweite in der Reihe ist eine kleine, ältere, gut gekleidete Dame mit Stock und einer Handtasche. Die Frau vor ihr ist fertig, sie kommt an die Reihe. Sie kramt in ihrer Handtasche, findet die Papiere, die sie abgeben will und legt sie der Mitarbeiterin auf die freie Fläche am Pult den Stock hat lehnt sie an die Wand. Die alte Frau sagt etwas zur Mitarbeiterin. Die reagiert darauf nicht, sieht sich die Papiere an, tippt in den PC, schaut einige Zeit auf den Bildschirm und fragt die Dame etwas. Sie versteht es offensichtlich nicht. Die Mitarbeiterin wiederholt es, etwas lauter. Sie versteht wieder nicht. Die alte Dame reckt sich nach vorne und hält ihr das – offensichtlich besser hörende Ohr – hin. Die Mitarbeiterin wiederholt, so dass es alle Umstehenden gut hören können.

„Ich brauche die zweite Bestätigung auch.“ Die Mitarbeiterin nimmt eine Bestätigung und zeigt auf den Zettel.

„Jaja, die Bestätigung vom Arzt!“ Die Frau nickt und deutet hin auf den Zettel.

„Ja, ich brauche die Bestätigung auch vom anderen Arzt, der sie geschickt hat?“

Die alte Dame zuckt mit den Schultern.

„Also, sie waren bei zwei Ärzten.“ Die Mitarbeiterin steht auf, damit sie näher bei der Frau ist, bemüht sich das aufzuklären, was sie braucht. Sie orchestriert ihre Worte jeweils mit Gesten.

„Nein, ich war nur bei diesem.“ Gibt die alte Dame selbstsicher zurück.

„Nein, nein sie waren zuerst bei einem anderen Arzt.“ Sie zeigt auf die vor ihr liegende Bestätigung.

„Hier, sehen sie, steht es. Dr. M. Allgemeinmediziner.“ Die alte Dame beugt sich vor und schaut auf die Bestätigung.

„Der hat sie geschickt.“

„Das kann ich nicht lesen. Warten Sie, ich hol´ meine Brille.“ Sie beginnt langsam und bedächtig, ihre Tasche zu öffnen und das Brillenetui zu suchen. Die Mitarbeiterin ist ungeduldig. Die Schlange vor ihrem Schalter hat sich mittlerweile um zwei Wartende verlängert. Auch bei den Wartenden macht sich Unruhe breit.

Sie hat das Etui gefunden, nimmt die Brillen raus, setzt sie auf und liest dann die Bestätigung. Alles mit langsamen, zittrigen Bewegungen.

„Ach so? Hmm, daran kann ich mich nicht erinnern.“

„Diese Bestätigung brauch´ ich aber.“

„Ja aber, den hab´ ich nicht mit. Ich weiß gar nicht, ob ich den Zettel überhaupt noch hab´.“

„Ja, tut mir leid, aber den brauch´ ich.“

„Könnens das nicht auch ohne machen? Für eine alte Frau, machens a Ausnahm´.“

„Tut mir leid, wir haben unsere Voschriften, das darf ich nicht. Und im Internet steht eh alles, was wir für die Bearbeitung brauchen, da hätten sie das nachlesen können.“

„Aber gute Frau, ich hab doch kein Inter oder wie das heisst!“

„Aha, also …ja dann …“. Sie überlegt.

„Auf jeden Fall müssen sie, wenn sie die erste Bestätigung nicht mehr haben, zum ersten Arzt gehen und sich die Bestätigung nochmal ausstellen lassen.“

Damit war der Fall für die Mitarbeiterin eigentlich abgeschlossen. Sie sieht schon die ganze Zeit ungeduldig auf die Uhr, die schräg gegenüber ihres Schalter hängt. Sie sammelt die Unterlagen der Dame zusammen und streckt sie ihr entgegen.

Die alte Dame ist sichtlich verzweifelt, nimmt die Papiere nur mit Zögern an und startet einen letzten Versuch.

„Gehn´s, können nicht sie da anrufen… bei dem Doktor. Den kenn ich gar nicht.“

„Nein, tut mir leid, das darf ich nicht. Sehen sie eh, es warten schon viele Leute.“

„Aha…aha.“ Sie sieht sich kurz die Wartenden hinter ihr an. „Mein Gott, …und jetzt muss ich das alles nochmal machen.“ Schaut verzweifelt auf. „..Bin eh schon so schwer zu Fuß.“

Der Mitarbeiterin ist das sichtlich auch peinlich. Sie zuckt mit den Achseln.

„Es tut mir leid, ich kann da nix machen.“ Sie deutet mit der Hand den nächsten Klienten zu sich. Die alte Dame greift zu ihrem Stock, den sie verfehlt und der daraufhin mit einem Knall auf den Fließenboden fällt. Sie sieht verzweifelt auf den Stock. Der Mann hinter ihr, hilft ihr und hebt ihr den Stock auf.

„Danke junger Mann, sehr nett. Danke.“

Sie ergreift den Stock und schlurft mit zitternden, unsicheren Schritten aus dem Gebäude.

Die Moralen von der Geschichte:

  1. Regeln sollten sich an die Menschen anpassen und nicht die Menschen den Regeln unterworfen werden. Je starrer, enger sie sind, desto hinderlicher und diskriminierender werden sie.
  2. Zeitlimits (wieviel Minuten hat der/die Mitarbeiter_in pro Klient_in zur Verfügung) suggerieren Effizienz, führen jedoch nur dazu, dass große Gruppen von Kund_innen nicht adäquat beraten und betreut werden und noch viel mehr Zeit aufgewendet werden muss.
  3. In vielen öffentlichen Einrichtungen gibt es einen imaginären „Normklienten“, auf dessen Bedürfnisse, Kenntnisse und Umstände Rücksicht genommen wird. Alle, die außerhalb dieser Norm stehen bzw. diese nicht erfüllen können (Frauen, – mit Kindern, ältere, behinderte Menschen, Migrant_innen u.v.w.) werden mit diesem dahinter liegenden Gedankensystem systematisch benachteiligt.
  4. Die Einrichtung muss vordringlich handeln und nicht mit Mitarbeiter_innenschulung, sondern mit Umstrukturierungen und neuen Regeln.

[1] Im vorliegenden Fall, ein nicht näher genannter Sozialversicherungsträger