Stiftingtalstrasse 163

Die Schreibkraft 22 unter dem Titel : „Zahlen bitte“ ist Ende Feburar 2012 erschienen, mit einem Beitrag von mir unter dem Titel „Stiftingtalstrasse 163„.

Eine Zwischendurchvermessung meines Lebens

Mein Mathematiklehrer – einer im weißen Kittel – hat mein Interesse radikal abgetötet. Als ich jung war, faszinierten mich Zahlen nämlich sehr. Genau genommen war ich ein Zahlenfetischist. Wer mich heute kennt, würde das nicht glauben. Aber damals, vor, in und unmittelbar nach der Pubertät, war die Anziehungskraft der Zahlen fast magisch, möchte ich sagen. Aber wie gesagt, der Mathematiklehrer hat es geschafft, dass sich das nicht in gute Noten umsetzen ließ … aber lassen wir das.

1968
Ich bin am 4. 5. geboren. Ich wuchs bei meinen Großeltern in der Liebenauer Hauptstraße 44 auf. Meine Eltern mussten beide arbeiten, sonst hätte das Geld nicht gereicht. Erst als ich in die Schule kam, zog ich zu meinen Eltern, die im Stiftingtal wohnten; Nummer 163, gleich neben einer kleinen Kapelle, die heute noch einen furchtbaren Kirchenglockenklang hat. Das Stiftingtal liegt im zehnten Grazer Bezirk. In Wien hat das allerdings mehr Bedeutung, wenn man das sagt; etwa so wie Esther mir unlängst gestand: „Ich bin im Elften aufgewachsen.“

Aus meiner Wochenendelternbeziehung wurde nach sechs Jahren eine dauerhafte. Der eigentliche Grund war, dass ich eine Schwester bekam und meine Mutter in Karenz ging. Da konnte ich dann auch gleich dazukommen. Meine Schwester fühlte sich bemüßigt, just an meinem zweiten Schultag zur Welt zu kommen. Gleich nach dem ersten Tag, als wir von der Schule nach Hause kamen und ich gerade beschlossen hatte, nie mehr dorthin – also in die Schule – zu gehen, fingen die Wehen bei Mutter an. Sie wurde noch am Abend ins Krankenhaus eingeliefert.

Damit fing der Pallawatsch an. Die nächsten Tage mussten organisiert werden. Ich sollte ja in die Schule, was aus meiner Sicht gar nicht so dringend gewesen wäre. Aber sie wollten es unbedingt so. Also hatten sie alle zusammen ein logistisches Problem. Die Mutter bekam ein Kind, der Vater musste extra frei nehmen, um mich in der Früh in die Schule zu bringen, und ich blieb bereits am zweiten Tag allein in der Klasse. Die anderen Kinder hatten alle ihre Mütter dabei. Aber vielleicht hatte das auch was Gutes? Und schließlich sollte mich mein Opa holen und zur Oma nach Liebenau bringen.

Als der zweite Schultag aus war, kam ich raus und … kein Opa da. Ich, sechsjähriger Knopf, stand also da und wartete, und als alle Kinder abgeholt waren und ich allein am Rande der Straße, am Zaum des Schulhofes übrig geblieben war, konnte ich nicht anders. Ich begann leise zu weinen. Es dürften nur zehn Minuten gewesen sein, vielleicht auch weniger. Opa hatte sich durch den starken Verkehr ein wenig verspätet; nichts Schlimmes also. Aber die Szene blieb in Erinnerung: Schule machte einsam, war pfui, und schuld an allem Übel war eigentlich meine Schwester.

Man schrieb das Jahr 1968, und ich gab dem – allerdings später – eine Bedeutung; sozusagen rückbezüglich, denn als Sechsjähriger hatte ich natürlich überhaupt keinen Plan davon, was ablief. Aber hinterher schon und so beschloss ich, etwa mit 13 bis 14 Jahren, dass diese Jahreszahl wichtig für mich werden sollte. Meine Schwester vermasselte mir den Schulstart, Paris brannte und in Berlin wurden Studenten erschossen. In San Francisco gab es Sit-Ins, und Woodstock würde demnächst als Höhepunkt der Hippiebewegung in die Geschichte eingehen, und die Mondlandung, die war auch. Das sah ich als Fügung, als Zeichen, dass ausgerechnet 1968 alles zusammenlief und mit meinem Schuleintritt zusammenfiel.

Zuerst versuchte ich, mich älter zu machen und mich als 1968er auszugeben. Das ging schief, ich war einfach zu jung. In der Zeit fand ich Jesus Christ Superstar und den Film zum Musical Hair ganz toll; ich war sehr berührt. Der Hippiebewegung wurde ich schnell überdrüssig. Sie kam mir kindisch vor, mit ihren Blumen im Haar und ihrer Drogenverherrlichung. Die waren ja überhaupt nicht politisch und das wollte ich unbedingt sein.

Mit den politischen 1968ern konnte ich zuerst eher was anfangen, so schwer sie auch zu verstehen waren. Doch je mehr ich von ihnen zu lesen bekam, desto mehr empfand ich sie als doktrinär und totalitär. Ich erinnere mich noch, als ich zum ersten Mal eine Rudi-Dutschke-Rede hörte. Ich bekam eine Gänsehaut, nicht aus Ergriffenheit, sondern aus Furcht. Er erinnerte mich an einen Diktator und ich dachte mir: „Bin ich froh, dass der nicht eine Position innehat, in der er etwas zu entscheiden hat.“

Die kleine totalitäre Ausgabe hatte ich ja zu Hause sitzen, in der Form eines unnahbaren, mit der Elternschaft und der Erziehung von Kindern heillos überforderten und überaus cholerisch veranlagten Vaters. Also unähnlich waren sie sich dann leider nicht, aber das ist jetzt eher psychologisierend und ein anderes Thema. Denn ich darf nicht ungerecht sein. Die 1968er gaben wichtige Anstöße für die Gesellschaft und führten gesellschaftliche Kämpfe – mit der Elterngeneration –, die zuvor in dieser Form nicht geführt wurden.

14
1974 tauchte eine neue Zahl an meinem kleinen Horizont auf. Ein Fußball-Gott war für unsere Generation geboren. Der Holländer Johan Cruyff. Er trug die Nummer 14, und die holländische Nationalmannschaft spielte einen anderen Fußball, als wir ihn bisher gekannt hatten. Ab sofort wollte ich bei allen Fußballspielen und in allen Teams nicht nur das Trikot mit der Nummer 14 tragen, sondern auch so spielen wie Johan Cruyff. Dass der auch zehn andere in der Mannschaft brauchte, um so spielen zu können, wie er es tat, war mir damals nicht bewusst.

In der Turnstunde brachte mir dieses Nacheifern eines Idols erhebliche Schwierigkeiten ein. Turnen war ja das einzige, worin ich relativ gut war, sofern es nicht um Barren, Reck und Ringe ging, da hatte ich Teilleistungsschwächen. Mich interessierten alle Formen des Ballspiels, auch wenn Sitzfußball echt ätzend und erniedrigend war. Aber in meiner „14er“-Glanzzeit war ich sehr verspielt und im Vergleich zu den anderen technisch gut, vor allem wenn es um das Spiel mit den beiden Füßen ging. Der Köck, mein Turnlehrer, förderte das und ließ uns oft Fußball spielen.

Wir waren ja noch eine Bubenschule, also griff das „Mädchen wollen nicht immer nur Fußball spielen“-Argument nicht so recht. So spielten wir eines Tages in einer Turnstunde am großen Feld, direkt gegenüber der Schule. An diesem Tag waren wir leider nur eine ungerade Zahl an Spielern. Also spielte der Turnlehrer so halb – als Lehrer, Schiedsrichter und Verteidiger in Personalunion – bei der anderen Mannschaft mit. Ich strengte mich, im jugendlichen Übermut, gegen ihn besonders an. Zuerst überspielte ich ihn mehrmals, weil er ja auch nicht wirklich spielte, sondern nur halbherzig herumstand. Das ging noch. Als Höhepunkt schob ich ihm aber ein „Gurkerl“ oder einen „Beinschuss“, wie die bundesdeutschen SportkollegInnen nüchtern und etwas irreführend zu sagen pflegen, überdribbelte den Tormann und schoss ein – von meiner Mannschaft viel umjubeltes – Tor. Da war es dann aus; mit der Freude und der Bewunderung. Das Spiel war sofort beendet, ich wurde vom Köck – sinngemäß – als „eigensinniger Lausbengel“ bezeichnet und die letzten zwei Monate war Turnen kein Honiglecken mehr, weil wir wirklich turnten: Also Ringe, Barren, Reck, Zirkeltraining, Leichtathletik und Medizinbälle. Ich bekam auch nur einen 3er und die anderen brandmarkten mich als den Schuldigen.

Meine Fußballerkarriere verlief ganz anders, als ich es mir damals vorstellte, und blieb im Hobbybereich stecken. Aus den Barfuß-Kicks „2 gegen 2“ im Garten der Stiftingtaler Freunde wurden Fußballerrunden auf dem Platz in der Grazer Sandgasse und vereinzelte Turniere, mehr nicht. Der Spitzname „Gullit“ – nach dem holländischen Rechtsaußen Ruud Gullit – deutete zwar ein bestimmtes Talent an, mehr aber auch nicht. Die Nummer 14 verblasste langsam, aber sicher; andere Dinge wurden immer wichtiger.

23
Die Schulferien schienen endlos lange, heiß und langweilig. Das war ein schönes Gefühl. Im Sommer liefen wir nahezu die ganze Zeit barfuß umher, kickten im Garten der Freunde, sprangen in den kleinen Pool, den sie hatten, und hingen auf der Wiese einfach rum. Wir hatten auch ein Radgeschicklichkeitsspiel entwickelt, in dem wir auf einem abgegrenzten, vorher vereinbarten Feld – meist ein kleiner Vorplatz und Teile der Straße – gegeneinander antraten und derjenige, der absteigen musste, weil er eben nicht weiter und nicht ausweichen konnte, verlor. Berühren war dabei verboten. Wir spielten das auf fünf gewonnene.

Sonst saßen wir oft am Rand der Straße, zählten Autos, rochen das frisch gemähte Heu von den Wiesen und steckten unsere Zehen in den heißen Teer, der am Asphalt weich wurde; blieben bei Gewitter einfach sitzen und ließen uns bis auf die Haut durchnässen, sogen den Geruch von Regen auf heißem Asphalt ein und erzählten uns absurde Fantasiegeschichten. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht mehr weiß, trat die Zahl 23 in mein Leben; eine Primzahl. Vermutlich hat es mit meiner – unserer –  mystischen Phase zu tun. 23 ist die Zahl der Illuminaten, für all jene, denen das etwas sagt.

In den Sommernächten im Juli und August saßen wir oft, meist schon in Decken gehüllt, auf der Terrasse des Hauses der Nachbarskinder und sahen uns den Sternenhimmel an. Das Stiftingtal ist ja in Wahrheit ein kaltes Tal. Es war dort immer einige Grad kühler als in der Stadt. Auch der Schnee hielt sich immer länger. Nicht umsonst gab es einen Teil des Stiftingtals, der von den Einheimischen Sibirien genannt wurde.

Wir saßen nächtelang draußen, hatten einen steifen Nacken vom Himmelgucken, fantasierten und philosophierten vor uns hin. Die Unendlichkeit war ein häufiges Thema, ebenso wie die Frage nach dem Sinn und einem anderen Leben. Nicht nur auf der Erde, sondern auch im Universum. Für uns war völlig klar, dass es andere Existenzen auf anderen Planeten – irgendwo da draußen in der unendlichen Weite – gibt.

Wir beschlossen, uns auf die Ankunft der UFOs vorzubereiten. Es konnte ja nur mehr eine Frage der Zeit sein. Ich trug – sicher zwei Jahre lange – immer einen Zettel in der Hosentasche, den ich fallen lassen wollte, wenn es soweit war. Auf dem stand, dass der Finder des Zettels diesen bitte meinem Freund überbringen sollte. Neben der Adresse meines Freundes stand die Zahl 23. Damit wäre für ihn klar gewesen, dass ich von einem UFO entführt worden war.

Nachdem aber nichts passierte, obwohl wir uns allerhand einredeten, als wir da so in den Nachthimmel blickten, ließ unser Elan nach und wieder wurden andere Dinge wichtiger. Irgendwann hatte ich einfach keinen Zettel mehr eingesteckt.

23 blieb zwar noch einige Zeit erhalten, aber verblasste – obwohl ich allerlei Konnexe herzustellen versuchte. So wollte ich eine zeitlang unbedingt eine 23jährige Freundin finden. Ich war so beseelt von der Idee, dass ich schließlich mit der älteren Schwester einer Schulkollegin im Schwimmbad beim Flaschendrehen rumschmusen und ein bisserl grapschen durfte. Sie war immerhin schon 19, aber dennoch von 23 weit entfernt.

Eines Nachts saßen wir zusammen und berechneten, wie viel wir bisher in unserem noch kurzen Leben schon gegessen und getrunken hatten und stellten die einzelnen Bestandteile in den verschiedenen Räumen imaginär zusammen: Also 12 Schweine standen im Schlafzimmer der Eltern. 10 Kühe und 140 Hühner wurden ins Wohnzimmer verfrachtet, die 4.000 Liter Milch haben wir in der Abstellkammer untergebracht und mit dem Wein und dem Bier füllten wir den Toilettenraum.

5 vor 12
Ich hatte ein eigenes, abgetrenntes Zimmer im Haus, in dem meine Eltern wohnten, bekommen, und ich war mittlerweile politisiert. Die aufkeimende Friedensbewegung, die Ökobewegung, die Anti-AKW-Bewegung, all das berührte mein noch junges Leben. Gespannt saßen wir eines Abends vor dem Radio und hörten eine Dokumentation über den kommunistischen Widerstandskämpfer Richard Zach, der in Graz lebte und einen Unfall vortäuschte, um vor der Wehrmacht zu desertieren. Er wurde später verhaftet und 1943 in Berlin hingerichtet. Während seiner Zeit in Haft schrieb er Gedichte, die seine Freundin herausschmuggelte und die erhalten geblieben sind. Die Schilderung, wie er sich selbst das Schienbein brach, schockierte mich.

Anstatt für Prüfungen zu lernen, diskutierten wir Liedertexte, hörten Platten wieder und wieder und lasen Gedichte und versuchten uns selbst daran. Wir schafften einige Lesungen in Ateliers und Jugendzentren. Wir malten uns unser Leben aus und träumten von der Zukunft. Dabei hatten wir zum Teil abstruse Vorstellungen. Zum Beispiel wollten wir etwas weiter draußen im Stiftingtal einen verfallenen Bauernhof kaufen oder pachten und dort in einer Art Landkommune leben, uns selbst versorgen und aussteigen. Wir „verkopften Stadteier“ hatten ja nicht die geringste Ahnung davon, was das wirklich bedeutet hätte.

Eine Idee, die ich aber endlich umsetzte, war die eines Lokals. Ich hatte das Gefühl, jetzt müsse endlich mal was aus meinem Kopf, ins Leben hinaus und umgesetzt werden. Ich funktionierte kurzerhand mein Zimmer in ein Lokal um und nannte es 5 vor 12. Natürlich war es kein offizielles. Kürzlich habe ich beim Kramen in Schubladen, in denen ich altes Zeugs aufbewahre, noch eine Speisekarte gefunden, mit einem marmorierten Kartoneinband, von einem Freund sehr kunst- und liebevoll gestaltet. Neben Tee, Kaffee, Wasser, Wein und Bier gab es im 5 vor 12 auch Wurstbrote und verschiedene Arten von Toasts, mit denen ich mich im Bekanntenkreis sehr beliebt machte.

Hauptattraktion und Publikumsmagnet war das sonntägliche Hören der 5 vor 12 Hitparade, die mit Publikumsbeteiligung zustande kam. Die 5 vor 12-Besucher und mittlerweile auch einige Besucherinnen – mein Bekanntenkreis erweiterte sich langsam um weibliche Wesen – konnten für ihren Lieblingshit stimmen und am Sonntagnachmittag, ganz wie das echte Vorbild, nur viel besser natürlich, wurde dann die aktuelle Hitparade abgespielt. Ich bin mir sicher, dass ich heute noch irgendwo die Statistiken und Rankings mit Diagrammen der einzelnen Songs habe.

Das 5 vor 12 bestand nur aus einem Zimmer, das etwa 12 Quadratmeter groß war und im Erdgeschoss lag. Aber an manchen Sonntagen waren schon an die 14-15 BesucherInnen da. Teilweise standen und saßen sie einfach draußen vor dem Fenster und tranken ihre Vanille-Darjeeling-Mischung vom Teehaus Heissenberger am Hauptplatz, die sehr beliebt war. Ich hatte mit dem 5 vor 12 den Puls meines Bekanntenkreises für eine bestimmte Zeit getroffen.

Als dann immer mehr Affären und Beziehungen das Publikum des 5 vor 12 erschütterten, der gemeinsame Treffpunkt nicht mehr so erstrebenswert war – „du, wenn der da ist, komme ich nicht vorbei“ –  und ich als Wirt immer mehr Dreh- und Angelpunkt all der Gespräche wurde und vor lauter „Beziehungskisten“, die zu regeln, diskutieren und analysieren waren, selbst mit meinen Liebeskümmereien auf der Strecke blieb, ging das 5 vor 12 langsam, aber sicher den Bach hinunter. Dem Niedergang in Unwürden kam ich durch reguläre Auflösung und würdevolles Zusperren zuvor. Immerhin hatte ich mein Zimmer wieder für mich und schlief nicht mehr im „Lokal“.

 Nachwort: 2011
Heute spielen Zahlen praktisch keine Rolle mehr in meinem Leben. Man wird ja rationaler und weiß um die absurden Mystifikationen, die man selber vorantreibt, besser Bescheid. Nach 23 Jahren Arbeit mit und in einer Organisation schied ich am 30. 10. 2010 aus. Obwohl es für uns nur ein formeller Akt war und wir dem keine emotionale Bedeutung zumaßen, heiratete ich meine Lebensgefährtin zufällig am 8. 9. 2010 nach 21 Jahren Beziehung. Hätte nur gefehlt, dass wir um 11 Uhr den Termin bekommen hätten, aber so hatten wir 12 Uhr gewählt.