Spiel mit dem Leben Anderer, Teil 2, Kapitel 1

Einführung

Im zweiten Teil der Serie „Spiel mit dem Leben Anderer“ verlassen wir die Asyl- und Fluchtbewegungsthematik, die wir im ersten Teil so ausführlich bearbeitet haben und wenden uns jenem Thema zu, das öffentlich eher ein Schattendasein führt, in der Praxis und im Alltag jedoch eine mindestens ebenso große Bedeutung hat; die nicht fluchtbedingte Migration.

Man spricht oft von „freiwilliger Migration“, wobei dieser Begriff irreführend ist und unscharf. Denn freiwillig klingt denn doch insgesamt zu positiv für die vielfältigen und unterschiedlichen Formen von Migration, die bei weitem nicht alle positiv sind, sondern eher akuten Notsituationen und Mängeln entspringt.

Wie so vieles in den Debatten, so auch in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der verschiedenen Disziplinen, ist die Unterscheidung nicht ganz so leicht. So genau abgrenzbar ist es nicht. Die Begriffe verschwimmen zwischen freiwilliger und  erzwungener Migration.

Vielfach wird Migration auch als Überbegriff[1] verwendet, der alle Formen der Migration, seien sie freiwillig oder unfreiwillig inkludiert. Flucht wäre dann – nach dieser Einteilung – eine Unterkategorie innerhalb des Begriffes Migration. Im folgenden verwende ich den Begriff Migration jedoch nicht als Überbegriff sondern als Unterscheidung zur unfreiwilligen, erzwungenen Flucht. Wenn jetzt im zweiten Kapitel der Serie von Migrationsbewegungen gesprochen wird, so sind damit Vorgänge gemeint, die aufgrund von vielfältigen Beweggründen in Gang gesetzt wurden, die zumindest einen größeren Anteil an Entscheidungsmöglichkeit enthält; also Menschen sich bewußt für die Auswanderung entschieden haben. Unter diese Kategorie fallen Migrationsformen aufgrund von Arbeit, der Bildung, des Familiennachzuges, von Familiengründung (Partnerschaft) usw.

Nicht als Migration verstanden werden im Verlauf dieser Serie Auslandsaufenthalte aufgrund einer Reise, eines Urlaubs oder Besuches, eines Auslandsaufenthaltes; selbst wenn diese mehrere Wochen oder sogar Monate – wie etwa bei einem Auslandssemesters während des Studiums – dauern. So bereichernd und interessant diese auch sein mögen, der Auslandsaufenthalt ist doch zeitlich begrenzt und vorhersehbar.

Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es auch dabei verschwimmende Grenzen gibt; etwa wenn Diplomat*innen oder Angehörige von internationalen Organisationen geplanterweise mehrere Jahre im Ausland leben und nach drei – vier Jahren das Land wieder verlassen oder Personen die auf Montage sind oder innerhalb ihres Unternehmens in verschiedenen Niederlassungen in anderen Länder arbeiten, sogenannte Expats.[2]


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Migration

[2] https://www.ikud.de/glossar/expatriate-expats-definition.html

Definitionen sind fließend

Auch die Grenze zwischen Flucht – also erzwungener – und selbst gewählter Migration ist fließend. Je nachdem was man als berechtigen, legitimen Fluchtgrund ansieht und je nachdem wie Gründe und Ursachen für eine Auswanderung zusammenhängen, fällt oft auch das juristische Urteil und bestimmt die „Einteilung“ der Beweggründe.

Im Asylverfahren etwa wird jeder Anschein von wirtschaftlichen Gründen für das Verlassen des Heimatlandes kategorisch als Asylverweigerungsgrund angesehen. Viele Länder, aus denen heute Menschen Asylanträge in Österreich stellen, kommen aus Ländern, die – ohne genauere Kenntnisse der Lage vor Ort – als lebensunwürdige Staaten bezeichnet werden müssen, in denen die soziale, menschenrechtliche und wirtschaftliche Lage schlichtweg eine Katastrophe ist. Dennoch erhalten sie überwiegend kein Asyl. Das hängt auch mit einer sehr rigiden und immer rigider werdenden Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zusammen, die größere, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge und Wirkweisen ausblendet.

Politische Repression geht oft Hand in Hand mit der Zerstörung von ökonomischen Grundlagen, Vertreibung führt dazu, dass die wirtschaftliche Existenz vernichtet wird. Viele autokratische und totalitäre Regime setzen dies gezielt gegen Minderheiten oder Oppositionelle ein: so etwa die Türkei gegen die kurdische Minderheit, deren ökonomische Grundlagen seit Jahrzehnten systematisch untergraben und zerstört werden. Ähnliches gilt etwa auch für das birmische Regime gegen die Rohingya oder in China gegen die muslimische Minderheit der Uiguren.

Aus- und Einwanderung hat eine lange Geschichte und gehört, ebenso wie die Sesshafwerdung, zur Menschheitsgeschichte dazu. Die Ursachen sind vielfältig, wir finden die Auswanderung aufgrund von religiöser Verfolgung (England, Deutschland) genauso, wie aufgrund von Hunger und Armut (Irland, Italien im 19.Jhdt.). Beides waren wesentliche Aspekte der Auswanderung nach Übersee. Aber auch das Versprechen auf einen Neuanfang, auf eine neue Zukunft, etwa bei den Kolonialisierungen spielte das eine wichtige Rolle, um neues Land zu kolonialisieren, auszubeuten und zu besiedeln oder in einen neuen, jungen Staat; wie dies etwa bei den USA der Fall war. Immer spielt die Hoffnung, die Verheißung, der Mythos auf ein neues, besseres Leben und das alte abschütteln zu können, mit eine wichtig Rolle.

Migration hat oftmals eine politische Dimension und wird mitunter gezielt eingesetzt. Etwa dann, wenn die ethnische Zusammensetzung eines Staates, einer Region verändert werde soll und Kolonisation voran getrieben wird. Besonders perfides brutales Vorgehen konnte man dabei vom NS-Regime beobachten, das „den Osten“ als Wirtschaftsraum erobern wollte und der „Osten“ den deutschen Staatsbürger*innen zur Auswanderung mit allerlei Privilegien und Verheißungen schmackhaft gemacht wurde. Auch der italienische Staat förderte nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zuerkennung Südtirols zu Italien – natürlich weit weniger brutal als das NS Regime, aber dennoch – die Zuwanderung nach Südtirol, gezielt aus den ärmeren, südlichen Regionen, um die Dominanz der deutschsprachigen Bevölkerung zu brechen.

Gezielte Förderung von Migration

Aber Staaten haben noch aus anderen Motiven Interesse daran, Migration gezielt zu fördern und/oder zu unterstützen. Gerade bei der jüngeren österreichischen Migrationsgeschichte sticht dabei die gezielte Anwerbung von Arbeitsmigration heraus, um den Arbeitskräftemangel, der damals in Österreich herrschte, zu kompensieren. Im Jahre 1961 entstand die später als Gastarbeiterbewegung bekannt gewordene neuere Migrationsgeschichte Österreichs, die hauptsächlich aus jugoslawischen und türkischen Gastarbeiter*innen bestand. Dazu aber in einem der nächsten Teile mehr.

Ebenso wie die länderübergreifende Migration ist auf die sogenannte Binnenmigration hinzuweisen. Jene Migration, die wir in Österreich ebenso häufig vorfinden, wie in anderen Ländern. Dabei fällt insbesondere die Land – Stadtwanderung auf, die einem Prinzip von Migrationsursachen folgt, nämlich jener nach der Anziehungskraft von Ballungsräumen, dort wo Ausbildung stattfindet und Arbeit gefunden werden kann; oder zumindest die Hoffnung darauf genährt wird, diese zu finden. Daher sind Städte wie Wien Ziel- und Hoffnungspunkte der Wanderung. Die Zuwanderung ist dort größer als anderswo. Aber auch bei kleineren Städte, wie Graz und Linz lässt sich diese Anziehungskraft nachweisen; etwa bei der großen Zahl von Kärntner*innen, die nach Graz wegen des Studiums gekommen sind. Dieses Prinzip kann man als Regel aus der Mirgationsforschung herauslesen.

Wir wissen aus der Vergangenheit, dass diese Hoffnungen oftmals nicht erfüllt worden sind, dass die Zuwanderung in große Ballungsräume wie in England in Zeiten des „Manchester Kapitalismusses“ des 19. Jahrhunderts oder nach Wien in die damalige Hauptstadt des Kaiserreiches, zu großer Armut, zu schlimmen sozialen Verwerfungen, Ausbeutung, zu hoher Kindersterblichkeit und schlechter gesundheitlicher Versorgung der Zugewanderten geführt hat.

Aber und das ist wohl auch typische für die Widersprüchlichkeit von Migration, es führte und führt zu einem gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg Einzelner und einem Mehrwert für die Volkswirtschaften. Aus Migration entstanden oft Impulse für die Gesellschaft und förderten Bereicherung und Fortschritt der Gesellschaft, sei es in geistiger Hinsicht, durch Erfindungen, Wissenschaft und Technik, sei es durch innovatives Unternehmertum, sei es durch den Wunsch, die politischen Entwicklungen voranzutreiben, die durch die Migration offen gelegt wurde.

Das Entstehen der Sozialdemokratie und die Entwicklung zu einer großen „Volkspartei“ mit Regierungsbeteiligung und erheblichen Anteil am gesellschaftlichen Fortschritt, wäre ohne die Migration der sogenannten „Ziegelböhm“ nach Wien und dessen Folgen nicht denkbar[3]. Victor Adler[4], einer der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie beschäftigte sich intensiv mit der sozialen Lage der Zugewanderten, beschrieb deren katastrophalen Lebensumstände, prangerte deren Ausbeutung an und formulierte daraus allgemein gültige politische Forderungen für die zukünftige Sozialdemokratie und Gesellschaft.

Auf jeden Fall, das ist unbestritten, wird jedoch praktisch nie mehr erwähnt, dass Wien ohne die tausenden zugewanderteren „Tschech*innen aus Böhmen und Mähren“, die Prachtbauten der Ringstrasse nicht erbauen hätten können und heute wohl ganz anders aussehen würde. Immer dann ist Migration ein Gewinn, wenn aus der simplen Tatsache, dass sie stattfindet, auch neue, bessere politische und rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dann wurde Migration zu einer gesellschaftlichen Bereicherung. Diese simple Tatsache, gilt auch heute, wenn wir in EU-Europa aus der Tatsache der Migration keine besseren Lösungen als menschenrechtsverletzende Gesetze, Militarisierung, Abschottung und Repression ziehen können. Dann wird Migration zu einer schweren Bürde, zu Rassimsus und Spaltung. Sie kann jedoch Aufbruch, Fortschritt und Wohlstand erzeugen.


[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Ziegelb%C3%B6hm

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Adler

Migration – wichtiger Faktor

Kurzum, die Struktur des weltweiten kapitalistischen Wirtschaftssystems braucht immer wieder Arbeitskräfte, die aufgrund ihrer rechtlichen Situation leicht verfügbar und billiger sind, als andere Gruppen. Das konstituiert Migration und erzeugt sie; nicht ausschließlich, bleibt aber wesentliche Triebfeder.

Arbeitsmigration ist und bleibt in diesem (nahezu) weltweiten System ein wichtiger Faktor. Das hat Großbritannien nach dem Brexit – dem Ausscheiden aus der EU – schmerzhaft erfahren müssen. Tausende Arbeiter*innen aus Polen und anderen südosteuropäischen Ländern der EU, die UK geholt hatte, für verschiedene Branchen (Gast-, Dienstleistungs-, Transport- und Baugewerbe) verließen die Insel wieder. Die Folge sind erheblicher Arbeitskräftemangel, die der englischen Wirtschaft zu schaffen macht.

Sie sehen schon, die Materie ist komplex und bei weitem nicht so einfach wie es uns Populist*innen und so manche*r Innenminister*in glauben machen möchte.

Hybride Formen auf dem Vormarsch

Ein letzter Aspekt sein hier noch erwähnt. Früher hatte man Migration in der Regel als etwas endgültiges oder sehr lange andauerndes verstanden. In Zeiten vor der beginnenden Globalisierung, Internationalisierung und Vernetzung war die Vorstellung, dass es verschiedene Zwischenlösungen und zeitweilige Formen von Migration geben könnte, nicht vorhanden. Das hat sich geändert und diese Änderungen schreiten weiter voran.

Es gibt daher heute weitaus offenere Formen der Migration. Zusammengefasst wird das häufig durch den Begriff der Transmigration[5]. Darunter versteht man eben nicht die dauerhafte Umsiedlung, von einem Ort zu einem anderen, also ein einmaliges Geschehen, sondern ein Prozess des Wechsels zwischen verschiedenen Wohnorten, Ländern, Staaten; einer zirkulären Mobilität.

Die Rückkehr in den Ursprungswohnort ist dabei nicht ausgeschlossen, kann aber wiederum nur temporär sein und führt zu einem anhalten Prozess der unterschiedlichsten Aufenthaltsorte. Noch stärker ausgeprägt hat sich bei den sogenannten „Digital Nomads“, das sind Personen, die das Reisen als ihre bevorzugte Lebensform verstehen und andauernd von einem Ort zum anderen gelangen, verschiedene Arbeitsformen (homeoffice) sind darin inkludiert, die sich mit Phasen der Beschäftigungslosigkeit abwechseln.

Ein andere Migrationsform ist etwa die Pendelmigration, die wir vor allem bei Saisonarbeiter*innen und Pflegekräften kennen. Die Saisonarbeitenden kommen für einige Wochen/Monate ins Land um bei bestimmten Erntephasen zu arbeiten. Bei den Pflegekräften wiederum ist es so, dass diese einige Wochen (2-4) hier in Österreich ihre 24-Stundenpflege absolvieren und danach wieder einige Woche in ihr Ursprungsland zu ihren Familien fahren.

Bestand hat jedoch, dass viele der Arbeitsmigrant*innen, die als titulierte „Gastarbeiter*innen“ in den 1960 ins Land geholt worden sind, eine große Community in den verschiedenen Ländern entstehen lassen haben und diese auch nicht nur seßhaft in ihren Auswanderungsländern leben, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit (Ferien, Betriebsschließungen) ihre Ursprungsländer und ihre zurückgebliebenen Familien besuchen fahren. Davon kann man sich Jahr für Jahr ein Bild machen, wenn man Richtung Süden auf den verschiedenen Routen unterwegs ist, sei es von Deutschand/Holland/Belgien Richtung Jugoslawien, Griechenland und der Türkei,  sei in Frankreich, Spanien Richtung nordafrikanischer Staaten; und das ganze natürlich wieder zurück, wenn die Ferien zu Ende gehen. Diese Formen der Migration waren zumeist auf den Billigsektor orientiert. Es wurden billige Arbeitskräfte gesucht, um im jeweiligen Land Hilfsarbeit zu leisen.

Aber das ist immer nur eine Sicht darauf, es gab und gibt immer auch die Suche nach höher und hochqualifizierten Fachkräften. Diese Suche löst ebenso Migration aus und wird gerade in den letzten Jahren immer virulenter, weil verschiedene makrogesellschaftliche Entwicklungen dazu führen, dass Arbeitskräfte und noch dazu gut ausgebildete zur Mangelware werden.

Um all diese Themen und noch einige mehr, wird es in den Folgen des 2. Kapitels der Serie gehen. Ich freue mich schon drauf, mit Ihnen den Weg ein Stück weit gemeinsam zu gehen. Ich hoffe, sie folgen mir.


[5] Gogolin, Ingrid; Pries, Ludger. „Stichwort Transmigration und Bildung“. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7, 5-19 (2004)