Spiel mit dem Leben Anderer, Teil 2, Kapitel 4

Von Mythen und liebgewonnenen Vorurteilen

Die 1960er und 70er waren die Hochphase eines beispiellosen Wirtschaftsaufschwunges, der 1974 mit der Ölkrise eine erste Delle erhielt. Zwar stagnierte die Wirtschaft damit einige Zeit und erholte sich erst langsam, aber insgesamt war die Wohlstandsmehrung in Österreich auf einem recht hohen Niveau und es ging auch bald wieder weiter aufwärts, wenngleich nicht mehr so steil wie bis dahin.

Dies war davor nicht selbstverständlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der riesigen Zerstörung und dem totalen Zusammenbruch war Österreich ein Land, das unselbständig war, wenig wirtschaftliche Entwicklung vor sich hatte und von hoher Arbeitslosigkeit geprägt war. Auch war das Ungleichgewicht zwischen Österreichs Westen und dem Osten, der zum Teil unter der Sowjetischen Besatzungszone stand, erheblich[1]. Die Sowjets bauten große Teile der Industrieanlagen ab. Das Transportwesen war im Osten völlig zusammengebrochen. Perspektiven eines Aufschwunges als geteiltes Land, waren lange Zeit nicht auszumachen. Der Marshallplan[2] wurde 1947 ausgerufen und 1948 kam er auch für Österreich in Gang. Die Sowjets und ihre Satellitenstaaten nahmen an dem Programm jedoch nicht teil. So war der Marshallplan mittelbar an der Vertiefung des Grabens zwischen „Ost und West“ mit beteiligt und trug zu dem innerösterreichischen Ungleichgewicht erheblich bei. Für die Wiederaufbau Österreichs spielte er jedoch eine große Rolle.

Österreich ist auch ein Auswanderungsland

Kein Wunder also, dass in den Jahren nach dem Krieg viele junge Österreicher*innen wenig Zukunftschancen für sich in Österreich selbst sahen. Dies führte zu einer Abwanderung in klassische Zielländer in Übersee – USA, Kanada, Australien – aber auch im erheblichen Maße nach Deutschland und in die Schweiz. In geringerem Maße gingen Österreicher*innen auch nach Großbritannien, Schweden, Frankreich und Italien. Bis zum Jahr 1961 waren es rund 200.000, die im Ausland lebten. Diese erhöhte sich weiter bis zu den 1970er, insbesondere Deutschland war ein beliebtes Zielland für Österreicher*innen (Münz, Zuser, Kytir, 2003).

Insoferne war die aufkommende und von den Sozialpartnern geplante Zuwanderung Anfang der 1960er, um den Bedarf an Arbeitskräften zu decken, eine neue Situation und Entwicklung. Sie begründete jedoch den Auftakt dazu, dass Österreich zu einem Einwanderungsland wurde. Obwohl das nicht gewollt wurde, stellte es einen Wendepunkte in der Migrationsgeschichte Österreichs dar. Die Abwanderung aus Österreich spielt auch heute eine Rolle. In den letzten Jahrzehnten wanderten regelmäßig zwischen 93.000 und 111.000 Personen aus Österreich weg[3]. Dieser Abgang ist ein Faktum, der in der Migrationsdiskussion in der Regel jedoch keinerlei Bedeutung zugemessen wird. (Fassmann, 1992).

Die Wissenschaft spricht daher auch von Wanderungssaldo, also der Abwanderung und dem Neuzuzug. Stellt man diese beiden Faktoren in Rechnung, so liegt der Zuwachs durchschnittlich zwischen 30.000 und 50.000 Personen. Ausreisser in den letzten Jahren gab es nur in den Jahren 2014 – 2016. In diesem Zeitraum schlug sich die große Flüchtlingsbewegung nieder. So wurde 2015 der Höchstwert von 113.067 Zuwachs registriert. Die aktuelle Ukraine Flüchtlingsbewegung ist in diesen Zahlenbetrachtungen noch nicht enthalten. Anzunehmen ist, das 2022 und 2023 der Saldo ebenso über dem Durchschnitt sein wird, obwohl die Weiterwanderung aus Österreich – insbesondere auch von ukrainischen Kriegsvertriebenen – weiter hoch bleiben wird[4].

Die größte Gruppe der Auswander*innen aus Österreich sind die Österreicher*innen selbst. Im Jahr 2021 waren dies 17.140, gefolgt von Rumän*innen (13.000) und Deutschen (11.000). In diesen Zahlen enthalten sind jene Personen, die etwa in ein Überseeland zur endgültigen Auswanderung gereist sind; oder in ihr ursprüngliches Heimatland zurück gekehrt sind, wenn etwa die Ausbildung/das Studium beendet wurde oder der Job gewechselt wird, was häufig bei internationalen Firmen erfolgt, bei denen das Engagement temporär angelegt ist[5].

Arbeitskräftemangel – die große Überraschung?

Bevor wir einen Sprung in der Historie machen und die Weiterentwicklung ab den späten 1970er uns näher anschauen, sei noch kurz auf ein Blick auf die aktuelle Situation geworfen. Es ist doch einigermassen überraschend, dass gerade in den letzten Jahren der Arbeitskräftemangel in Österreich so akut geworden und öffentlich breit getreten worden ist. Verwunderlich ist dabei insbesondere, dass Teile der Politik und der Medien so tun, als wäre dies ein plötzlich auftauchendes Phänomen; machen doch Expert*innen aus den Fächern, Soziologie, Demografie, Politikwissenschaft, Arbeitsmarktverwaltung und Migrationsforschung schon seit Jahren darauf aufmerksam, dass sich eine dauerhafte Veränderung am Arbeitsmarkt einstellen wird, die sich aus folgenden Komponenten speist:

a. Die Alterspyramide

Die Jahrgänge der sogenannten Babyboomer*innen kommen in die Pensionsjahre und verlassen den Arbeitsmarkt. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken. Am Arbeitsmarkt zeigt sich das an Pensionierungen im Bereich der Verwaltung, der Bildung und in vielen anderen Feldern[6]. Dies erzeugt seit Jahren einen zunehmenden Bedarf an Maßnahmen, um die offenen Stellen nachzubesetzen. Dies auch deswegen, weil in manchen Bereichen die ehemalig vorhandenen Jobs zwar verschwinden, auf der anderer Seite jedoch der Bedarf an neuen, anderen Jobs (IT-Branche) stetig steigen.

Dieser Trend wirkt sich vor allem auf das Pensionssystem aus, das näher zu erläutern, würde hier zu weit führen. Da es sich aber um ein vernetztes und abhängiges System handelt, muss es miteinander gedacht werden, da immer Auswirkungen auf andere Felder/Bereiche zu verzeichnen sind. Eine Maßnahme, die immer wieder diskutiert wird und auch umgesetzt wird, ist die Arbeitszeit zu verlängern und die Menschen länger im Job zu halten. Ob das – genau aus diesen zuvor erwähnten vernetzten Gründen – eine Wende für den Arbeitsmarkt bringt, darf und muss bezweifelt werden. In bestimmten Segmenten und Fällen würde es vielleicht entspannen. Dort, wo Menschen noch fit genug für Jobs sind und die Bedingungen – etwa flexiblere Arbeitszeiten, mehr Ruhepausen, kürzere Wochenarbeitszeit und dgl. – von Seiten der Arbeitgeber auf die neue Situation angepasst worden sind. Dies ist aber derzeit eher die Ausnahme, viele Menschen erreichen das Pensionsantrittsalter gar nicht [7].


[1] https://hdgoe.at/auswanderung-oesterreich

[2] https://hdgoe.at/marshallplan

[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/718014/umfrage/auswanderer-aus-oesterreich/

[4] https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bevoelkerung/migration-und-einbuergerung/wanderungen-mit-dem-ausland

[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/718036/umfrage/auswanderer-aus-oesterreich-nach-staatsangehoerigkeiten/

[6] https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/bevoelkerung/bevoelkerungsstand/bevoelkerung-nach-alter/geschlecht

[7] https://oe1.orf.at/programm/20230125#706409/Die-Zukunft-der-Arbeit-und-wer-sie-machen-soll

b. Die Alterszusammensetzung

Dabei gibt es einige gegensätzliche und widersprüchliche Faktoren. Einerseits verlassen immer mehr Menschen den Arbeitsmarkt aufgrund des Alters (Pensionierungen), andererseits steigt vor allem durch Migration der Anteil der jungen Menschen, die eine Berufskarriere gerade erst beginnen und in eine Erwerbskarriere einsteigen.

Dabei steht das restriktive Asyl- und Fremdenrechtswesen sowie die restriktiven Zuwanderungsregeln in Österreich einer zukunftsorientierten Planung entgegen (siehe Aichinger, Hintermeier, Siess, 2023). Viele tausende junge Menschen, die entweder als Asylwerbende und Unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge (UMF) oder als Familienmitglieder nach Österreich gekommen sind, wird der Einstieg in eine schulische und berufliche Karriere bedrohlich schwer gemacht. Menschen, die dringend am Arbeitsmarkt gebraucht würden, werden lieber in einem Arbeitsverbot gehalten bzw. überhaupt mit der Abschiebung gedroht[8].

c. Der Arbeitsmarkt verändert sich

Der Arbeitsmarkt verändert sich rasant, die Digitalisierung, die Technisierung und Mulitnationalisierung von Geschäftszweigen schreitet voran. Der Online Handel boomt[9]. Immer öfter werden Jobs vorrangig über Fertigkeiten in der IT-Branche definiert, das gilt sowohl für Handwerk, für Verwaltungsberufe, als auch für Hilfsarbeiten. Ein/e Automechaniker*in kommt heute ohne IT-Fertigkeiten genauso wenig aus, wie ein Zustelldienst oder eine Person im Pflege- und Gesundheitsberuf. Dieser Trend wird sich noch verstärken[10].

Damit fallen eine Reihe von Berufen entweder überhaupt weg und verschwinden langsam aber sicher. Die These, das durch Digitalisierung und Rationalisierung ein Rückgang von Stellen einher gehen wird, ist bis jetzt jedoch nicht eingetreten. Sehr wohl aber verändern sie sich. Es müssen neue Arbeitsprofile geschaffen werden. Ein weiterer Trend, der bemerkbar ist, Berufe, die bis dato schon wichtig waren, gewinnen weiter an Bedeutung, etwa Berufe in der Bildung, dem Sozial- und Gesundheitssektor. Diese, wie wir an der Pflegekräftediskussion unschwer erkennen konnten, sind für die Gesellschaft hoch relevante Jobs, jedoch im Sozialprestige, der Aufmerksamkeit und der Bezahlung benachteiligt. In hohem Maß korrelliert das mit typischen „Frauenberufen“[11] und „Migrant*innenjobs“.

Das sind in der Regel auch Branchen, die personalintensiv sind und die technische, digitale Innovation und Rationalisierung nur in beschränkten Ausmaß durchführen können. Die Baubranche ist dabei ebenso zu nennen, wie der Gesundheitsbereich und die Gastronomie. Zwar wird auch dort versucht, Technologie immer mehr einzusetzen, aber hier ist der Mensch als wesentlicher Faktor im Moment noch substantiell nicht zu ersetzen.


d. Das Bildungssystem verändert sich beinahe nicht

Eines der schwerwiegendsten Versäumnisse der letzten Jahrzehnte. Das österreichische Bildungssystem ist archaisch konservativ auf einem Schulsystem aufgebaut, das soziale Durchlässigkeit verhindert und auf Selektion aufgebaut ist. Hier ist zu nennen, die frühe Trennung von Volks- und Mittelschule bzw. Gymnasium, ein erheblicher Teil der Schulen ist darauf aufgebaut, dass Eltern und insbesondere Frauen/Mütter die Betreuungspflichten und die Schulunterstützung übernehmen. Dazu kommt ein selektierter Bildungskanon, der in 45 Minuten Einheiten zerstückelt ist und eine Fixierung einer bürgerlichen Bildungsschicht, deren Ziel es ist, die Matura zu erreichen und damit ein Studium zu verfolgen.

Sowohl schulische Bildung als auch der tertiäre Bildungssektor sowie die Erwachsenenbildung sind damit konfrontiert, dass neue Qualifikationsprofile und damit einhegehend auch veränderte Curricula und Lehrinhalte notwendig wären[12]. Der Bildungspfad, der in Österreich als anzustreben gilt – Volksschule, Gymnasium, Studium – ist für bestimmte Sektore der Arbeitsplätze relevant, aber der weitaus größere Teil benötigt andere Qualifkationen. Große Image- und Prestigeprobleme weisen hingegen Handwerks- und Lehrberufe auf, die jedoch wie sich immer bei Krisen zeigt, rar gesät sind und das Werkl am Laufen halten. Sei es bei Schneefällen und der Reparatur des Stromnetzes, in der Altenpflege, im Handel oder dem gesamten Gesundheitssystem, um nur einige zu nennen.

Die nach wie vor erhebliche Benachteiligung und damit fehlende Beteiligung bzw. der hohe Anteil an Teilzeitbeschäftigung von Frauen am Arbeitsmarkt runden das Desaster, das auf uns zu kommt, ab. Die Debatte um eine Reform der Bildungspolitik führte hier zu weit weg, klar ist jedenfalls, dass diese erwähnte Selektion auch und besonders, neben Kinder aus einkommensschwachen Arbeiterfamilien, Migrant*innenfamilien hart trifft (Erkurt, 2020).


e. Die Migrationspolitik verändert sich ebenso nicht

Wir haben, wie schon ausgeführt, bereits seit den frühen 1960er, inklusive der regelmäßig wiederkehrenden Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahrzehnte längst einen erheblichen Teil an Migration und eine diversifizierte und multiethnische, -religiöse Gesellschaft. Ohne diese wäre das „System Österreich“ schon längst nicht mehr funktionabel. Gleichzeitig tut das offizielle Österreich sich nach wie vor schwer, dies zu akzeptieren und anzuerkennen. „Wir“[13] tun noch immer so, als wären wir alle weiß, katholisch, männlich, deutschsprachig und lebten auf idyllischen Bauernhöfen oder kleinen Dörfern inmitten der Berge. Die Fakten sprechen jedoch eindeutig dagegen. Dieses Bild existiert nicht, dennoch wird danach Politik gemacht.

Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich seit Jahren schleichend verändert, der Arbeitskräftemangel ist mittlerweile in vielen Branchen evident und behindert nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern auch die wirtschaftliche Weiterentwicklung, gerade auch in Bezug auf den Umbau der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hin zu einer ökologisch-nachhaltigen Kreislaufwirtschaft.


[8] https://www.asyl.at/de/themen/arbeitsmarktzugang/

[9] https://www.everbill.com/ecommerce-online-handel/

[10] https://www.bpb.de/themen/arbeit/arbeitsmarktpolitik/316908/digitalisierung-und-der-arbeitsmarkt/

[11] https://www.derstandard.at/story/2000124749713/fruehe-berufswahl-fuehrt-zu-trennung-in-maenner-und-frauenberufe

[12] https://erwachsenenbildung.at/aktuell/nachrichten/13223-welche-kompetenzen-wuenschen-sich-arbeitgeberinnenc.php

[13] Das „Wir“ ist hier nur eine ungenügende Beschreibung der vielen verschiedenen politischen und öffentlichen Kräfte in den Debatten in Österreich, an der Politik, Verwaltung, Sozialpartner, Medien, aber auch die verschiedenen Spähren der Öffentlichkeit und zumindest Teile der Bevölkerung teilnehmen.

Migrationspolitik ist in diese Themen mit eingebettet und davon nicht löszulösen. Vor Jahrzehnten war das Argument, dass „neu hinzuziehende Migrant*innen alteingesessenen Migrant*innen und ungelernten Hilfsarbeiter*innen die Arbeitsplätze wegnehmen, nicht gänzlich falsch, zumindest für bestimmte Segmente des Arbeitsmarktes, so hat sich das ins Gegenteil gedreht. Neuzuwander*innen sind ein wesentliches Element, die zur Ausweitung und Innovation und damit zur Arbeitsplatzschaffung und prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklungen führen. Österreich nützt diese Möglichkeit jedoch nicht; im Gegenteil das rechts-konservative Narrativ der Abschottung und Isolation lässt die aktuellen Herauforderungen am Arbeitsmarkt nur noch stärker werden.

Anläufe gab es immer wieder

Wenngleich es immer wieder Zeiträume gab, in den die Migrations- und Integrationspolitik einen Anlauf nahm (Mitte der 1990er etwa oder rund um den Beitritt zur oder der Erweiterung der EU/2004)[14] so bleibt doch im wesentlichen eine Haltung über, die rassistisch konnotiert und mit Überlegenheitsfantasien ausgestattet ist, die vermeintlich dazu befähigt, Arbeitskräfte beliebig und nach utilitaristischen Gesichtspunkten zu „verwenden“.

Sie ist aber gleichzeitig geprägt, von Restriktionen und Abwehr gegenüber Zuwanderung, Inklusion/Integration und des dauernden Aufenthaltes von Zugewanderten, denn das würde die Neuzugewanderten mit gleichen Rechten austatten. Anhand der Staatsbürgerschaftsdebatte sieht man dies am deutlichsten. Eine Integration, das dem Begriff gerecht wird, ist von weiten Teilen der Politik nicht gewollt (Siehe Gruber, Rosenberger 2015).

Müsste doch die offizielle Politik und Verwaltung – angesichts der Entwicklungen am Arbeitsmarkt – schon längst eine Kehrtwende vornehmen. Abbau von gesetzlichen Restriktionen und Hürden, Bürokratievereinfachung, gezielte Pläne und Konzepte, um benötigte Arbeitskräfte ins Land zu holen, Potenziale heben bei jenen, die chon im Land sind u.v.m. (dazu in einem der nächsten Teile der Serie mehr).

Und so dümpelt die österreichische Politik weiter im Sumpf des Jammerns über die Veränderungen, Beharrens auf unbrauchbare und abweisende Gesetze, sowie auf Mythen und Angstszenarien, die zwar für den Boulevard und das Ressentiment tauglich sind jedoch keinerlei Problemlösungskompetenz für die Jetztzeit anzubieten haben.

Beispiele dazu gefällig? Die SPÖ operiert noch immer oder in den 2020er wieder mit einem Slogan, den sie in den 1990er – als sie noch die Innenminister stellte – kreiert hat und der damals schon falsch war: Integration vor Neuzuzug (dazu etwas später mehr). Die aktuelle Rergierungskoalition wiederum hat nichts anderes zu bieten, als militärische, restriktive und untaugliche bürokratische Lösungen, die nachweislich in den letzten Jahrzehnten viel Geld verschlungen haben, den Apparat weiter aufgebläht haben, jedoch kaum etwas zur Lösung der Probleme beigetragen hat und viel öfter lediglich populistische Ankündigungspolitik darstellte.

Im folgenden möchte ich auf diese Floskeln und Phrasen, die aufgrund von gefühlsmässigen – eher faktenbefreiter – Politik fußen und seitdem wiederholt werden, unabhängig davon ob sie richtig sind, geschweige denn irgend etwas bewirken, eingehen.

Integration vor Neuzuzug?

Eine Floskel, die in der harschen Phase des Aufstiegs von Jörg Haider (FPÖ/BZÖ) in den 1990er in der Schwarz/roten Regierungskoalition entwickelt worden ist und vor allem von der roten Regierungshälfte propagiert wurde, die damals die Innen- und Sozialminister (sic!) stellte, ist die „Integration vor Neuzuzug“[15]. Um den populistischem Druck von rechter und rechtsextremer Seite stand zu halten, wurde einerseits der Haider FPÖ recht und nach gegeben, ihrem Narrativ folgend, dass man den Neuzuzug, insbesondere auch über das Asylverfahren/-recht eindämmen müsse.

Letzlich glaubte auch die SPÖ daran, dass es eine „Grenze der Aufnahmekapazität“ gäbe. In diesen Jahren kamen vor allem viele Flüchtling aus den Jugoslawienkriegen nach Österreich. Kein Wort darüber wurde darüber verloren, dass „Kapazitäten“ flexibel sind, gestaltbar, von Politik, Medien, öffentlicher Stimmung und Zivilgesellschaft entwickelt oder behindert werden können.


Der schnelle Anstieg von Kriegsflüchtlingen und das rasche Füllen der Unterbringungen, die vom Staat zur Verfügung gestellt wurden, schien die These zu stützen. Wäre nicht die Zivilgesellschaft und die „jugoslawische Community“ gewesen, die Flüchtlinge, die zum Teil ihre Verwandten und Freund*innen waren, aufnahm, wären die Kapazitäten rasch voll gewesen.

Auf der anderen Seite wollte die SPÖ eine humane Seite, als Gegenkonzept zur FPÖ, präsentieren und der Tatsache gerecht werden, dass Österreich zu einem Einwanderungsland geworden war. Dass getraute sich die SPÖ Führung nicht laut sagen, aber gleichzeitig wußte man, dass man auf dem Arbeitsmarkt und in anderern Feldern etwas unternehmen werden musste, wollte man nicht eine prekäre, isolierte und entrechtete Arbeiter*innenschicht größer werden lassen, die den Druck auf die Arbeitnehmer*innenrechte in Österreich verstärken, weil eine hohe Verfügbarkeit für den – auch illegalen Arbeitsmarkt (Pfusch) – bestand.

Also führte man den Begriff der Integration ein und meinte damit eine politische Doppelstrategie gefunden zu haben, um beiden auseinanderstrebendenen Tendenzen, die es auch in der SPÖ gab und gibt, bei Laune zu halten. Diese Strategie spielgt sich auch in den Gesetzespakten Mitte der 1990er Jahre wider, in denen die restriktiven Verschärfungen – insbesondere im Asylrecht – weiter voran getrieben wurden. Was jedoch nicht zur Befriedung der rechten Seite, sondern nur zum Vorwurf der halbherzigen Komprisse und zu weiteren und immer inhumaneren Forderungen und Verschärfungen führte. Auf der anderen Seite war erstmal von Integrationsmaßnahmen und von aufenthaltsverfestigenden Maßnahmen die Rede. In der Regierungspolitik ein Novum. Ergebnis war unter anderem das Niederlassungsgesetz (1997).

Die ganze Angelegenheit mit dem Slogan hat nur einen Haken. Er ist faktenbefreit und hat keinerlei Aspekt auf Aussicht eines Erfolges. Wir kommen zum Begriff der Integration; der in einem späteren Teil der Serie noch detailierter untersucht wird. Auf eine Kurzformel kann man Integration jedoch herunter brechen. Es bedeutet im wesentlichen Aufstieg. Damit ist vordergründig einmal ein wirtschaftlich-ökonomischer Aspekt gemeint, kann jedoch viele andere Bereiche umfassen. Migrationsgesellschaften klassischer Art weisen das häufigste Szenario auf, dass Neuankömmlinge in untersten Segmenten des Arbeitsmarktes Fuß fassen; als Taxifahrer*innen, als Tellerwäscher*innen, als Putzkräfte usw. Bereiche des Arbeitsmarktes, die zum Teil illegal sind, auf jeden Fall prekär, niedrig entlohnt sind und in denen man keine Vorbildung braucht.

[14] Etwa durch den sogenannten MIPEX – europäischen Integrationsindex erhoben, siehe auch: https://www.mipex.eu/integrationsindex-oesterreich-im-eu-ranking-vorletzter-stelle

[15] https://www.profil.at/oesterreich/integration-migration-asylkonzept-spoe-10343294

Jene, die das vorher gemacht haben, ebenfalls zumeist Migrant*innen, die schon etwas länger da sind und daher sich sprachlich schon etwas besser ausdrücken können und eventuell sogar schon eine Ausbildung begonnen haben und eine Nostrifikation ihrer mitgebrachten Fähigkeiten anstreben, steigen eine Stufe höher, entweder im gleichen Bereich oder sie wechseln den Job, hin zu einem besseren. Dadurch entsteht eine Rotation, die die meisten langsam aber sicher nach oben führt; sie werden unmittelbare Vorgesetzte, jene die vorher ihre unmittelbaren Vorgesetzten waren, steigen ebenfalls auf.

Bei durchlässigen, liberalen Gesellschaftsmodellen, wie es etwa die USA früher waren, ist das ein akzeptiertes und funktionierendes „Integrationsmodell“. Der Aufstieg und die Möglichkeiten sich weiter zu bilden, Unternehmen zu gründen oder in der Hierarchie aufzusteigen, ist möglich.

Im Gegensatz dazu ist Österreich das genau Gegenteil. Hier wird es Einsteiger*innen sehr schwer gemacht und die Aufstiegschancen sind gering. Studien zufolge stecken Migrant*innen, die als „Gastarbeiter*innen“ gekommen waren, 20-30 Jahre später überwiegend in den gleichen Jobs fest.

Ihr Aufenthalt war verfestigt und sie erhielten mit den Jahren mehr Lohn, aber ihr Job war überwiegend noch immer der gleiche gering bewertete Hilfsarbeiter*innenjob (Fassmann, 2006). Ein Aufstieg gelang nur unter großen Anstrengungen und mit außergewöhnlicher Willenskraft. Oft sogar erst in der zweiten Generation.

Erhöhte Arbeitswilligkeit

Mit dem Inkrafttreten des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (AuslbG) 1975, (siehe Teil 2, Kap. 2 der Serie) wurde ein System der Kontrolle und Reglementierung geschaffen, das ursprünglich von lauteren Motiven getragen war. Besonders die Gewerkschaften und Arbeiterkammer, also die der Arbeiterbewegung nahestehenden Sozialpartner waren bemüht, Ausbeutung hinanzustellen.

Denn je weniger regelmentiert und leichter neue Arbeitskräfte geholt werden können, desto leichter entstehen Zustände am Arbeitsmarkt, die Ausbeutung forcieren. Daher waren die „linken“ Sozialpartner darauf bedacht, den Arbeitsmarkt zu kontrollieren und in Verbindung mit dem Aufenthalt, einer zugewiesenen Arbeitsstelle und einem nachgewiesenen Wohnraum sollte damit Ausbeutung vermieden, minimiert werden.

Was damit jedoch im Laufe der Zeit erzeugt wurde, war ein segmentierter Arbeitsmarkt. Bewilligungen für Neuzuwanderer waren nur in bestimmten Segmenten und Branchen erhältlich, ganz dem Postulat der Beachtung der Lage auf dem Arbeitsmarkt[16] folgend. Durch diese Regulierung erhielten Migrant*innen die Bewilligung durch das AuslbG nur in bestimmten Bereichen Hilfsarbeiter*innenjobs, Küchenhilfen, Putzjobs. Typische Migrant*innenjobs, vormals Gastarbeiter*innenjobs zeichnen sich durch geringes Lohn- und technisches Niveau aus (Siehe auch Nowotny 2006).

Durch die Bewilligungspolitik des AMS entwickelte sich ein Hilfsarbeiter*innen- und Anlernsegment. Dort erhielten Migrant*innen eine Bewilligung und nur dort, auch wenn sie weit darüber qualifiziert waren. Gudrun Biffl[17], damals beim Wirtschaftsförderungsinstitut (WIFO) tätig, fand heraus, dass 2/3 der ausländischen Beschäftigten in nur sechs Branchen und dort überwiegend in Anlern- und Hilfsarbeiter*innensegment tätig waren: Leder, Textil, Bau, Baunebengewerbe, Gastgewerbe und Tourismus (Biffl 1985).


August Gächter, früherer Mitarbeiter des Institutes für Höhere Studien (IHS) und dem Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) in Wien und Experte für Fragen des Arbeitsmarktes und der Migration, erforschte und skizzierte diesen Kreislauf der „erhöhten Arbeitswilligkeit“

Ein Ausländer (sic!) muss schneller zu einem Job kommen als ein Österreicher. Es besteht ein erhöhtes Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber[18]. Die Drohung, die Beschäftigungsbewilligung einseitig einfach auflösen zu können, ist verschärfend für diesen Zustand, denn verliert der Ausländer den Job, ist auch sein Aufenthalt in Gefahr und natürlich auch seine Wohnunterkunft. Daher ist er in höherem Ausmaß bereit, Jobs anzunehmen, die schlecht bezahlt oder gefährlich sind. Dazu kommt, dass er keine gewerkschaftliche Vertretung besitzt – Migrant*innen sind vom passiven Wahlrecht[19] ausgeschlossen und können daher viele Ansprüche einfach nicht einfordern bzw. erhalten durch die zuvor erwähnte Abhängigkeit diese nicht. Nach dem Motto: „Es warten viele andere auf einen Job, wenn es dir nicht passt, kannst du jederzeit gehen“ (siehe Gulis, 2001).

Im Rückblick stellte diese Form der Arbeitsmarktregulierung eine fatale Lösung dar. Die große Anzahl der damals in den Arbeitsmarkt kommenden Migrant*innen hing in den zuvor genannten Arbeitsmarktsegmenten fest. Sie kamen selten voran, waren von Karriereschritten, von Bildungsmaßnahmen ausgeschlossen, mussten sich mühsam in der Hierarchie der Ausländerbeschäftigungserleichterungen (Arbeitserlaubnis und Befreiungsschein) hochkämpfen und blieben auch in ihrer Lohnentwicklung zurück. Somit wurden sie zu einer vierten, abhängigen und potenziell armutsgefährdeten Schicht gemacht, neben den Arbeiter*innen, den Angestellten und den Beamten.

Diese Anbindung und enge Kontrolle wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder kritisiert, zumal damit auch eine Dequalifizierung einher ging. Viele der „Hilfsarbeiter*innen“ verloren ihre ursprünglichen Qualifikationen und Fertigkeiten, konnten auch oft diese nicht nachweisen, bzw. deren Zertifikate wurden in Österreich nicht anerkannt.

Für die Unternehmen war das Bewilligungsverfahren ein willkommenes Instrument der Profitmaximierung, denn sie erhielten oft ausgebildete Fachkräfte zu einer viel niedrigeren Einstufung, Abhängigkeit des Beschäftigten (da ja sie als Arbeitgeber die Erlaubnis erhielten) und einem geringeren Salär. Aus Sicht der österreichischen Wirtschaft kann man sagen: Was will man mehr!

Diese guten Bedingungen drücken sich auch darin aus, dass im Gegensatz zur herrschenden Meinung – Zuwanderung würde die Wirtschaft gefährden – das Gegenteil der Fall ist. In der Regel ist es so, dass größere Zuwanderungs- und Flüchtlingsbewegungen die Wirtschaft ankurbeln. Gächter untersuchte das anhand der Flüchtlingsbewegung aus dem Ex-Jugoslawien ab 1992. Alle Prognosen gingen davon aus, dass die Wirtschaft in Österreich stagniere, wenn nicht sogar sinken würde. Am Ende des Jahres 1993 war die Wirtschaft nicht geschrumpft, sondern um 1,6 % gestiegen (Siehe Gächter 2012).


[16] Ein wichtiger Kernindikator im AuslbG

[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Gudrun_Biffl

[18] Durch das Bewilligungsverfahren im AuslbG, dass dem Arbeitgeber in eine zentrale Position rückt. 

[19] Frühere Rechtslage, mittlerweile ist das passive Wahlrecht durchgesetzt. Siehe auch: https://www.oegb.at/themen/gleichstellung/antidiskriminierung/migrantinnen-in-der-gewerkschaft

Literatur:

Aichinger, Elisa; Hintermeier, Katrin; Siess, Katharina: Neue Perspektiven und ungenutzte Potenziale. Integration von Menschen mit Fluchthintergrund am österreichischen Arbeitsmarkt. Deloitte Consulting Österreich, Sindbad – Social Business, Wien 2023.

Biffl, Gudrun: Die Entwicklung der Ausländerbeschäftigung in den wichtigsten europäischen Industriestaaten. In: Monatsbericht des Wifo. Wien 1985  

Erkurt, Melisa: Generation Haram. Warum Schule lernen muss, Allen eine Stimme zu geben. Zsolnay Verlag, Wien 2020.

Faßmann, Heinz: Funktion und Bedeutung der Arbeitsmigration nach Österreich. S. 100-110. In: Althaler, Karl, S.; Hohenwarter, Andrea (Hg.): Torschluß. Wanderungsbewegungen und Politik in Österreich. Verlag f. Gesellschaftskritik, Wien 1992.

Gächter, August: „Migrationspolitik in Österreich seit 1945“. Arbeitspapiere Migration und soziale Mobilität, Nr.12. Wien 2008.

Gächter, August: Was braucht eine Gesellschaft, die fit sein soll für Einwanderung? S. 42 – 50. In: Ikemba (Hg.): „Fit für Vielfalt?“ Tagung anläßlich des 5-jährigen Bestehens des Vereins Ikemba, Tagungsdokumentation. Eigenverlag Graz, 2012.

Gruber, Oliver; Rosenberger, Sieglinde: Ein Staatssekreatriat für Integration: Integrationspolitik in Bewegung. Forschungsbericht. Inex-The Politics of Inclusion and Exclusion. Uni Wien 2015.

Gulis, Wolfgang: Von der Gastarbeiterpolitik zu einer Einwanderungspolitik? In: Diversity Management. Kulturelle Vielfalt am Arbeitsplatz nutzen, Zebratl Spezial, Dokumentation, Graz 2001.

Münz, Rainer; Zuser, Peter; Kytir, Josef: Grenzüberschreitende Wanderungen und ausländische Wohnbevölkerung: Struktur und Entwicklung. In: Fassmann, Heinz; Stacher, Irene (Hg.): Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht, Drava Verlag, Celovec/Klagenfurt – Wien, 2003

Nowotny, Ingrid: Das Ausländerbeschäftigungsgesetz: Die Regelung des Zugangs von AusländerInnen zum österreichischen Arbeitsmarkt. S. 47 – 73. In: Fassmann, Heinz (Hg.): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht, Drava Verlag, Celovec/Klagenfurt – Wien, 2006