Spiel mit dem Leben Anderer, Teil 2, Kapitel 6

An Schritt vieri, zwei Schritt z´ruck

Im vergangen letzten Teil sind wir mit einem Exkurs über den Begriff „Integration“ etwas abgeglitten. Der eigentliche Ausgangspunkt des Integrationsausfluges waren jedoch die 2000er Jahre, die einen spürbar anderen Drall in sich trugen, der Hoffnung aufkommen ließ, dass neben der weiterhin repressiven Antimigrations- und -asyldiskurse, ein faktenorientiertes, nüchternes Migrationsmanagement in die österreichische Innenpolitik Einzug halten könnte. Die Fakten und die zu erwartenden zukünftigen Entwicklungen sprachen zu eindeutig dafür, dass diese notwendig sein wird. Im folgenden betrachten wir diese Periode und die darin keimenden Pflänzchen etwas näher. Bevor wir jedoch zu diesen Phasen kommen, müssen wir uns noch einige Bereiche näher ansehen, die den katatstrophalen demokratie- und realpolitischen Zustand der Republik in Hinblick auf die Zuwanderung und Migration verdeutlichen.

Die muss man sich erst verdienen

Da wäre einmal die Staatsbürger*innenschafts-debatte, die seit vielen Jahren auf dem Stand tritt. Einige Merkmale sind dabei hervorzuheben.

1. Österreich ist ein Land, das die Staatsbürger*innenschaft als „Privileg“ vergibt. Dies wird als Endpunkt einer „gelungenen Integration“ angesehen, wie immer wieder – bis heute – betont wurde und wird. Die Staatsbürger*innenschaft wird als etwas angesehen, dass man sich durch harte und entbehrungsreiche Jahre der Anpassung und Assimilation verdienen durfte; quasi als Medaille für unauffälliges, braves und herausragend „normales“ Verhalten. Dementsprechend hart und lange ist der Weg, bis man als Nichtösterreicher*in zu dem exklusiven Klub Zugang erhält.

Die Tests und Bedingungen zur österreichischen Staatsbürgerschaft sind daher vergleichbar mit:

die Bedeutung dieser Einbürgerungstests als das moderne Mittel der Initiationsriten früherer Stammesgesellschaften, wodurch Einbürgerung … zu einem Akt des Erwachsenwerdens wird und die fremden Staatsbürger damit infantilisiert. (Perchinig 2010, S. 24)

Nach Perchinig … enthalten Einbürgerungstests sowohl klassische Machttechnologien, aber auch eine ‚Technik des Selbst‘, indem sie eine generalisierte Unterwerfungsgeste unter die Macht des Staates verlangen. (ebda, S. 25)

Die Voraussetzungen in Österreich sind so ausufernd und detailliert, dass ich Ihnen – werte/r Leser*in – die Liste in ihrer vollen Länge nicht vorenthalten möchte, wohl wissend, dass das strapaziös ist. Aber stellen sie sich vor, sie wollten die Staatsbürger*innenschaft und wollten sich informieren. Es bleibt gar nichts anderes übrig, als das alles zu lesen. Folgende Voraussetzungen sind zu prüfen:

  • Mindestens zehnjähriger rechtmäßiger und ununterbrochener Aufenthalt in Österreich, davon mindestens eine fünfjährige Niederlassungsbewilligung. EU/EWR Staatsangehörige sind von diesen Regelungen ausgenommen.
  • müssen sie unbescholten sein
  • ihr Lebensunterhalt hinreichend gesichert sein
  • Deutschkenntnisse und Grundkenntnisse der demokratischen Ordnung und der daraus ableitbaren Grundprinzipien sowie der Geschichte Österreichs und des jeweiligen Bundeslandes

·    Bejahende Einstellung zur Republik Österreich und Gewährleistung, dass keine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit besteht

  • Kein bestehendes Aufenthaltsverbot und kein anhängiges Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung
  • Keine Rückkehrentscheidung
  • Keine Rückführungsentscheidung eines anderen EU-/EWR-Staates oder der Schweiz
  • Keine Ausweisung innerhalb der letzten 18 Monate
  • Kein Naheverhältnis zu einer extremistischen oder terroristischen Gruppierung
  • Grundsätzlich Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit

Durch die Verleihung der Staatsbürgerschaft dürfen:

die internationalen Beziehungen der Republik Österreich nicht wesentlich beeinträchtigt werden und die Interessen der Republik Österreich nicht geschädigt werden.[1]

Neben der Erfüllung der Grundvoraussetzungen zur Verleihung der Staatsbürger*innenschaft gibt es auch einen Ermessenspielraum. Neben der Verleihung aufgrund eines Rechtsanspruches gibt es daher auch eine Ermessensgrundlage.

Die Behörde ist bei ihrer Entscheidung, die Staatsbürgerschaft aufgrund von Ermessen zu verleihen, immer gehalten, das Gesamtverhalten des Antragssteller beziehungsweise der Antragsstellerin zu überprüfen. Davon betroffen ist das Allgemeinwohl sowie die Interessen der Öffentlichkeit und auch das Ausmaß der eigentlichen Integration. Alle Fakten unterliegen dabei einer umfassenden Prüfung, die den allgemeinen Voraussetzungen zur Einbürgerung folgen. Sind diese erfüllt, dann liegt es an der zuständigen Behörde, die Verleihung aufgrund von Ermessen zu erteilen oder auch abzulehnen.[2]

Dies ist umso bedeutsamer, denn es liegt viel Spielraum in der Praxis vor, wie manche Voraussetzungen interpretiert werden. Da die Staatsbürger*innenschaft nebstbei auch noch föderal geregelt ist und die jeweiligen Landesregierungen darüber entscheiden, liegt es fast zwingend auf der Hand, das die Staatsbürgerschaft auch dadurch zu einem Glücksspiel wird, in dem ausschlaggebend ist, in welchen Bundesland angesucht wird. Das betrifft sowohl die jeweiligen „Ermessensspielräume“, als auch die Kosten, die für die Staatsbürger*innenschaftserlangung aufzubringen sind. 

Die Kosten für die Verleihung und den Prozess der Überprüfung liegen bei 976,80 Euro Bundesgebühren. Hinzu werden noch zusätzliche Landesgebühren erhoben, diese sind jedoch je nach Bundesland unterschiedlich gestaltet und sollten vor der Antragsstellung unbedingt eingeholt werden (mehr dazu unter Punkt 5).[3]

2. Die Doppelstaatsbürger*innenschaft ist ein weiteres Thema, das restriktiv gehandhabt wird. Prinzipiell erlaubt Österreich keine Doppelstaatsbür-ger*innenschaft. Dahinter steckt der tief verankerte Gedanke der Homogenität und eine starre Identitätszuschreibung zu einem Land/Nation/Ethnie… Hybride, multinationale, interkulturelle Lebensbiografien und Zugehörigkeiten, die sich auch über die Wohnbürgerschaft und/oder Staatsbürger*innenschaft äußern, sind in diesem Konzept nicht vorgesehen. Es lebt also ein ausgesprochen chauvinistisches, feudales Denken der Staatsbürger*innenschaft zugrunde, in der „Untertan*innen“ nur einem Staat/Land zu dienen haben und daher zu dieser „Schicksalsgemeinschaft“ verpflichtet sind/werden.

Ausnahmen betreffen die Kinder von Eltern, die gemischte Nationalitäten besitzen, denn sie erhalten die Staatsbürger*innenschaften beider Elternteile, wenn eine/r nicht Österreicher*in ist. Ist es unehelich, dann erhält es die Staatsbürger*innenschaft der Mutter. Der Vater kann die zweite Staatsbürger*innenschaft für sein Kind veranlassen. Mit dem 18. Lebensjahr behält das Kind beide Staatsbürger*innenschaften.[4]

Das problematische daran ist auch, dass mit der Erlangung der Staatsbürger*innenschaft die „alte“/zweite Staatsbürger*innenschaft grundsätzlich zurückgelegt werden muss. Manche Staaten, wie etwa der Iran oder die Türkei entlassen ihre Bürger*innen nicht aus der Staatsbürger*innenschaft. Man kann also nicht austreten. In diesen Fällen muss der/die Antragsteller*in nachweisen, dass er/sie sich bemüht hat, die Staatsbürger*innenschaft (etwa durch entsprechenden Antrag an die Botschaft mit abschlägigem Bescheid) abzulegen.

In besonders berücksichtungswürdigen Gründen (etwa durch besonders Gründe im Interesse der Repubik) kann von der Zurücklegung der ehemaligen Staatsbürger*innenschaft Abstand genommen werden; das ist oft bei Künstler*innen und Sportler*innen der Fall. Durch all diese Gründe entstehen Doppelbürger*innenschaften, die den Eindruck erwecken, Österreich sei liberaler geworden, was aber von Gesetzeswegen nicht stimmt.[5]

3. Österreich ist eines der Länder, in dem das ius sanguinis („Blutsrecht“) maßgeblich ist. Das heisst, gleich wo die Person geboren ist, sie erhält immer die Staatsbürger*innenschaftder Eltern (Groß- und Urgroßeltern). Kinder von türkischen Eltern, die in Österreich geboren wurden, sind nicht automatisch Österreicher*innen sondern zuerst einmal türkische Staatsangehörige.


[1] https://www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/staatsbuergerschaft/1/Seite.260421.html. Die jeweiligen Detailerläuterungen zu den einzelnen Unterpunkten wurden im Dienste der Leserlichkeit weggelassen, können aber auf der genannten Homepage nachgelesen werden.

[2] https://staatsbuergerschaftspruefung.at/die-verleihung-der-oesterreichischen-staatsbuergerschaft-aufgrund-von-ermessen/

[3] https://staatsbuergerschaftspruefung.at/die-verleihung-der-oesterreichischen-staatsbuergerschaft-aufgrund-von-ermessen/

[4] https://www.demokratiezentrum.org/wp-content/uploads/2021/09/MoT_Factsheet_Staatsbuergerschaft_Vergleich_2020.pdf

[5] https://www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/staatsbuergerschaft/Seite.260430.html

Deutschland hat mit einer Staatsbürger*innen-schaftsreform 2000 eine Wahlmöglichkeit bei Volljährigkeit und damit auch eine Doppelstaatsbür-ger*innenschaft zugelassen[6]. Diese Möglichkeit fehlt in Österreich. Im Gegensatz zum ius sanguinis finden wir in vielen anderen Ländern das ius solis (Recht des Bodens). Ausschlaggebend dabei ist der Ort der Geburt und nicht die Abstammung.

Hinter all diesen konkreten Regelungen steckt, nebst vieler anderer ideologischer Versatzstücke, ein ausgeprägtes Mehrheiten- – Minderheitendenken. Die Mehrheit bestimmt (darf bestimmen), was die Minderheit zu leisten hat, um zur Mehrheit dazu zu gehören. Denn selbstverständlich ist das „Privileg“ der österreichischen Staatsbürger*innenschaft für viele Zuwandernde eine Verlockung, ein Ziel das es zu erreichen gilt. Denn die Erleichterungen für den Alltag sind enorm; keine Aufenthaltsverlängerungen, keine Visabestimmungen, keine Arbeitsbewilligungen, die Schaffung von Besitz, usw. und nicht zuletzt ist es auch ein Zutritt zum EU-Binnenraum, der weitere, anderen Möglichkeiten bietet.

4. Viele, die diesen Weg durchlaufen haben und es nach Jahren/Jahrzehnten geschafft haben, die Staatsbürger*innenschaft zu erlangen, müssen danach ernüchternd feststellen, dass sich manches dennoch nicht geändert hat. Sie müssen erkennen, dass selbst zwischen „Österreicher*in und Österreicher*in“ ein Unterschied gemacht wird, insbesondere dann, wenn aufgrund von äußeren Merkmalen oder dem Namen eine andere Herkunft sichtbar oder zumindest vermutet werden kann. Dann gibt es rasch ein „Ja, schon Österreicher*in, aber…“ Die Unterscheidung in „wirkliche Österreicher*in“ und die anderen ist daraufhin rasch vollzogen und bleibt nachhaltig.

In einem zunehmenden, abweisenden, aggressiv fremdenfeindlichen Klima ist auch die Verlockung groß, die Regeln nach Gutdünken immer weiter zu verschärfen. Dies zeigt sich etwa an der Entwicklung der Sprachanforderungen (siehe Perchinig 2010, S. 13-33). Waren vor Jahrzehnten die Sprachanforderungen ungenau und an der Realität orientiert zumeist erfüllbar, haben sich in den Jahren der Gesetzesanpassungen sukzessive verschärft. Nunmehr müssen zahlreiche sprachliche Tests durchlaufen werden, in denen die Sprache nicht mehr nur gut sein muss, sondern „ausgezeichnet“, „perfekt“ und ähnliches. Ähnliches gilt für den Staatsbürgerschaftstest wo allerlei österreichspezifischen Fragen gestellt werden, etwa nach der Zugehörigkeit Österreichs zum römischen Reich oder über das Habsburger Reich. Vielfach Fragen, die erstens für den Alltag völlig irrelevant sind und zweitens von vielen Österreicher*innen auch nicht beantwortet werden können[7].

5. Sei schließlich noch zu erwähnen, dass die Einbürgerungen Landessache sind. Österreich hat zwar ein Rahmenstaatsbürger*innenschaftsgesetz, in dem die grundlegenden Voraussetzungen definiert wurden, die Vollführung der Einbürgerung obliegt jedoch den jeweiligen Ländern. Wie es im österreichischen Föderalismus eben so ist, sind die Voraussetzungen und Umsetzungen in den Ländern höchst unterschiedlich. Das lässt sich an den Ermessensspielräumen ebenso, wie an den Kosten ablesen.

Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) hat 2022 einen Diskussionsbeitrag abgeliefert, in dem sie behauptet mit € 1.000.– wäre die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Diese Zahlen sind nur rudimentär und unvollständig zusammengestellt.

Neben der Bundesgebühr von € 867,40 muss noch eine Antragsgebühr bezahlt werden, in der Höhe von € 125,60. Dazu kommen noch Landesgebühren. Da diese einkomensabhängig sind, steigt mit einem Nettoeinkommen auch diese Gebühr. Bei einem Nettoeinkommen von € 1.200,– pro Monat, was man im übrigen für die Erfüllung der Selbsterhaltung aber auch dringend benötigt, um überhaupt in den Genuss der Antragsberechtigung zu kommen, steigt der Betrag bereits auf € 1.146,–.

Die Staatsbürger*innenschaft kostet demnach bereits € 2.239,–. Das ist für das Bundesland Niederösterreich berechnet. In der Steiermark ist das noch einmal teurer. Bei einem Einkommen über € 1.500,– beträgt der Betrag € 2.350,–. Alles in allem ein kostspieliges Unterfangen bei dem sich Staat bis zum Schluß allerlei Mätzchen einfallen lässt, um die Hürden hoch zu halten[8].

Eingedenk dessen, dass Zuwanderung – selbst in dem kleinen Österreich – unterschiedlich ist, betrifft Zuwanderung und damit in weiterer Folge Einbürgerungen die einzelnen Bundesländer unterschiedlich. Einen Sonderstatus nimmt dabei Wien ein, da sie in Österreich einzige Großstadt und Metropole ist und daher von Zuwanderung verschiedenster und unterschiedlichster Art[9] betroffen ist und mit dem übrigen Land kaum vergleichbar ist.

6. Betrachtet man die Einbürgerungsstatistiken etwas genauer, so kann man keine lineare Entwicklung ausmachen; sprich, es werden nicht jedes Jahr mehr Einbürgerungen vorgenommen. Zwischen 2011 und 2022 wurden zwischen 6.754 (2011) und 20.606 (2022) eingebürgert. Dazwischen gab es aber Auf und Abs zwischen 7.107 (2012) und 10.606 (2019). Generell wurde eine niedrige Einbürgerung immer wieder bekritelt. Diese würden auch einer positiven und schnelleren „Integration“ entgegen stehen, weil die Einbürgung an sich schon einen Anreiz zur Beteiligung und Integration darstellt (siehe Bauböck&Valchars, 2021). Tatsache ist aber, dass sie der generellen Linie der ÖVP geführten Regierungen in den letzten Jahrzehnten entspricht, Staatsbürger*innenschaft als Leistungsnachweis zu vergeben.

In den letzten beiden Jahren 2021 und 2022 sind die Einbürgerungen jedoch angestiegen. Dies ist jedoch nicht einer plötzlich liberaleren Haltung zur Staatsbürger*innenschaftsverleihung geschuldet, sondern der Tatsache, dass Verfolgte des NS-Regimes und deren Nachkommen eine erleichterte Einbürgerung möglich gemacht wurde[10]. Im Jahre 2022 haben fast 9.707 Personen (fast die Hälfte), auf die diese Kriterien zutraffen, die Staatsbürger*innenschaft erhalten. Die meisten davon haben ihren Wohnsitz im Ausland, etwa Israel, USA und Großbritannien[11].

Die Einbürgerungsstatistik der letzten Jahre führte die Kategorie „Andere europäische Drittstaaten“ immer an, mit einem fast 25%igen Anteil an den Einbürgerungen. In dieser Kategorie sind die türkischen Staatsbürger*innen enthalten (4.081/2011 und 4.661/2022). In den Jahren 2021 und 2022 wurde diese Kategorie jedoch übertroffen durch bisherige Staatsangehörigkeit aus Asien (5.221/2021 und 8.510/2022). Diese Steigerungen sind vor allem auch aufgrund der Flüchtlingsbewegungen aus Afghanistan, Iran, Irak, Pakistan, Syrien zu erklären. Sie haben mittlerweile – zumindest teilweise – das Asylverfahren durchlaufen, haben die Anerkennung als Flüchtling erhalten und haben sich eine eigenständige Existenz in Österreich aufgebaut. Dafür sind 10 Jahre Aufenthalt vorgesehen, bei besonders berücksichtigungswürdigen Gründen kann dies bereits nach 6 Jahren erfolgen, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Allerdings spielt hier wiederum das gesetzlich vorgeschriebene Ermessen eine erhebliche Rolle.

Ein kleiner Anteil daran nimmt aber auch eine generelle Diversifizierung der Migrationsbewegungen weltweit ein, die auch vor Österreich nicht halt macht und es daher zu Anträgen von langansässigen Zuwandernden in Österreich kommt. Wien als eigenes Bundesland, das Staatsbürgerschaften verteilen kann, führt die Liste der positiven Erledigungen regelmäßig an. Was allein aufgrund der Quantität der anteiligen Bevölkerung schon nachvollziehbar ist. Wien erteilt etwas mehr als 40% der im Inland gestellten Anträge auf Einbürgerung erledigt. Die nächst größeren Bundesländer (Steiermark/ 910, Oberösterreich/1.328, Niederösterreich/1.522) liegen bei etwas über oder etwas unter 1.000 Einbürgerungen pro Jahr[12].


[6] https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/deutschland-chronik/132672/1-januar-2000/

[7] Wenn Sie Ihr Wissen testen wollen, die bei dem Staatsbürgerschaftstest abgefragt werden, können sie das unter https://www.staatsbuergerschaft.gv.at/index.php?id=24 tun.

[8] https://www.profil.at/faktiv/einbuergerungen-bis-zu-130-prozent-teurer-als-plakolm-behauptet/402057811

[9] Etwa auch durch den Sitz von internationalen Organisationen/NGOs, Multinationalen Konzernen, Botschaften  und Uno.

[10] https://www.bmeia.gv.at/oeb-bern/service-fuer-buergerinnen/staatsbuergerschaft-fuer-verfolgte-und-deren-direkte-nachkommen/

[11] https://www.derstandard.at/story/2000143607773/mehr-als-20-600-einbuergerungen-im-vorjahr

[12] https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bevoelkerung/migration-und-einbuergerung/einbuergerungen

Alte Socken, neuer Wind

Die 2000er Jahre waren eine nicht ganz leicht einzuordnende Phase in der Migrationspolitik. Mit der Regierungsbeteiligung der FPÖ im Februar 2000 kam der Aufstieg der FPÖ vorläufig einmal zum Erliegen. Die neue österreichische Bundesregierung mit rechtsextremer Beteiligung stand international und besonders von der EU unter Beobachtung. Die EU befürchtete einen Dammbruch nach rechts durch die Regierungsbeteiligung der in den letzten Jahren stark nach rechts gewanderten FPÖ, die mit rassistischen, antisemitischen und migrationsfeindlichen Wahlkampfsprüchen punktete.

Diese kritischen Stimmen aus In- und Ausland sowie die Drohung und spätere Umsetzung von Sanktionen gegen die Regierung führten unter anderem dazu, dass Jörg Haider selbst nicht in die Regierung eintrat, sondern Statthalter*innen geschickt wurden. Vizekanzlerin wurde Susanne Riess-Passer[13]. Insbesondere die asylrechtlichen und fremdengesetzlichen Entwicklungen und die Aussagen der jetzigen Regierungspartei PÖ wurden international kritisch beäugt. Mit der Umsetzung der Sanktionen – Kontakte mit österreichischen Regierungsvertreter*innen wurden auf ein Mindestmaß reduziert – wurde ein „Weisenrat“ eingesetzt, der die Lage in Österreich beurteilen sollte. Nach seinem Bericht wurden die Sanktionen im September 2000 schließlich wieder aufgehoben[14].

Mit den internationalen Konfrontationen gingen auch Proteste gegen die Regierung in Österreich einher. Berühmt geworden sind aus dieser Phase, dass die neu anzugelobenden Regierungsmitglieder den Weg von Ballhausplatz (Bundeskanzleramt) zur Hofburg (Angelobung durch den Bundespräsidenten) üblicherweise zu Fuß antreten. Aufgrund der Großdemonstration, die am Ballhausplatz und vor der Hofburg stattfand, mussten sie ihren Weg zur Hofburg über unterirdische Gänge absolvieren.

Als zweites wichtiges Ereignis waren die Großdemonstrationen, die an den Tagen rund um die Angelobung stattfanden und die in weiterer Folge in die berühmt gewordenen „Donnerstagsdemos“ mündeten[15].

Die ersten Regierungsjahre des Schüssel I Kabinetts waren daher von großer Aufregung begleitet und stand unter genauer Beobachtung sowohl innen- als auch außenpolitisch. Die vor allem im Fokus stehende Asylpolitik wurde von der Regierung dezent aus der Öffentlichkeit gelotst, sodass es zu weniger Reibungspunkten in der Öffentlichkeit kam. Zuständiger Innenminister wurde Ernst Strasser (ÖVP), einige designierte FPÖ Abgeordnete (Hilmar Kabas und Thomas Prinzhorn), die Minister werden sollten, wurden abgelehnt. Bundespräsident Klestil wurde durch seine steinerne Angelobungsmimik berühmt[16].

Der Bericht des Weisenrates führte insbesondere dazu, dass die ÖVP/FPÖ-Regierung den Kritiker*innen wenig Angriffsfläche bieten wollte. Insoferne hatten die Maßnahmen der EU-14 für die Migrationsdebatte durchaus positive Auswirkungen.

Der rassistische Diskurs gegen Migrant*innen wurde sprachlich abgemildert und nahm auch quantitativ ab. Die ÖVP/FPÖ-Koalition musste in weiterer Folge auch EU-Rechtsnormen in nationale Regelungen übernehmen. Insbesondere betraf das die EU-Regelungen über die Langzeitaufenthalte von Drittstaatsangehörigen (2003/109/EC) und über den Familienaufenthalt (2003/86/EC) sowie die Übereinkunft zur Bewegungsfreiheit der EU Bürger*innen und derer Familienangehörige (2004/38/EC) (vgl. Kraler in Zincone et al. 2011, 38).

Auch die Umsetzung der beiden EU-Antidiskriminierungsrichtlinien[17] fallen in diese Phase und stellten die österreichische Bundesregierung vor neue legistische und politische Herausforderungen. Die FPÖ konnte sich jedenfalls dem Thema nicht so annehmen, wie dies aufgrund der vorher geführten Diskurse befürchtet worden war und wie sie es wohl gerne getan hätte.

In der konkreten restriktiven Praxis änderte sich in Österreich in der Phase zwischen 2000 und 2008 wenig. Die Asylbestimmungen blieben restriktiv, die Zuwanderungsbestimmungen blieben bürokratisch, praxisfern und kaum attraktiv für Neuzuwandernde. Denn damals schon wurde deutlich und wurde diskutiert, dass es erstens an Facharbeiter*innen mangle und zweitens die demografische Kurve in Österreich zuungunsten sich entwickeln würde, wenn Einwanderung nicht bewußt gefördert und entwickelt werden würde.

Daher breiteten sich in den 2000er Jahre auch neue Sichtweisen und Ideen aus, die den Eindruck erweckten, es würde sich die Stimmung und damit auch die Haltung im Land zum Thema Migration geändert haben.

Und tatsächlich wurden unter dem Titel Diversitätspolitik und Interkulturelle Öffnung Entwicklungen angestossen, die in den folgenden Jahren verstärkt in gesellschaftlichen Teilbereichen zu beobachten waren. Sie blieben aber im wesentlichen in Fachzirkeln Thema. Wesentlich dabei war erstens die Abkehr von der Defizitsicht auf Migrant*innen hin zu einer Ressourcenorientierung und Schöpfung der Potenziale.

Zweitens wurde hervorgehoben – und das war durchaus neu – dass auch die Gesellschaft Verpflichtungen habe und sich zu öffnen hat. Damit würde auch die Abkehr von homogenen Gesellschaftsbildern (einheitlichen Nationalstaaten mit einer Religion, einer Sprache) gemeint. Und schließlich sollte das in Verbindung mit Antidiskriminierung und Gleichstellungspolitik, auch rechtliche Veränderungen hervorbringen; was bisher nur ungenügend geschehen ist, bzw. durch die neue Regierung völlig zum Erliegen gekommen ist.


[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Riess

[14] https://de.wikipedia.org/wiki/Sanktionen_der_EU-XIV_gegen_%C3%96sterreich

[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Donnerstagsdemonstrationen

[16] https://kurier.at/politik/inland/die-ablehnung-von-zwei-ministern-eine-inszenierung/298.386.278

[17] Antidiskriminierungsrichtlinie (RL 2000/78/EG) und (RL 2002/79/7/EG)

Geschah Veränderung?

Günther Platter (ÖVP) iniitierte als Innenminister eine österreichweite „Integrationsdebatte“mit Hilfe von Plattformen in allen Ländern (2008). Später setzte die damalige Bundesregierung (SPÖ/ÖVP) einen Expert*innenrat ein und erstellte den NAP-I(Nationaler Aktionsplan für Integration), der auch tatsächlich als politische Grundlage vom Parlament 2011 beschlossen worden ist. Schließlich wurde 2011 das Staatssekretariat für Integration gegründet, das 2013 ins Außenministerium wechselte, da der damalige Staatssekretär Sebastian Kurz (ÖVP) zum Außenminister bestellt wurde (siehe auch Rosenberger 2012).  

In den Bundesländern entstanden im Sog dieser Debatten Integrationsprogramme, Leitbilder und Chartas (siehe Land Steiermark 2011). Sie konnten als erste Schritte zu einem versachlichten Diskurs, auf Grundsätzen beruhenden Diskussion um die Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft zu meistern, gesehen werden. Immerhin konnte man sich auf festgeschriebene, faktenorientirte Status Quo Analysen und Zielformulierungen berufen und wäre nicht nur von Befindlichkeiten, Emotionen und Skandalisierungen durch Medien und Parteien abhängig. Damit bestünde erstmals eine Grundlage, um die Wirksamkeit von Gesetze und Regelungen bewerten zu können.

Nach dem Motto: Wir haben diese Fragestellung (Problem), wir wollen das mit diesen und jenen Maßnahmen lösen und können folgende Indikatoren damit benennen, ob diese erfolgreich war. Damit würden wohl 90% der Forderungen und Maßnahmen, die Regierungen umsetzen, glatt durchfallen. Denn zumeist erreichen sie wenig, bis nichts.

Ein Beispiel gefällig, wahhlos aus den vielen herausgepickt: Die sogenannten Ausländerklassen, die im Sog der Flüchtlingsbewegung 2015 wieder reaktiviert wurden und wohl keine der Indikatoren erreichen würde, wenn je welche aufgestellt worden wären. So ist leicht zu behaupten, man habe etwas getan, denn eine Überprüfung entfällt, in Ermangelung von definierten Parametern. Die Wissenschaft hat dazu sehr wohl eine Meinung und betonte dass auch immer wieder; kurzum sie sind wirkungslos.

Auffalllend ist, dass in all den genannten Dokumenten, die in dieser Phase erstellt und diskutiert wurden, die österreichische Realität als eine durch Einwanderung geprägte, beschrieben wird und daher von der Vielfalt der österreichischen Bevölkerung auszugehen sei. Die Vielfalt der Bevölkerung wurde außer Streit gestellt. Grundregeln wurden formuliert wie ein gedeihliches – sprich friedliches – Zusammenleben organisiert und strukturiert werden soll und „Integrationsregeln“ (Pflichten) sind in Diskussion.

Liest man diese Texte, so würde man meinen, alles klar und logisch. Genauso ist Österreich bunt, vielfältig und heterogen. Die Papiere spiegeln jedoch die politische Realität überhaupt nicht wider. Man findet ein klassissches Theorie-Praxis Problem vor. Eine gehörige Portion Verleugnung und Verzerrung der Realität (Pippi Langstrumpf Syndrom) findet statt. Ähnlich wie in Indien, nur umgekehrt.

Warum erwähne ich hier Indien? Der Staat hat eine der modernsten, demokratischsten und rechtsstaatlichsten Verfassungen der Welt. In dieser ist etwa das Kastenwesen abgeschafft, es gibt ein verbrieftes Recht auf kommunale Gesundheitsversorgung, die Gewaltenteilung  ist stark ausgeprägt, und vieles mehr. Die Realität ist doch eine gänzlich andere. Das zutiefst inhumane, rassistische und jedem Menschenrecht wiedersprechende Kastenwesen, das weit über eine religiöse Konnotation hinaus geht, ist und bleibt beherrschender Teil der indischen Gesellschaft und des Alltags. In Österreich wird in allen Grundssatzpapieren die Vielfalt und Heterogenität und Interkulturalität beschworen, der öffentliche Diskurs vermittelt eher ein Bild, als hätte ein autoritäres, rassistisch-nationalistisches Regime das Ruder übernommen, dass als „Fremdartige“  ausmerzen und zum verschwinden bringen möchte. 

Was an den damals zustande gekommenen Positionspapieren auffällt, ist, dass wohl erstmals strukturell-politische Maßnahmen formuliert wurden; dass die österreichische Gesellschaft oder manchmal auch Bevölkerung eingeladen wird, sich mit diesen Bedingungen auseinanderzusetzen und daran zu beteiligen und entsprechende strukturelle Veränderungen damit verbunden sind (siehe auch etwa Amt der Tiroler Landesregierung, 2019). Daraus ist die Verpflichtung der organisatorisch-strukturellen-politischen Veränderung herauszulesen, die dazu führt, das gleichberechtigte Zugänge geschaffen werden, ein rassismussensibler Umgang entwickelt werde und eine antidiskriminierende Organisationspolitik Platz greifen solle. Ergebnis dieser Ansprüche sind dann formulierte Umsetzungsmaßnahmen wie dies etwa die Diversitätsabteilung des Magistrat Wiens[18] oder auch die Diversitätsabteilung des Landes Steiermark umzusetzen gehabt hätte.

Derartige Leitbilder und Chartas (wie in der Steiermark, Tirol und Wien) stehen mittlerweile wieder im deutlichen Widerspruch zu aktuellen Entwicklungen. In den letzten Jahren hat sich der Diskurs und die politische Meinung dazu gedreht. Einerseits durch das Erstarken der FPÖ, die durch Unterstützung von Boulevardmedien (Krone, Heute, Oe24), die in Österreich eine hohe Konzentration (siehe ORF, 2017) aufweisen, es als bestimmtende politische Kraft schafft, das politische Framing (siehe Wehling 2016) für das Thema vorzugeben. Andererseits auch durch eine Wendung der ÖVP unter Sebastian Kurz, der einen deutlich rechtsorientierteren, migrationsfeindlicheren Kurs eingeschlagen hat und ähnlich populistische Töne wie die FPÖ anschlug.

Die digitalen Medien („a-soziale“ Medien) spielen eine immer wichtigere Rolle in der politischen Auseinandersetzung. Sie sind ein idealer Schauplatz für Gerüchte, Hasspostings und Fake News. Insbesondere rechte, rechtsextreme und neonazistische sowie sektiererische Weltverschwörungsgruppen haben die digitalen Medien okkupiert und zu nutzen gewußt. Durch die mangelnde staatlichen und juristischen Regelungen sowie dem Manko, das diese Plattformen privaten Betreibern gehören hat sich ein Parralleluniversum der Meinungsverbreitung geschaffen, in den etwa Parteien wie die FPÖ, die deutsche AFD und die US-amerikanischen Republikaner, u.a. den offiziellen politischen Bereich darstellen, jedoch im Zusammenspiel mit rechten Medien, Online Seiten und Profilen (Social Bots) und mit Boulevardzeitungen breite Teile der Öffentlichkeit erreicht (siehe Brodnig 2017).


[18] https://www.wien.gv.at/menschen/integration/pdf/charta.pdf

Damals waren wir schon ein Stück weiter

Diese Phase in den 2000er Jahren des relativ zurückhaltenden öffentlichen Diskurses ermöglichte es eine zeitlang über Zuwanderungsregelungen debattieren zu können. Klar war jenen Teilen der Gesellschaft, die einigermassen faktenorientiert an der Debatte teilnahmen, dass Österreich ohne Zuwanderung schrumpfen würde und der Fachkräftemangel ebenso kritisch werden würde, wie dies etwa sich bereits in der Sozial- und Gesundheitsversorgung damals abzeichnete. Und ebenso klar war, dass die nicht fluchtbedingte Migrationsbewegung jenen Teil des Themas Migration ausmachte, die tatsächlich durch Regeln und Zielvorstellungen politisch steuerbar sind.

Schließlich wurde damals in den 2000er und den 2010er Jahren bereits überdeutlich, dass wir auf eine demografisch immer schwierigere Situation hinsteuern werden, sei es am Arbeitsmarkt, sei es in der Gesundheitsversorgung, sei es in der Sicherung der Pensionen. Denn die Alterspyramide konnte man damals bereits lesen, als einen dringlichen Handlungsauftrag an die Politik.

So konnte als positive Entwicklung vermerkt werden, dass eine Zeitlang all diese auf Fakten orientierten Themen durchaus Relevanz erhielten und etwa neben den Integrations- und Chartaplattformen auch über Einwanderungsregeln debattiert wurde; also klar übersichtliche, nachvollziehbare Zuwanderungsregeln, wie sie etwa in Kanada vorherrschend sind. Freilich aus den ganzen Konzepten, die sowohl von Grüne[19] als auch von Neos[20] vorgelegt wurden, wurde letztlich nichts. Die Themen sind schubalisiert und die Vorschläge sind an den derzeitig bestehenden Regeln (Niederlassungsbewilligung, Rot-weiß-Rot Card, Schlüsselarbeitskräfte) zerschellt.

15 Jahre später ist das Thema nach wie vor unbearbeitet und es dräuen die Katastrophen aufgrund der Pensionierungswelle der Baby Boomer noch viel deutlicher herauf. Die Studien und Untersuchungen[21] werden immer drängender, es wird jedoch weiterhin nur über mögliche Strategien und Absichtserklärungen gesprochen, wie etwa in dem erwähnten ORF Artikel deutlich wird. „Es wird jetzt endlich Zeit, dass …“ seit 15 Jahren geschieht jedoch diesbezüglich wenig. Österreich hinkt hinterher: „Im internationalen Wettbewerb um gut ausgebildete Fachkräfte ist Österreich schlechter aufgestellt als andere Industrieländer, befindet eine aktuelle Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Im Ranking landete Österreich nur auf Platz 26 von 38 Ländern.“[22]

[19] https://www.derstandard.at/story/2467947/gruene-praesentieren-neues-einwanderungsmodell

[20] https://www.neos.eu/programm/themen-a-bis-z/migration

[21] https://www.derstandard.at/story/2000143110024/studie-zu-fachkraeftemangel-jedes-zweite-unternehmen-verliert-umsatz

[22] https://oesterreich.orf.at/stories/3199687/

Die meisten dieser Grundlagen, die in den Jahren zuvor zaghaft entstanden waren, sind mit Eintritt der FPÖ in die Bundesregierung, in Koalition mit der Kurz-ÖVP (Regierung Kurz/ Strache, 2017) endgültig völlig aus dem Blickfeld geraten. Viele der ursprünglichen Grundlagen wurden seitdem regelmäßig von der FPÖ attackiert, mit dem Ziel, dass sie wieder rückgängig gemacht werden sollten, zumindest praktisch unwirksam werden, was ja auch der Fall ist. Kaum jemand redet noch über die Charta des Zusammenlebens. Mittlerweile werden auch noch weitaus gewichtigere, völkerrechtliche Grundlagen, wie die EMRK, die Grundrechtecharta und die GFK sowie der jüngst zustande gekommene Globale Migrationspakt[23] von der FPÖ und auch von der ÖVP[24] frontal angegriffen und in Frage gestellt.

Die FPÖ in der Steiermark fordert regelmäßig, dass die Charta zurück genommen und ungültig wird. Von anderen Kräften innerhalb des politischen Spektrums (etwa SPÖ) werden die Dokumente ungenügend verteidigt und schubladisiert und spielen daher in der Praxis keine Rolle. Das gilt auch für den NAP-I – Nationalen Aktionsplan Integration (siehe Österreichische Bundesregierung) auf Bundesebene. Nach den zahlreichen Initiativen, die anfangs gesetzt wurden, stellen der jährliche Integrationsbericht (siehe auch Expertenrat 2022) und das Statistische Jahrbuch (siehe auch Statistik Austria, 2023) die nahezu einzig, öffentlich wirksamen politischen Ereignisse dar.

Mit der Flüchtlingsbewegung 2015, die über den Balkan nach Österreich kam, wurde ab Herbst 2015 die Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung gedreht; mit ganz bestimmten Worten (Völkerwanderung, Asylflut usw.), Narrativen und Gerüchten[25], die weithin Verbreitung fanden. Leider nutzten und forderten auch Parteien der Mitte, Sozialpartner und Gewerkschaften diese Stimmung und iniitierten politische Angriffe und spileten mit der „Ausländerkeule“[26] (siehe Lercher, 2018).

Migration ist dabei nicht das Allheilmittel, das gibt es im übrigen nicht, wie die Sendung Maithink X in ihrer Folge vom 19.03.2023[27] erhellend aufschlüsselte, aber es ist eine „Stellschraube“ an der Regeln und Maßnahmen gesetzt werden, die das Problem verringern könnten. Wobei das demografische Thema ein Konglomerat an Detailproblemen darstellt, die oft auch isoliert diskutiert werden, jedoch sich einander bedingen und zusammen gehören; Arbeitsmarkt/Wirtschaft, Pensionen, Arbeitskräftemangel, Finanzierung des Umlagesystems, Teilzeitbeschäftigung, Frauenpensionsarmut u.w.

[23] https://www.zdf.de/show/mai-think-x-die-show. Deine Rente ist nicht sicher.

[24] Einige davon wurden in den letzten Jahren auch vor Gericht verhandelt, (siehe https://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/5372796/HandyLuege_Caritas-gewinnt-Klage)

[25] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20180114_OTS0015/max-lercher-die-fpoe-holt-150000-zuwanderer-ins-land

[26] Über diesen Pakt werden wir im nächsten Teil der Serie noch ausfürlicher sprechen.

[27] https://www.derstandard.at/story/2000140852972/warum-die-oevp-eine-debatte-ueber-die-menschenrechtskonvention-losgetreten-hat

Literatur:

Bauböck, Rainer; Ged Valchars (Hg.): Migration & Staatsbürgerschaft, Verlag der Akademie der Wissenschaften, Wien 2021 

Brodnig, Ingrid: Lügen im Netz. Brandstätter Verlag, Wien 2017.

Perchinig, Bernhard: Migration, Integration und Staatsbürgerschaft – was taugen die Begriffe noch? In: Langthaler, Herbert (Hg.): Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde, StudienVerlag Wien, 2010.

Rosenberger, Sieglinde; Gruber, Oliver; Peintinger, Teresa: INEX – Integrationspolitik als Regierungspolitik. Das Staatssekretariat für Integration im Monitoring, Kurzfassung der Forschungsergebnisse, Institut  f. Politikwissenschaft, Uni Wien 2012.

Wehling, Elisabeth: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet. Edition Medienpraxis, Köln, 2016.

Quellen:

Amt der Tiroler Landesregierung (Hg.): Gemeinwohl und Zugehörigkeit stärken. Leitbild zum Zusammenleben in Tirol. Innsbruck 2006, Neufassung 2019.

Expertenrat für Integration: Integrationsbericht 2022. Bundeskanzleramt Wien, 2023.

Land Steiermark (Hg.): Charta des Zusammenlebens in Vielfalt in der Steiermark. Fachab-teilung 6 A – Gesellschaft und Generationen, Referat Integration – Diversität, Graz 2011

Kraler, Albert: The Case of Austria. S. 22-59. In: Zincone, Giovanna; Penninx, Rinus; Borkert, Maren (Hg.): Migration Policymaking in Europa. The dynamics of Actors and Contexts in Past and Present.

Lercher Max: „Die FPÖ holt 150.000 Zuwanderer ins Land“. OTS Presseaussendung, Wien Jänner 2018

Österreichische Bundesregierung: NAP-I, Nationaler Aktionsplan für Integration, Wien 2011.

ORF: Österreichische Medienlandschaft: Klein, konzentriert, kontrolliert. Ö1, Wien, 2017 [http://oe1.orf.at/artikel/633592], (27.03.2023)

Statistik Austria: Migration & Integration. zahlen.daten.indikatoren 2022. Statistik Austria, Wien 2023.

Statistik Austria: Beschäftigung und Arbeitsmarkt. Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften. Wien 2017.

[https://www.statistik.at/web_de/services/stat_uebersichten/beschaeftigung_und_arbeitsmarkt/index.html]

(27.03.2023)