Schreibkraft #30. 2019.
Sivy
Sivy wagt sich langsam vor. Ausatmen. Schritt. Einatmen. Schritt. Ausatmen. Schritt. Sie tastet sich vor. Ihre Zehen mit den dunkelrot bemalten Nägeln sind die Kundschafter. Der Untergrund rauh und stachelig. Ihre nackten, kleinen Füße folgen, erkunden die Baudielen. Ein erster zaghafter Schritt, dann folgt Belastung des Fußes. Ihr Herz pocht laut, drängt hinter ihren Ohren an die Oberfläche. Die Bretter liegen lose nebeneinander, bewegen sich, als sie drauf tritt. Sie wirft einen Blick in die Tiefe.
Sie befiehlt sich: Einatmen. Ihr schwindelt, sie wendet den Blick nach oben. Ihre Hände zittern. Ausatmen. Das Konstrukt besteht aus einem dünnen Winkelstahlrahmen und den Baudielen. Das Haus, an dem die Plattform an der fensterlosen Mauer befestigt ist, steht am Rande eines Felsabbruches, der seit Jahren in die Mitte der Stadt wandert; weil sie wie ein Krake immer weiter wächst und sich in alle Richtungen ausdehnt. Die kleine Plattform ragt über dem Abgrund. Irgendwelche findigen Handwerker haben sie an der Mauer des Hauses befestigt, alles provisorisch. In der Sohle des Grabens schlängelt sich eine breite Durchzugsstrasse vorbei. Ausatmen. Habe ich auf ein Einatmen vergessen? Egal. Das funktioniert auch ohne denken. Kein Arbeitsinspektorat würde das abnehmen. Aber sie ist in Betrieb, weil es auch kein Arbeitsinspektorat gibt, das hier vorbei kommt. Die Plattform und die Bretter an den Häusern entlang, dienen den Arbeitern unter Tags, um an der Außenmauer zu arbeiten und sich zwischen den renovierungsbedürftigen Häusern hin und her zu bewegen.
Sie klammert sich an das Geländer – beruhigt sich selbst. Rücken entspannen, nicht weiter verkrampfen, Kopf nach oben. Einatmen. Sie versucht sich abzulenken. Das Viertel ist jahrzehntelang ein sogenannter benachteiligter Stadtteil – war, ja war. Aus der Gegend kommen, hieß ein Stigma haben. Tagelöhner, Huren, Kleinkriminelle, Drogendealer, aber auch alteingesessene Pensionisten, Zuzügler aus den armen Gegenden des Landes. Migranten aus den nahen und fernen Elends- und Kriegsgebieten dieser Welt. Man kennt das aus jeder größeren Stadt. Jeder versuchte hier irgendwo, ein Platzerl zu finden und den meisten gelang das auch. Aufschauen befiehlt sie sich; in die Ferne blicken, sich beruhigen. Häuserblock um Häuserblock wird jetzt modernisiert, revitalisiert, aufgeräumt, alles chic gemacht. Die Mieten steigen, die Alteingesessenen werden im Stillen vertrieben. Vor nicht allzu langer Zeit kamen die Künstler und -Innen … und ich bin eine von denen. Leben im Prekariat, zeitweilig, zwischendurch, in der Umbauphase, im Leerstand. Es folgten die Jungen, die Start-Ups, die Kreativen. Die ersten Touristen streunen auch schon ´rum. Ich weiß, wie das weiter geht und es ist nicht aufzuhalten.
Überall Stadt, murmelt sie vor sich hin. Hochhäuser, Glaspaläste, Brücken, breite Boulevards, Moscheen und Kirchen, große Repräsentationsbauten. Es funkelt und blitzt. Die dunklen Flecken dazwischen, das ist das Meer… die Möwen sind schon schlafen gegangen, aber die Krähen und Raben fliegen noch … wird durch die beleuchteten Brücken unterbrochen und von tutenden Fährschiffen und Container Schiffen durchpflügt. Die haben sich einfach an die helle Stadt gewöhnt und bleiben auf. Faszinierende Viecher. Dahinter Häuser, an Häuser, kein Fleckchen bliebt frei, aneinander gedrängt, auf jeden Hügel, dicht an dicht … wie Menschen in der U-Bahn in der Rush Hour … müde, verschwitzt, abgekämpft, derangiert; Schweiß, alte Socken, Zwiebel- und Knoblaugeruch, dazwischen eine Bierfahne und ein Furz. In der Nacht; das Schnarchen aus den Fenstern, Geschirrklappern aus der Küche, Geplärre, wenn die Kidner wieder mal nicht schlafen gehen wollen und später das rhytmische Knarzen der alten Betten und ein leidenschaftsloser Seufzer von ihr, wenn er sich von ihr runter rollt.
An der Plattform rüttelt ein lebhafter Nachtwind. Sie hätte sie nicht betreten dürfen, wie ein Metallschild ihr unmißverständlich befiehlt … schlecht montiert klappert es im Wind. Die Konstruktion bewegt sich. Sivy glaubt einen Bruchteil von Sekunde, dass sie nach vor in die Tiefe kippt. Kurzer Herzsprung, Pulskontrolle. Ausatmen. Aber die Plattform hält, bewegt sich wieder zurück. Ich steh´ das durch. Sagt sie sich vor. Schließlich turnen unter Tags hier Arbeiter herum, tragen Bretter, Ziegel, schleppen Betonkübel, stehen drauf und hämmern und bohren. Also so zerbrechlich kann das alles ja nicht sein. Das hält schon was aus. Ich muss den Rücken strecken, die Position ändern, ich verkrampf´ sonst. Sie ändert ihren Stand, versichert sich, dass die andere Diele hält, auf der sie zu stehen kommen will. Mit dem ersten Fuß tapst sie darauf, stellt ihn hin, belastet. Es hält. Sucht sich dann für den zweiten die nächste. Einatmen. Langsam lässt sie die Hand von dem Geländer los, greift in die Tasche ihres alten, viel zu kurzen Frottebademantels … Mama hätte geschimpft, „du holst dir den Tod“ …und ich? …. hole eine Zigarette raus, ist vielleicht auch ein Stück näher zum Tod. Muss die zweite Hand vom Geländer nehmen, steht unsicher, steckt sie an und bläst den ersten Zug demonstrativ nach oben. Obwohl es Frühsommer ist, fröstelt es sie. Der Wind macht die Nacht kalt.
Ich will das aushalten. Ich will das durchstehen. Ich will wissen, wie es ist. Schließlich sehe ich ja die Arbeiter am Tage da rumturnen. Die Plattform? Passt doch… zum aktuellen Zustand: Schwanken, sich dem Wind anpassen, aber nicht zuviel und mit der Gefahr vor Augen, aus dem Leben kippen, doch nicht ganz … bissl platt und pathetisch, oder nicht? Wurscht, ich will mir das jetzt beweisen. Der genomme Zug aus der Zigarette ist so richtig gut gelungen. Verarbeiten kann ich das später.
Drei Strahler tauchen im Dunkeln hinter ihr auf. Sie bewegen sich auf sie zu. Es gibt keinen Ton, dann dreht jemand den Tonregler auf. Ein Flugzeug im Landeanflug. Der Lärm der Stadt wird übertönt. Die Lichter werden heller und größer. Dann zischt der Riesenvogel über ihren Kopf hinweg, mit ohrenbetäubendem Lärm. Luft anhalten. Boaah, mein Herz hat schon wieder einen Aussetzer fabriziert, für eine Makrosekunde dachte ich, der zieht mich von der Plattform. Ist auch schon weg. Das Herz schlägt noch und reagiert. Na, das ist die gute Nachricht dabei. Sie sieht ihm nach, wie er immer tiefer geht und in der Ferne in die Lichter der Stadt eintaucht. Ausatmen.
Sivys Aufmerksamkeit nimmt ein Feuerschein in Anspruch. Weit draussen, inmitten der schier endlosen Lichter der Stadt, sieht sie kurz auftauchende Blitze. Töne folgen. Ein Schwall von kleinen Explosionen. Blaulichter sieht und Sirenen hört sie. In der größten Stadt des Landes geht es rund. Es wird gesäubert, eingesperrt, entlassen, suspendiert. Ohne Einschränkungen, ohne dumme Vorschriften, Regeln, Gesetze. Keine_r mehr da, der oder die sich getraut, ein Wort dagegen zu erheben. Ein Teil der Stadt wird mundtod gemacht, der andere gröllt umso lauter. Ist was dran an den Gerüchten und Verschwörungstheorien, die es seit längerem gibt. Auch im Bekanntenkreis waren da Leute, die klandestine Theorien verbreiteten und wußten, was demnächst passieren wird. Als wäre die Gegenwart und das Reale … das scheinbar Reale … nicht beängstigend genug! Das meiste, so hab´ ich gedacht, sei Wichtigmacherei, machomäßige Aufschneiderei, revo-sentimentale Übertreibung und Propaganda. Aber mittlerweile – muss ich zugeben – habe ich Gewissensbisse. Ich hätte die Zeichen erkennen können, ja müssen. Schon vor drei Jahren, als die junge Szene gegen die Staatsmacht auf die Straße gegangen war, braute sich was zusammen.
Da machten wir uns noch über die Machthaber lustig, sangen Spottlieder über den Präsidenten, seine schlechten Hemden und Sakkos und seine reaktionäre Mischpoche. Damals waren die Straßen voll mit Leuten, die glaubten, die Zukunft mitschreiben zu können. Wir waren optmistisch, ließen uns anstecken von der Euphorie. Glaubten Korruption, krumme Geschäfte und Nepotismus, beenden, Macht kontrollieren zu können. Hunderttausende junge Menschen, die weder mit den Phrasen des alten Establishments noch mit den Floskeln der neuen religiös-konservativen was zu tun haben wollten … gegen das Tränengas gab es Taucherbrillen und die Bevölkerung, gab uns Wasser und nasse Tücher für die tränenden Augen. Wir waren so viele, dass es nichts ausmachte, wenn die Polizei den einen oder die andere mit Schlagstöcken malträtierte. Die Solidarität heilte die blauen Flecken schnell. Es war eine solidarische Zeit, eine freie Zeit, eine offene Zeit, eine Zeit voller kollektiver …. Ja was? … Liebe? … kommt dem wohl am nächsten. Seufz. Sivy ließ sich in ihren Gedanken treiben, an das Gewackle hatte sie sich ein wenig gewöhnt. Aber es war trügerisch. Die Antworten folgten und die Auswirkungen waren schmerzhaft, viel schmerzhafter als nur blaue Flecken. Nach und nach drehte der Wind. Jede Maßnahme – für sich genommen – nichts Großes.
Nur, jetzt weiß ich es, sie fügten sich allesamt in einen größeren Plan. Das wollte ich nicht sehen. Ich hab´ das Gerede vom schleichenden Putsch nicht ernst genommen und abgewunken. Jetzt weiß ich es besser. Richter werden suspendiert, Zeitungsredaktionen besetzt und gleich geschalten. Da werden Informationskanäle unterbrochen, dort fallen bekannte Oppositionelle in Ungnade und werden durch Parteigänger ersetzt. Persönlichkeiten, die gegen das Regime auftreten, finden sich plötzlich wegen Steuerhinterziehung vor Gericht und andere im Gefängnis. … habe ich eigentlich die Eingangstür verriegelt? Ich will keine unliebsamen Besucher haben … Gestern waren es die Militärs, heute sind´s die Wissenschaftler_, morgen die Lehrer_; und nicht zu vergessen, die Journalist_, Blogger_ und Künstler_innen. Wennst den Fernseher aufdrehst, hast den Präsidenten am Bildschirm, der gerade wieder hetzt und Aufrufe startet. Der Pöbel randaliert auf der Straße. Die Verräter dingfest machen, die Verschwörer ausheben, die Netzwerke zerstören … die ganze verlogene Propaganda. In Wahrheit geht es einfach gegen alle, die nicht seiner Meinung sind.
Viele sind schon verschwunden, es wird immer ruhiger um mich herum. Gespenstisch. Einatmen, inhalieren. Einige im Gefängnis, andere haben sich ins Ausland zu Verwandten und Freund_innen abgesetzt. Ausatmen. Andere wieder ziehen sich volkommen zurück, verschanzen sich in der Familie, antworten nicht mehr auf Mails, rufen nicht zurück und reagieren nicht auf Whatsapp. Ein anderer – kleinerer Teil – schlägt einen ganz anderen Weg ein und der ist fast genauso beunruhigend. Ernster, fanatischer, unerbittlicher sind sie geworden. Sie beschreiten einen Weg, der … ja, bald auch keine Grenzen mehr kennt. Jede Aktion der Machthaber wird zur Bestätigung, dass sie zu radikaleren Mittel greifen müssen. Jede Gewaltmaßnahme führt zu Wut, Hass und Gegengewalt. Aus den Demos sind Aktionen, aus den Aktionen sind Anschläge geworden – zuerst gegen Einrichtungen des Staates, dann gegen Menschen, als Repräsentanten des Staates. Das geht so weiter. Der Kreislauf nimmt Fahrt auf. Sie wurden verhaftet, geschlagen, festgehalten, ohne Recht und Verfahren. Wenn sie herauskommen, sind sie bestätigt … und wütender. Sie werden zu Helden und Märtyrern gemacht, die Szene jubelt ihnen zu. Mir ist dabei immer unbehaglich, wenn sie Phrasen dreschen, Parolen schreien und sich gegenseitig aufstacheln. … Ich darf nicht vergessen, morgen unbedingt einzukaufen, ich hab´nichts mehr im Kühlschrank … Ich seh´s als wär´s heute gewesen, als das erste Mal Waffen bei den Meetings aufgetaucht sind. Da war bei mir der Ofen aus. Hallo? Bei unseren Meetings, bei denen wir unsere Kunstaktionen diskutieren und planen? Das geht gar nicht.
Und die andere Seite – naja – die ist immer schon problematisch gewesen, aber jetzt – ohne Kontrolle – wird sie immer finsterer! Paramilitärische Kräfte, faschistische Rollkommandos und fanatische Religiöse, Geheimdienstaktionen und eingeschleuste Provokateure, die keine besondere Order mehr brauchen, um mit exzessiver Gewalt vorzugehen und vor Erschießungen, Folter und Vergewaltigungen nicht zurückschrecken. In dieser Spirale ist von Frieden keine Rede mehr, sondern nur mehr von Vernichtung der Anderen, von der eigenen großer Nation und einer Einheit, die mir immer unheimlicher wird. Was soll das? Einheit! Und was soll das, „mein Land?“ Alles bullshit. „Mein! Land gibt es nicht!“ Von Einheit kann doch keine Rede sein – sind doch immer nur Gräben zwischen den Gruppen und Schichten.
Im grellen Licht des nächsten Flugzeugs sieht Sivy intrusive Bilder der letzten Ereignisse. Leichen und Blut auf den Strassen, ausgebrannte Autos und Panzer, die über Brücken rollen und eine aufgebrachte Menge, die Selbstjustiz verübt, wahllos Menschen auf der Strasse totprügelt, zerbombte Straßenzüge in abgeriegelten Gebieten, in denen keine kontrollierende Instanz der Barbarei Einhalt gebietet. Während der Vogel über sie drüber zieht, erscheint ihr der Kopf des Präsidenten, der im Machttaumel zum Diktator wird und immer weiter geht; wie er erregt und mit rotem Kopf am Rednerpult steht, ins Mikro spuckt, vor Aufregung schreit und die Gewalt mit Worten anheizt. Aufgeregt und fanatisch im Fernsehen Schuldige präsentiert, ohne Fakten, ohne Beweise – immer weiter geht – und aus einer schlechten Demokratie einen totalitären Staat macht – immer weiter geht. Niemand hält ihn auf, kann ihn aufhalten. Immer weiter geht…. Austamen, ruhig Sivy ruhig. Du musst dich einkriegen. Ich stehe hier, schwankend auf dünnen Brettern und im Wind. Ha, was ist mit mir los? Krieg mich kaum noch ein. Die letzten Tage hatten Beschleunigung an sich … Bissl Pathetisch das alles? Mag sein!
Ich muss mich aus dem Strudel raus reissen. Komm´, denk an was anderes. … ich darf auch nicht vergessen, morgen der Frau im Parterre Anweisungen zu geben, falls Leute kommen und nach mir fragen … Die versteht das sicher, die ist nett. Endzeitstimmung krabbelt an ihrer Haut hoch, lässt ihren blonden Flaum an den Armen hochstehen. Passend zum Tag, zur Lage im Land und zur schwankenden Plattform … muss aus der Lähmung raus … mit TASRAA … den derzeitigen Zustand des Landes problematisieren. Das sind wir allein unserem Image schon schuldig. Nur wie? Ihre Zigarette ist auf den Filter hin abgeraucht. Sie wirft sie in den Abbruch hinunter, einer Streifen in der Stadt, der hier von oben fast dunkel ist, erst bei der großen Strasse wieder erhellt wird. Sie verfolgt den Flug der Glut. Die verstreut, auf dem Weg in die Tiefe, einige kleine Funken, verliert sich alsbald und ward nicht mehr gesehen.
Ich bin müde, müde von der Situation, müde vom dauernden Nachdenken, wie es weitergeht. Sollten wir wieder was Spektakuläres machen, so wie bei unserer ersten Aktion? Das war übrigens eine ganz ähnliche Situation, mit schwindelerregender Plattform und in die Tiefe segeln. Da hat Flo einen spektakulären Flugstunt hingelegt, bis ins Meer hinunter, untermalt mit schwerem, ohrenbetäubendem Metal. „Lärm“ haben viele Medien geschrieben. Auf der Plattform akklamierten vier Autorinnen politische Manifeste und in den Medien schrieben sie über TASRAA: „Das Künstlerkollektiv, das die Revolution zu ihrem Programm macht und in ihren Aktionen ausruft.“ Was für ein Blödsinn. Künstlerkollektiv okay, aber Revolution? Wir haben doch mehr Fragen als sonstwas, den Wahnsinn in unserer heutigen Gesellschaft ansprechen, ja das. Aber das geht bei denen nicht rein. Seitdem haben wir das als Markenzeichen – eh wurscht, dagegen kannst eh nix tun. „Spontan, gewagt, gefährlich, mit Mitteln des Klamauks, Politaktionismus, Lärms und mit Tanzperformances geht TASRAA vor“ schrieben sie. Naja.
Unsere Aktionen und Konzerte sind ja nur deswegen „spontan“, weil sie sonst gar nicht stattfinden würden. An ganz „unmöglichen Orten finden ihre Provokationen statt“; ja nur deswegen, weil wir improvisieren müssen. Was stimmt, dass wir Dinge, die im öffentlichen Raum noch nie passiert sind, tun wollen. Wir waren uns ja sicher, dass die Staatssicherheit uns bei unserer ersten Aktion schon hopps nehmen würden. Sie marschierten auch auf, wollten einschreiten und das Spektakel beenden, aber es waren zuviele Leute da. Das hätte Wirbel gegeben und den wollten sie vermeiden. Also ließ man uns vorläufig in Ruh`.
Mein Gott, jetzt stehe ich da auf der Plattform, frier´ mir den Arsch ab, zittere vor Angst und schwelge in der Vergangenheit. Wir kriegen Mails von Leut´aus aller Welt, die wissen wollen, wann wir wieder aktiv sind, denn zufälligerweise wäre man in der Stadt und es wäre so toll, wenn man uns einmal live sehen könnte. Wir waren auf der Aufregungsskala ganz oben … Lieblinge der kunstaffinen Kreise. International wurde man aufmerksam auf uns. Damit wuchs die Fanbase. Jetzt sind wir Teil des Kunstbetriebes … Aushängeschild der Avantgarde … herum gereicht. Hmm.. Aber geht das noch zusammen, was ist das überhaupt? Avantgarde, in einer global vernetzten Welt, in der schon alles gemacht und gedacht und geäußert wurde? Es folgte, was so oft folgt … wurden zur Touristenattraktion. Vielleicht ist es einfach der Mut, es zu tun, ohne sich um die anderen zu scheissen. Ja … das hatten wir – Mut. Und jetzt? Jetzt zittere ich vor Angst, trauen uns allesamt nicht mehr raus. Aber ich will das niemanden vorwerfen, nur mir selbst. Viele kommen dann drauf, dass sie was anderes wollen. Dem einen sind wir zu subversiv, der anderen zu herkömmlich, den dritten zu gefährlich usw… Je nachdem, aus welchen Szenen sie kommen. Und … das mit dem Kollektiv, das verdauen auch einige nicht. Was das wirklich heisst … die gehen dann aber eh schneller, als man schauen kann. Vielle sind ja auch total jung. Politisch engagiert, subversiv und entziehen sich – mal mehr mal weniger – dem System, verstehen sich als Künstler_, aber auch oft als politische Aktivist_innen und leben im – manchmal buchstäblichen – Untergrund.
Meine Güte, wieviele sind da schon durch uns durchgegangen und wie alt bin ich im Vergleich geworden, die meisten sind ja keine 25. Immerhin … die Kerntruppe ist stabil und ich hätte mir nicht gedacht, dass ich davon leben kann. Wieder eine Windböe, die Plattform bewegt sich wieder vor, steiles – schauriges – Gefühl. Sivy kann es schon ein wenig geniessen. Mit den großen Protesten gegen die Regierung, an denen wir teilgenommen haben, endet die Zurückhaltung. Langsam und unmerklich, aber bestimmt … ich hab´s nicht gemerkt. Im Visier des Systems. Zuerst gab´s nur kleine Übergriffe, die ersten Anzeigen. Reine Routine – wie man versicherte – schließlich müsse man das tun, was das Gesetz verlangt, „wenn eine Anzeige eingeht und illegale Veranstaltungen durchgeführt würden. Schließlich leben wir TASRAA ja davon, oder nicht?“ Die scheinheilige Frage. Dann gings ans Geld. Kunstförderungen werden verschleppt, bis sie obsolet sind oder mit fadenscheinigen Ausreden nicht bewilligt. Schließlich wurde es härter …erste Verhaftungen, die noch Anhaltungen heißen. Allesamt mit fadenscheinigen Begründungen. Darunter sind ganz zufällig immer die Hauptdarsteller und –stellerinnen … und sitzen in entscheidenden Momenten in Haft, wenn auch nur für einige Tage. Wir erhalten Drohungen von religiösen Fanatikern und Spinnern. Im Netz verbreiten sich wüste Beschimpfungen, Anschuldigungen und Gerüchte …ekelhaftestes Zeug.
Zuerst glaubten wir, wir könnten das für uns nutzen. Aber nach und nach wendete sich das Blatt. Auch das Publikumsinteresse nahm ab, es traut sich keiner mehr zu kommen… jeder in seinem Bunker. Wir können nicht mehr unbehelligt arbeiten. Mein Gott, ich hab´s so satt, die Volksmeinung; die dauernd kursiert und immer gehässiger wird; uns als „dekatente Provokateure, verdreckte Bande und Kommunisten“ beschimpfen. Sie schaut auf und versucht die Aussicht zu genießen, trotz der widrigen inneren und äußeren Umstände. Ein Rütteln geht durch die Plattform. Genauso wie bei uns, je stärker das Rütteln außerhalb, desto schwieriger wird es auch innerhalb der Gruppe. Es tun sich Brüche auf. Wir geraten immer mehr aneinander. Die einen, die nicht nur mehr Politik machen, sich nicht dauernd über Politik definieren, wollen und die anderen, die „Kunst nicht als weltfremde, in sich gekehrte abgehobene, individuelle Kreativarbeit“ sondern als „Manifest gegen die gesellschaftlichen Zustände und als kollektiven – gesellschaftlich eingebetteten – Prozess“ sehen und interpretieren. Welten prallen aufeinander.
Was ist meine Rolle darin? Na was schon, ich versuch mit Müh´ und Not den Scheiss-Laden irgendwie zusammen zu halten und hab die Arschkarte gezogen. Komm kaum noch zum arbeiten, tu nur mehr vermitteln und Streit schlichten und argumentieren und organisieren und reden, reden, reden. Ich will, dass TASRAA beides ist. Ich kann nur immer weiter den Respekt und die Toleranz gegenüber der jeweils anderen Position einfordern. Ich will nicht, dass wir im Inneren das abbilden, was sich außen auch abspielt. Entsolidarisieren, gegeneinander ausspielen, individualisieren, unerbittlicher gegen Andersdenkende werden … um des Erfolges willen … kämpfen um das Geld oder die wahre Kunst? Sind die eh meist nicht so weit auseinander, wenn es ums konkrete geht. In dem Moment steigt eine hohe Flamme aus dem Dunkeln hoch. Sekunden später wird der Ton in Form einer Explosion nach geliefert.
Sie kramt in der Tasche ihres Bademantels, um noch eine Zigarette zu rauchen, aber sie weiß gleichzeitig, dass sie nur eine mit raus genommen hat. Und in den kleinen Bademanteltaschen hat sich in der Zwischenzeit keine Zigarettenpackung materialisiert, da kann sie noch so oft greifen und suchen. Nur das Bic-Feuerzeug ist immer noch da. Weil es uns noch gibt, geben wir da draussen manchen Hoffnung, damit sie weiter machen und nicht verzweifeln … Ich bin nicht blöd, ich weiß das selbst auch, da brauch ich Flo nicht, der mir das dauernd um die Ohren haut. Nur, wir können selbst nicht mehr lange so weiter machen. Uns gehen die Leute aus, uns gehen die Gelder aus, uns geht der Zusammenhalt… Sivy schaut dem nächsten Flieger nach, der gerade über sie hinweg donnert und mit seinem Lärn ihre Gedanken unterbrochen hat. Sind wir gerade dabei, zu zerfallen und hinweggefegt zu… Sivy blickt hinunter in den Graben. Es ist auffällig, wie ruhig die Stadt ist, kaum Verkehr, keine Musik, keine Gespräche als Fetzen von den Strassen. Der Ausnahmezustand verfehlt seine Wirkung nicht.
Eine Entscheidung steht an. Ich muss auf die Zigarette verzichten oder hineingehen und welche holen und bei der Gelegenheit kann ich mich auch gleich wärmer anziehen. Der Wind dringt ihr bis auf die Knochen, ihre Zehen sind schon blau. Ich hab schon die ganze Zeit Gänsehaut. Aber wird es jetzt wirklich anders, also ganz anders, richtig gefährlich? Oder ist ein Teil davon doch nur Theaterdonner? Werden sie morgen an den Türen pochen und uns verhaften? Ich will es überhaupt nicht so genau wissen? Nachdem ich seit Jahren ohne festen Wohnsitz und meine Wohnorte dauernd wechsle und vorsichtig mit den modernen Kommunikationsmitteln bin, glaube ich nicht, dass sie wissen, wo ich sitze. Aber? … wer weiß – so schwankend wie es mir geht … Sivy entscheidet sich gegen die Kälte. Die Sucht ist ihr abhanden gekommen. Langsam verlässt sie die Plattform. Übersteigt die Sperre, die die Arbeiter dilletantisch – mit einem Brett versperrt und einem rot-weißen Absperrband – errichtet haben. Hantelt sich an beiden Geländern haltend auf die Dachterrasse zurück.
Sivy sucht Socken, in ihrer derzeitigen Behausung, einem leer stehenden Loft – im Nebenhaus der Plattform – das sie illegal in Besitz genommen hat und in dem sie sich seit vier Monaten – auch weil es interessanterweise noch immer Strom und Wasser gibt – so etwas wie ein zu Hause geschaffen hat. „Das beste seit Jahren, mit einem unglaublichen Komfort und Ausblick auf die Stadt“, wie sie ihren Freund_innen begeistert erzählt. Dann schlüpft sie in ihre alte graue, weite Trainingshose und fläzt sich mit einer Decke und einem Tee, den sie immer in der Thermoskanne bereit hat, in ihrem Liegestuhlsackpolster. Sie ist zu müde und ausgekühlt, um noch mal raus zu gehen und sie merkt auch, dass ihr das unsichere Terrain den letzten Rest Standfestigkeit geraubt hat. Seltsam, wie äußere und innere Zustände zueinander in Beziehung stehen. Die Scheiben – auch ein Luxus im Gegensatz zu den vorherigen Unterschlupfen – sind ziemlich dreckig. Sie spiegeln mehr den Raum, als dass sie die Sicht auf das Draussen freigeben würden. Sie betrachtet sich selbst.
Sivy trinkt einen Schluck. Der Tag hatte an ihren Kräften gezerrt. Vor allem die Probe von TASRAA – abgesagt. Nach und nach kamen die Absagen, Entschuldigungen, Ausflüche. Die getrauten sich nicht zu kommen. Haben Angst. Die anderen gehen nicht mehr auf die Straße, weil da „wütet der fanatisierte Pöbel, vor allem Abends“ wie Sü im SMS geschrieben hat. Wir können nicht mehr auftreten! Aber ich ergebe mich nicht. Fixiert ihr Spiegelbild.
Ich muss das alles notieren, aufschreiben, was mir da durch den Kopf geht. Obwohl es im Moment banal und wirr klingt. Aber das muss es ja nicht bleiben. Sie kämpft sich aus dem Sackpolster raus, mit eisernem Willen, sucht in ihrer Unordnung nach ihrem Tablet. Sie schaltet die Sprechfunktion ein, gibt Texte, Stichworte und Wortfetzen ein. Dann lässt sie sich in den Liegestuhlsackpolster zurück plumpsen und weiß sofort, dass sie da nicht mehr herauskommt … ohne Zähne putzen, hier einschlafen. Ich will nicht, dass Menschen verletzt werden, dass sie ins Gefängnis kommen oder gar umkommen, wegen dieser größenwahnsinnigen Politik. Ihr Spiegelbild, gibt ihr Recht. Eine Minute später schnarcht Sivy mit leicht geöffnetem Mund.