Spiel mit dem Leben Anderer, Teil 2, Kapitel 7

Und jetzt?

Mit dem vorliegenden siebten Teil sind wir nunmehr im Jetzt angekommen. Dafür habe ich mir vorgenommen, die jüngsten Entwicklungen zu bearbeiten, mit dem Fokus auf Österreich und die EU-Staaten. Die weitere, größere Dimension der internationalen, globalen Verflechtungen und Beziehungen, Abhängigkeiten und Auswirkungen auf Migrationsbewegungen werden in einem anderen Teil der Serie ausführlicher behandelt.

Allen EU-Staaten sind einige Merkmale gemeinsam. Jene hoch- und postindustriellen Gesellschaften bearbeiten alledie gleichen Phänomene; die demografische Entwicklung, die sozialen Sicherungssysteme, der Arbeitskräftemangel. Zuwanderungs- und Migrationspolitik ist dabei ein Feld, das in all diese anderen gesellschaftlichen Felder mit eine Rolle spielt und hineinwirkt.

Festzuhalten ist, dass es gerade in diesem Feld der Politik keine linearen Fortschritte gibt. Es ist immer wieder ein Auf und Ab, ein Vor und Zurück. Tatsache ist, es gibt kein gemeinsames Staatsziel im Angelegenheiten der Migration in Österreich. Die Frage, wie sich Österreich seine Zukunft vorstellt, die bestehenden Herausforderungen zu bearbeiten gedenkt und wie wir mit Zuwanderung und Migration umgehen wollen, bleibt unbeantwortet.

Ein idealer Zustand für rechtsextreme Organisationen, um mit ihrem archaischen, demokratiefeindlichen und auf Ausschluß gerichteten Gesellschaftsbildern punkten zu können. Ein augenscheinliches Bekenntnis zu einem heterogenen, vielfältigen, multisprachlichen und -religiösen Österreich fehlt. Auch liberale oder linksgerichtete Gruppen und Parteien konnten diese Lücke bisher nicht füllen.

Die zarten Pflänzchen, die es in den 2010er Jahren mit Leitbildern und Chartas, wie etwa den NAP-I (Nationalen Aktionsplan Integration), ein Versuch der Bundesregierung (siehe österreichische Bundesregierung, 2011) oder diverse Chartas, etwa in der Steiermark oder Wien beschlossen (siehe Land Steiermark, 2011), gab, sind eher verdorrt, bzw. nicht winterfest gewesen.

Die nackten Zahlen sprechen hingegen eine immer deutlichere Sprache. Je länger die europäischen Staaten warten, diese Entscheidungen hinaus zu schieben, aus Angst vor rechtsextremen Widerständen, aus Angst vor dem Boulevard, aus Angst Wählerstimmen zu verlieren, desto kleiner werden die Alternativen. Das Absurde daran, die Bevölkerung Österreichs und vieler anderer europäischer Staaten werden automatisch immer durchmischter, vielsprachiger und heterogener. Was auch immer rechtschauvinistischen, – extremen Strömungen dagegen unternehmen versuchen (siehe auch Expertenrat für Integration 2022, Seite 13-16). Und jene Staaten, die eine strammen Antimigrationskurs fahren, wie etwa Ungarn, bekommen immer größere demografische und finanzielle Probleme.

Jene ideologischen „Anti-Migrations“-Positionen stellen trotz aller vermeintlicher öffentlicher Dominanz und Hegemonie über die öffentlichen Debatte, eine Bewegung dar, die sich immer stärker in der Minderheit befindet; und obwohl Umfragen andere Situationsbilder suggerieren, so stehen die Fakten dagegen. Der Anteil der Menschen, die entweder nicht in Österreich oder deren Eltern oder ein Elternteil nicht in Österreich geboren sind, wird beständig größer[1].

Und das ist wohl auch einer der größten Widersprüche in der Debatte. Denn daran haben auch konservative und repressive Koalitionen (ÖVP, FPÖ) in den letzten Jahrzehnten nichts geändert. Wohl auch ein Phänomen von Politik insgesamt, Sein und Schein klaffen oft sehr weit auseinander.

„Laut Pfeifen im Wald“

Aus demografischer Sicht und für den Entwicklungsstandort Österreich wäre alles andere auch besorgniserregend. Der Staat Österreich und damit auch das gesellschaftliche System des Sozialstaates (Unfall-, Kranken-, Arbeitslosenversicherung, Pensionsversicherung, Familienlastenausgleich usw.) konnte bisher nur aufrecht erhalten werden, weil Migration die Kluft zwischen Jungen und Alten, zwischen Erwerbstätigen und Pensionist*innen gedämpft hat.

Ansonsten hätte der Anstieg im Verhältnis zwischen den Generationen und am Arbeitsmarkt schon viel früher zu dramatischen Folgen geführt. Wäre die Migration ausgeblieben, wäre unser Sozialsystem und der Arbeitsmarkt bereits längst an die Wand gefahren (siehe Gächter 2012).

Auch dass der Arbeitskräftemangel immer deutlicher, ja dramatisch wird, ist nicht zu übersehen. Hier herrscht gerade in Österreich eine „Verschärfungswut“, die der etwas einfältigen Idee entstammt, man müsse Arbeitskräfte in offene Stellen zwingen, dann würde sich das Problem des Arbeitskräftemangels lösen. Das stellt sich nachweislich und durch zahlreichen Studien bestätigt, als Irrtum dar (siehe Gächter 2008).

Aufgrund der bestehenden Partikularinteressen der verschiedenenen Akteur*innen und der ideologischen Scheuklappen kommen wir in der Politik immer wieder auf die gleichen Rezepte zurück. Pech daran ist nur, dass die noch nie funktioniert haben, bzw. im Gegenteil die gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen noch verschärfen.

Das Naheliegende wird dabei nicht über die Lippen gebracht. Hingegen wird von „Anreize schaffen“, um die Geburtenrate zu erhöhen, gesprochen. Eine Lieblingsaussage der Rechts-rechten Strömungen. Dies war etwa das chauvinistisch-konservative Konzept der ungarischen Orban Regierung, die im Jahre 2019 großmächtig verkündet wurde. Dass dies eine Erfolgsformel sei, wird zwar von der ungarischen Propaganda verbreitet, ist aber, betrachtet man die Fakten, mehr als zu bezweifeln.

Man könnte das auch als „Laut im Wald pfeifen“ vor lauter Angst bezeichnen. Insbesondere an der angespannten Lage am Arbeitsmarkt hat sich auch in Ungarn nicht wesentlich etwas geändert und die Maßnahmen hatten vor allem eine Umverteilung zu den Reichen zur Folge wie der MDR[2] unlängst enthüllte[3].


[1] https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bevoelkerung/migration-und-einbuergerung/migrationshintergrund

[2] Mitteldeutscher Rundfunk

[3] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/ungarn-familienpolitik-immobilien-102.html

„Alter Wein in neuen Schläuchen“

Ähnliches hört man im Jahr 2023 auch von der italienischen Rechtsaußen-Regierung unter Giorgia Meloni[4], die von einer rassistischen Rhetorik ihres Landwirtschaftsministers Francesco Lollobrigida[5] begleitet wurde. Auch Meloni möchte die Geburtenrate gerne steigern. Lollobrigida sprach von Umvolkung und einem Austausch italienischer gegen Migrantenkinder. Doch die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache, noch nie war die Geburtenrate in Italien so niedrig. Italiens Bevölkerung sinkt und das seit Jahren[6].

Lollobrigida müsste man ins Stammbuch schreiben, dass Italien dringend Zuwanderung bräuchte, denn selbst, wenn es in den nächsten Jahren zu einer Steigerung der Geburtenraten in Italien käme, würde das immer drängender Problem des vergreisten Italiens nur zu einem kleinen Teil gelöst werden und selbst das erst in Jahrzehnten. Der Bedarf an Altenpflege- und Gesundheitspersonal steigt indes parrallel dazu. Weit und breit sind Arbeitskräfte dafür inneritalienisch nicht zu finden. Das gilt für Österreich ja auch.

Meloni gibt sich in ihren jüngsten Aussagen auch frauenfreundlich und forderte eine höhere Beschäftigungsquote für Frauen. Tatsächlich ist der Anteil der Frauen viel zu gering, nur etwa jede zweite Frau stehe in einem Beruf, obwohl die Frauen in Italien mehr sind und auch besser ausgebildet[7].

Wie das gleichzeitig mit der Steigerung der Geburtsquoten zusammen gehen soll, diese Frage bleibt letztlich unbeantwortet und wie der Arbeitskräftemangel ohne Zuwanderung kompensiert werden soll, angesichts der immer dramatischeren Zahlen, ebenso.

Neu ist das alles nicht. Seit vielen Jahren sind die Themen Arbeitskräftemangel, geringe Geburtenraten, Sicherung der Sozial-, Gesundheits-, Pflege- und Pensionssysteme sowie Zuwanderung bekannt. Die Statements dazu, sind in der Regel Ideologie- bzw. Populismusgetrieben und seit Jahrzehnten immer die gleichen Rezepte. Das Problem wurde indes jedoch nicht gelöst.

Generationen von Expert*innen haben die Politik immer wieder darauf hingewiesen, dass eine strukturierte und geordnete Migrationspolitik, die einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen Bedürfnissen (viele, leicht verfügbare,  billige Arbeitskräfte) und einigermassen geordnete Verhältnisse am Arbeitsmarkt, um nicht extensive Schwarzmärkte und ein Steigen der Ausbeutungsver-hältnisse zu zu lassen, unabdingbar wäre (siehe auch Münz et al., 2003).

Dazu gehören auch übergeordnte Staatsziele ins Blickfeld zu rücken, wie etwa die Sicherung der sozialen Systeme, des Gesundheits-, Pflege-, Bildungs- und Forschungsbereiches. Eine Möglichkeit, die das Problem mitlösen kann, wäre eben Migration zuzulassen und durch Nettoeinzahler*innen ins System, ausländische Facharbeiter*innen, gut ausgebildete Fachkräfte zur Verfügung zu haben, um den wirtschaftlichen Wandel und die Dienstleistungen bewerkstelligen zu können und die benötigte Wirtschaftsleistung sowie deren Umgestaltung im Hinblick auf Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit und Klimverträglichkeit.

Auch wenn es immer wieder öffentlich getrommelt wird, ist es nicht wahr, wenn behauptet wird, dass Migration das Sozialsystem belastet. Das gilt nur für einen kleinen Teil der Migrationspopulation; und der ist durch die repressiven Beschränkungen im Asylsystem selbstverschuldet. Tatsache ist vielmehr, dass der Staat von Zuwanderung profitiert und die Einnahmen (Steuern, Versicherungsbeiträge u.a.) die Ausgaben (Deutschkurse, Asylwerber*innenunterbringung, Integrationsmaßnahmen u.a.) bei weitem übersteigen[8]. Gerade bei erwachsenen Zuwander*innen, die nach Österreich kommen erhalten wir zumeist Menschen, die bereits eine schulische und berufliche Ausbildung mit bringen, die wir uns als Staat – salopp gesagt – einfach ersparen.

Würde eine weitsichtige, vorausschauende, planbare und nachvollziehbare Migrationspolitik Teil der staatlichen Organisation sein, wäre der gesellschaftliche, volkswirtschaftliche Ertrag um ein Vielfaches höher[9].

Aber Irrationalität und die ständige populistische Emotion treiben das Thema in die rechtsextreme Schmuddelecke, in der es nur Schwarz-Weiß Schablonen gibt. Das geht soweit, dass sogar Qualitätszeitungen in diese Schwarz-Weiß Schemata und Narrative einsteigen und diese verfestigen. So startete „Der Standard“ Anfang Mai 2023 eine Umfrage: „Wie links sind sie?“ In der Frage steht 2 wird nach der Haltung zu Flüchtlingen gefragt und die zur Auswahl stehenden drei Antworten zeugen alle davon, dass auch hier das Schwarz-Weiß Schema bzw. das Integrationsnarrativ übernommen worden ist.[10]


[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Giorgia_Meloni

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Francesco_Lollobrigida

[6]https://www.spiegel.de/ausland/italien-geburtenrate-sinkt-auf-rekordtief-a-c66cc03d-c9a2-434a-a30d-d5c983c2b08a

[7] https://oe1.orf.at/player/20230420/716275/1681967963000

[8] https://www.derstandard.at/story/2000037209653/auslaender-zahlen-mehr-ins-sozialsystem-ein-als-sie-erhalten

[9] Von den sozialen, gesellschaftlich-kulturellen Bereicherungen sei hier einmal ausnahmsweise gar nicht die Rede.

[10] https://www.derstandard.at/story/2000145936726/wie-links-sind-sie-finden-sie-es-im-standard-test

Wie gehen wir mit Flüchtlingen um? 

Antwort 1: Hilfe ist gut, aber muss an Integration gekoppelt sein.

Antwort 2: Die irreguläre Zuwanderung muss gestoppt werden, wir brauchen Asylaufnahmezentren an den Außengrenzen.

Antwort 3: Kein Mensch ist illegal, wer Hilfe braucht, soll sie bei uns bekommen.

Zu den drei Antworten wären eine Vielzahl an kritischen Fragen zu knüpfen; abgesehen davon, was Hilfeleistungen mit „links“ zu tun haben, ist das doch ein klassisches christliches Handlungsmotiv: Armen in der Gesellschaft mit Almosen zu helfen. Auch muss die Frage gestellt werden, warum die Irreguläre Migration nur mit Aufnahmezentren an den Außengrenzen gestoppt werden soll; übrigens ein typisch rechtes Narrativ, das sowohl von EU als auch von ÖVP forciert wird. Indes gibt es doch weit bessere und den Menschenrechten entsprechendere Konzepte und Erfahrungen, um die illegale Migration zu mindern.

Nur eines von vielen Beispielen, wie unzutreffend, verkürzt und unschlüssig auch in Zeitungsredaktionen am Thema gearbeitet wird und in der völlig unzutreffende Narrative Allgemeingut werden und in der eine „Umvolkungsparanoia, Bevölkerungsaustausch“ Ideologie Raum greift. Mit solchen Metaphern und extremen Positionen – die dankbar von Boulevard, aber offensichtlich auch von sich als Qualitätsmedien redenden Zeitungen aufgegriffen werden – ist es kaum möglich, eine differenzierte und faktenbasierte Migrationspolitik zu entwickeln, die darauf fokussiert ist, Lösungen für tatsächlich anstehende staatliche Probleme (Pflegekrise, Pensionsversicherungssystem u.a.) mittel- bzw. langfristig zu finden und diese auch umzusetzen.

Der Brexit

Anhand des Brexits zeigte sich jedoch, dass Österreich kein Alleinstellungsmerkmal des rechten Populismus, der Inkompetenz und Irrationalität besitzt. Anhand der jetzt 2½ Jahre nach dem offiziellen Austritt des Britischen Königreiches aus der EU[11] die Zwischenbilanz aussieht, zeigt sich, dass die Folgen für die britische Gesellschaft verherrend ausfallen.

Der ganze politische Prozess des Austrittes des Königreiches begann ja bereits Jahre vor dem Referendum in Großbritannien (GB), das am 23. Juni 2016 abgewickelt wurde und mit einer Befürwortung des Austritts des Vereinigten Königreichs (VK) aus der EU von 52% endete. Zuvor trat mit einer rassistisch unterlegten Rhetorik die rechtsnationale-chauvinistische UKIP[12] in den politischen Ring. 2014 wurde bereits das englische Establishment erschüttert, errang doch die UKIP bei der Wahl zum europäischen Parlament 24 der 74 britischen Sitze, was einer gewissen Skurrilität nicht entbehrte. Eine EU feindliche Partei zog lauthals – in das ihnen so verhasste – EU-Parlament ein.

Mit dem Slogan „We want our country back“[13] starteten sie die Kampagne gegen die EU. Insbesondere auffällig dabei war der rassistische und fremdenfeindliche Diskurs, den die UKIP in die Gesellschaft trug und damit auch die „Torys – die Konservative Partei Englands“ infizierte, die sich in der Frage lange gespalten präsentierten, aber je näher die Abstimmung über den Brexit kam, immer mehr Tendenzen zum Austritt erkennen ließen. Prominentester Repräsentant der konservativen EU-Austrittsbefürworter *innenfraktion war wohl Boris Johnson, Londoner Bürgermeister und späterer Premierminister Englands[14].

Aber auch die Sozialdemokratische Labour Party[15] war im der Frage Brexit gespalten. Der damalige Labour Chef Corbyn war zähnknirschend gegen den Brexit und plädierte für einen Verbleib, aber das nur halbherzig. Zu viele eigene Forderungen an und Umbaupläne für die EU machten den Kurs der Labour undurchsichtig. In dem Schlingerkurs formierten sich auch zahlreiche Gegenstimmen, die für den Brexit warben, sich auch aus strategischen regionalen taktischen Gründen.

Ihre Hauptargumente richteten sich vor allem gegen den wirtschaftsliberalen Kurs der EU (Freihandel, TTIP), der den Sozialdemokraten* und Sozialist*innen sauer aufstieß. Erhebliche Teile der Labourbasis machte Jeremy Corbyn[16], damaliger Labour Chef jedoch dafür verantwortlich, dass es zu einer Befürwortung des Austrittes kam, da er nach ihrer Meinung zögerlich und erratisch in der Debatte wahrgenommen wurde. Vier Punkte, die im Zuge der Brexit Kampagne deutlich wurden, waren für den Brexit letztlich ausschlaggebend und zeigen wie stark auch hier die Migration eine Rolle spielte:


  1. Wirtschaft – GB war ein Nettozahler der EU. Mit dem Austritt würde man das Geld für britische Belange verwenden können, so die Rhetorik. Johnson versprach das Geld in das NHS (National Health System) zu investieren. Dies ist bis heute nicht geschehen.
  2. Einwanderung – Migration: Die EU Gegner*innen argumentierten mit der Freizügigkeit der EU und dass damit zuviele Migrant*innen nach GB gekommen wären, insb. Pol*innen und andere EU Staatsangehörige. Der Bevölkerungsanteil betrug jedoch lediglich 4,6%. Vermischt wurde diese Debatte jedoch mit dem noch viel schärfer und hetzerischer geführten Narrativ der illegalen Einwanderung auch von Drittstaatenmigrant*innen und Flüchtlingen über den Ärmelkanal.
  3. Die Zentalisierung und „Fremdbestimmung“ durch die EU war ein weiteres Argument, das im Zuge der Kampagne immer bösartiger vorgebracht wurde.
  4. Die weltpolitische Abhängigkeit in der EU war den Gegner*innen ebenso ein Dorn im Auge. GB solle wieder zu alter hegemonialer und kolonialer Größe aufsteigen, selbsttätig verhandeln, Verträge machen und seine eigenen Ziele verfolgen können[17].

Schließlich wurde in den Verhandlungen zum Austritt zwischen der EU und GB deutlich, dass die interne Brexitdebatte viel Porzellan zerschlagen hatte und alte jahrzehntelange Konflikte wieder aufbrachen bzw. aktuellen krisenhafte Erscheinungen verschärfte. Insbesondere dabei zu erwähnen ist der Nordirland-Konflikt[18]. Das Karfreitagsabkommen[19] hat relative Ruhe und Stabilität gebracht. Die Hoffnung, dass der Konflikt endgültig beigelegt werden könne, war deutlich spürbar.


Die neuen Grenzziehungen zwischen Irland und Nordirland bzw. Nordirland und dem englischen Festland, die im Zuge der Austrittsverhandlungen diskutiert wurden,  ließen die bereits begraben geglaubten Gewaltgespenster wieder aufleben. Der Frieden ist mittlerweile wieder brüchiger und von deutlich mehr Gewalt überschattet. Die alte Trennlinie zwischen katholischen Republikaner*innen für ein vereintes Irland und protestantischen Unionist* oder Loyalist*innen, die der englischen Krone verpflichtet sind, besteht wieder[20].

Aber auch die Austrittstendenzen Schottlands verstärkten sich und sind nicht vom Tisch, zumal Schottland mehrheitlich für den Verbleib GB´s in der EU votierten.


[11] https://de.wikipedia.org/wiki/EU-Austritt_des_Vereinigten_K%C3%B6nigreichs

[12] https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/242060/die-ukip-ein-fruchtbarer-boden-fuer-die-radikale-rechte-in-grossbritannien/

[13] In Anlehnung des berühmten Ausspruchs von Margaret Thatcher 1979: „We want our money back“, siehe auch: https://www.youtube.com/watch?v=rNLVeAQvzn8

[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_Johnson

[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Labour_Party

[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Jeremy_Corbyn

[17] https://www.lpb-bw.de/brexit#c32290

[18] https://www.fluter.de/nordirland-konflikt-brexit-einfach-erkl%C3%A4rt

[19] https://www.studysmarter.de/schule/englisch/landeskunde-englisch/karfreitagsabkommen/

[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Nordirlandkonflikt

[2] https://www.studysmarter.de/schule/englisch/landeskunde-englisch/karfreitagsabkommen/

Die Folgen des Brexit

Mittlerweile, 2 ½ Jahre nach dem Austritt kann man die Folgen des Brexit für Großbritannien benennen. Es ist eine lange Liste von Mängeln und fehlenden Gütern. Klar ist, dass der migrationsfeindliche Diskurs und die verschärften Gesetze in GB zu einer Abwanderung von Arbeitskräften geführt hat. Lastwagenfahrer*innen fehlen ebenso wie Pflegekräfte und Gesundheitspersonal, aber auch Handwerker*innen. War GB früher ein heiß begehrtes Zuwanderungsland aus der EU, so ist heute niemand mehr so richtig heiß, auf die Insel zu kommen. Die bürokratischen Hürden sind einfach zu hoch geworden. Britische Frachtunternehmen suchten händeringend nach LKW-Fahrer*innen, die aber trotz diverser Vergünstigungen kaum bereit waren, für britische Transportunternehmer zu fahren. Die Folge war unter anderem, dass es auf der Insel zu Engpässen beim Benzin kam.

Laut eines „Zeit“ Berichtes leiden 78% der Firmen unter Personalmangel und suchten verzweifelt nach Fachkräfte. 1,3 Mio. offene Stellen seien laut englischem Handelskammerverband zu verzeichnen.

Vor allem Gastgewerbe, Bau, Logistik und Transport würden darunter leiden. Die Regierung verweist auf diese Rekordzahlen, um die wirtschaftliche Stärke damit zu untermauern. Viele Expert*innen jedoch sehen den Fachkräftemangel als Folge der verschärften Einwanderungsregeln und den hohen Hürden für Visaerteilungen. Die Pandemie tat ihr übriges. Viele verloren ihren Job und verließen daraufhin das Land[21].

Immer öfter liest man in den englischen Supermärkten „Three items per costumer“ (drei Stück pro Kunde)[22]. Zahlreiche Lebensmittel sind oder waren in zu geringem Ausmaß verfügbar. Tomaten, Gurken, Eier, Birnen, Paprika – die Liste könnte sich durch Olivenöl und andere Produkte weiter verlängern.

Grund dafür ist nicht alleine der Brexit, es sind vor allem auch die Auswirkungen von schlechten Ernten (Klimafolgen) bei bestimmten Produkten und unterbrochenen Lieferketten durch die Corona Pandemie. Der Brexit und die fehlenden Arbeitskräfte – so übereinstimmend die Fachmeinung – würde all die Problem weiter verschärfen und beschleunigen.

So könnte man abschließend zu diesen Beispielen lapidar feststellen, dass eines feststeht: So unternehmerisch denkend und kapitalistisch orientiert unsere Gesellschaften sind, in all diesen Fällen schlägt Rassismus und Migrationsfeindlichkeit die unternehmerische, pragmatische und auf den eigenen Vorteil gerichtete Vernunft. Da ist Österreich mit vielen anderen EU-Ländern in schlechter Gesellschaft.

Der Migrationspakt

Zum Abschluß dieses Kapitel widme ich mich noch einem Dokument, das nach langer und intensiver Diskussion der Staatengemeinde im Dezember 2018 in Marrakesch/ Marokko von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) mehrheitlich angenommen worden ist.  Es handelt sich um den „Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ (siehe UN 2018).

Im Zuge der Entstehung dieses Dokumentes gab es zahlreiche Irrungen und Verwirrungen, die den ganzen Schlamassel um das Thema deutlich machen, in dem vor allem die EU Staaten stecken und versinnbildlicht, wie tief die inhaltliche und fachliche Krise geworden ist.

Worum geht es in dem Pakt?

Mit der Annahme des Paktes konnten erstmals globale Leitlinien für die internationale Migrationspolitik festgelegt werden.

„Durch den Pakt soll die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Migration verbessert werden und die Rahmenbedingungen für Migration humaner gestaltet werden. Außerdem sollen die Hauptursachen für irreguläre Migration behoben werden.“[23]

Er beruht auf den Zielen und Grundsätzen der Charta, insbesondere auf der:

  • Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte;
  • dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte;
  • dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte;
  • den anderen grundlegenden internationalen Menschenrechtsverträgen;
  • dem Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, einschließlich des Zusatzprotokolls zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, und des Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migranten (sic!) auf dem Land-, See- und Luftweg;
  • dem Übereinkommen betreffend die Sklaverei und dem Zusatzübereinkommen über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und Sklaverei ähnlicher Einrichtungen und Praktiken;
  • dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen;
  • dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wüstenbildung in den von Dürre und/oder Wüstenbildung schwer betroffenen Ländern, insbesondere in Afrika;
  • dem Übereinkommen von Paris und den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über die Förderung menschenwürdiger Arbeit und Arbeitsmigration sowie auf der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung,
  • der Aktionsagenda von Addis Abeba der dritten Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung, dem Sendai-Rahmen für Katastrophenvorsorge 2015-2030 und der
  • Neuen Urbanen Agenda (siehe UN 2018).

Ich führe die Auflistung wortgetreu aus dem Dokument auf, um zu verdeutlichen, auf welch solider, gemeinschaftlicher, völkerrechtlicher und politischer Basis das Dokument entwickelt wurde und wie breit der Konsens unter den Ländern war. Schließlich haben 152 Länder den Pakt in der Vollversammlung unterzeichnet. Aus Europa waren darunter die Länder: Deutschland, Belgien, Frankreich, Niederlande, Portugal, Spanien, Großbritannien, Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden, Estland, Kroatien, Litauen, Griechenland, Irland, Monaco[24].

Dass streicht umso mehr die Tatsache hervor, dass die NICHT-Unterzeichnung der damaligen Bundesregierung unter Bundeskanzler Kurz(Türkis-ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ), ein Tabu-Bruch war und Auswirkungen auf die politische Kultur im Land hatte[25].

Der Pakt ist nicht – wie oft fälschlicherweise behauptet wurde – auf das Thema der Asyl und Fluchtthematik konzentriert, sondern legt den Fokus vielmehr auf Migration insgesamt, die weit über das Thema der Flucht hinausgeht. Mit 23 Zielen umreisst der Pakt die wichtigsten anzustrebenden Grundsätze. Die wichtigsten davon seien hier aufgezählt:

  • Lebensbedingungen weltweit so verbessern, dass mehr Menschen in ihrer Heimat bleiben können
  • Verbesserung der Verfügbarkeit und Flexibilität der Wege für eine reguläre Migration
  • Migranten besser gegen Ausbeutung, Missbrauch und die Verletzung von Menschen- und Arbeitsrechten schützen
  • Bessere internationale Koordination von Rettungseinsätzen, um den Tod und die Verletzung von Migranten (sic!) zu verhindern
  • Grenzübergreifende Bekämpfung von Schleuserbanden und Menschenhandel
  • Sichere und würdevolle Rückkehr von Migranten (sic!) ermöglichen (siehe UNO 2018)

[21] https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-04/brexit-corona-probleme-fachkraefte-grossbritannien

[22] https://www.bbc.com/news/business-64785676

[23] https://www.bmz.de/de/service/lexikon/22058-22058

[24] https://www.presseportal.de/pm/133833/4612405

[25] https://www.parlament.gv.at/aktuelles/pk/jahr_2018/pk1308

Hisilicon Balong

Der Migrationspakt ist mittlerweile, wie so oft bei politischen Debatten, aus der Öffentlichkeit wieder verschwunden. Was bleibt sind Falschmeldungen (Fake News), die sich festgesetzt haben und von Seiten der damaligen Rechts-Regierung und weiterer außerparlamentarischer-weit rechtsstehender Organisationen verbreitet wurden. In der Debatte in einer Aktuellen Stunde im österreichischen Parlament im November 2018 wurde das offensichtlich.

So wurde behauptet, mit der Unterzeichnung des Paktes sei ein Menschenrecht auf Migration verbunden und würde damit weiter das Tor für illegale Migration öffnen. Auch wurde behauptet, dass die meisten Länder, die unterzeichnet hatten, gar keine Asylanträge entgegennähmen.

Beide Argumente sind nachweislich falsch, eher das genaue Gegenteil trifft zu[26]. Dem Migrationspakt mit einem Asylthema abzulehnen, ist haarsträubend falsch, denn es ist eben genau kein Asylpakt, wie immer wieder suggeriert wurde.

Im Parlament wurde auch die Keule geschwungen, der Pakt sei ein Eingriff in die Souveränität der einzelnen Staaten, was ebenfalls nachweislich falsch ist. Die Migrationsagenda bleibt nach wie vor – auch mit Pakt – bei den Nationalstaaten, wie in den Erläuterungen und Aussendungen betont wird. Was vielleicht auch genau eines der Probleme darstellen wird.

[26] https://www.presseportal.de/pm/1338

Leitlinien zur Migration werden nicht ausreichen, solange die einzelnen Staaten im nationalen Furor verfangen sind und so ihre eigenen Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutungsverhältnisse, die sie national zulassen, oft einfach nur wegsehen, gegenüber ihrem jeweils eigenen Wahlvolk erklären müssen. Auch werden die Partikularinteressen, die die einzelnen Staaten im Thema verstecken (Rohstoffzugänge, Sicherung von Märkten, Exporte, ehemalige alte Kolonialinteressen aufrechterhalten, prekäre ungesicherte Arbeitsmärkte u.v.m.) mit dem Pakt wohl nicht gebündelt werden können und somit eine globale Verbesserung beim Thema kaum zustande gebracht werden.

„Der Pakt stellte den Versuch dar, ein einheitliches Regelwerk und eine gemeinsame Zielsetzung zu entwickeln, weil man mittlerweile erkannt haben müsste, dass kein Land die anstehenden Herausforderungen allein lösen könne“, wie Alma Zadic – damals noch bei der Partei JETZT[27] – in ihrem Redebeitrag im Parlament konstatierte. Ein letztes Bonmot: Österreich nahm zwei Jahre lang an den Verhandlungen und Debatten zum Migrationspakt teil. Die Entscheidung zur Enthaltung zum Beschluss des Paktes erfolgte erst in den letzten Tagen im Dezember 2018.  


[27] https://de.wikipedia.org/wiki/Jetzt_%E2%80%93_Liste_Pilz

Literatur:

Gächter, August: „Migrationspolitik in Österreich seit 1945“. Arbeitspapiere Migration und soziale Mobilität, Nr.12. Wien 2008.

Gächter, August: Was braucht eine Gesellschaft, die fit sein soll für Einwanderung? S. 42 – 50. In: Ikemba (Hg.): „Fit für Vielfalt?“ Tagung anläßlich des 5-jährigen Bestehens des Vereins Ikemba, Tagungsdokumentation. Eigenverlag Graz, 2012

Münz, Rainer; Zuser, Peter; Kytir, Josef: Grenzüberschreitende Wanderungen und ausländische Wohnbevölkerung: Struktur und Entwicklung. In: Fassmann, Heinz; Stacher, Irene (Hg.): Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht, Drava Verlag, Celovec/Klagenfurt – Wien, 2003

Quellen:

Expertenrat für Integration: Integrationsbericht 2022, Wien 2022

Land Steiermark (Hg.): Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark. Fachabteilung 6 A – Gesellschaft und Generationen, Referat Integration – Diversität, Graz 2011

Österreichische Bundesregierung: NAP-I, Nationaler Aktionsplan für Integration, Wien 2011.

UN – United Nations General Assembly: Zwischenstaat-liche Konferenz zur Annahme des Globalen Paktes für eine sichre, geordnete und reguläre Migration. Entwurf des Ergebnisdokumentes der Konferenz. Marrakesch, 2018.