Sitzung mit mir

Schreibkraft #38: Aus der Welt

Ich werde schon jahrelang nicht mehr auf dem Dachboden gewesen sein. Es wird stickig-warm, staubig und düster sein. Eine dreieckige Luke ohne Fensterglas, nach vorne raus zur Straße und ein schräges Fenster Richtung Westen an der Längsseite, schenken dem Raum ein wenig Licht. Im schräg hereinfallenden Lichtstreifen der Luke wirbelt dichter Staub. Ich werde aus der Treppenluke klettern. Wie auf allen Dachböden dieser Welt wird viel altes Zeugs gelagert sein; unberührt, ungenützt seit Jahren. Vaters Fahrrad, ein paar Mal benutzt und schließlich nach oben verräumt, wird ebenso wie die alten Gartenmöbel von Vera, der Besitzerin des Hauses, vor sich hin rosten. Traurig, werde ich denken, soviel Planung, Arbeit und Aufwand, die in all diesen Dingen stecken, um schließlich Jahre und Jahrzehnte nutzlos herum zu stehen.

Punkt 1: Dachboden entrümpeln

An der Längsseite wird das alte Zeug meiner Eltern zu einem Haufen zusammengeschoben und gestapelt sein. Eine Holztruhe stellt das Zentrum dar. Über die einzelnen Teile, die rund um die Truhe drapiert sind, ist eine Plane geworfen. Und ich werde hingehen und Staub aufwirbeln. Ich werde mich fragen, ob ich zu all dem Gerümpel jeweils eine Geschichte erzählen würde können. Mit einem Stoßseufzer werde ich anfangen, nur wo – werde ich mich fragen – und wie?

Veras überraschender Tod wird die Kettenreaktion auslösen. Es wird dann alles schnell gehen müssen. Die Wohnung meiner Eltern wird aufgelöst werden müssen. Das Gerümpel und die letzten Habseligkeiten meiner Eltern werden aus dem Haus gebracht, die Nachlass Angelegenheiten geordnet werden müssen.

Ich werde mir folgenden Plan zurechtlegen. Zuerst werde ich unterteilen, was auf die Schnelle sofort zum Wegwerfen – sprich entrümpeln – ist und dann in einem zweiten Schritt an die Dinge, die näher zu untersuchen sind. Anschließend werde ich das übrig gebliebene unterteilen in Dinge, die ich sicher aufbehalten und jene, die noch unentschieden zu bewerten sein werden. Mein Blick wird auf alte Campingstühle fallen. Die sind Kategorie 1, die sind bereits unbrauchbar. Das Fahrrad wird vielleicht re-used gemacht werden können. Spielzeug werde ich unter den Sachen finden; hauptsächlich von meiner Schwester, darunter ein selbstgebasteltes Puppenhaus und Reste von Puppen. Die sind Kategorie 1, ganz klar.

Punkt 2: Urlaub

Die Bucht ist spärlich bevölkert. Eine 5×5 Meter breite Plane liegt zentral am Strand, mit Seilen und Steinen befestigt und allerlei Badeutensilien darunter. Ich sah tagelang niemand diese benutzen, dachte mir schon, dass ignorante Trotteln das einfach liegen haben lassen und verschwunden sind. Bis ich eines Tages die Besitzer dieser „Anlage“ sah. Eine ältere, kleine, dickliche Frau mit gefärbten roten Haaren, die sich in schwarzem Spitzenumhang kleidete, wenn sie von ihrem Liegeplatz aufstand und eine jüngere hochaufgeschossene schlanke Blondine. Ist das die heutige sublimierte Form, sich mit dem Handtuch den besten Platz beim Swimming Pool – sprich Meer – zu sichern?

Ich stehe im brusthohen Wasser am südlichen Rand der Bucht, zerklüftet, mehrere Felsbrocken ragen ins Wasser. Dazwischen zieht der Sog Wasser herein. An der Vorderseite bricht die Welle und spritzt an allen Ecken und Ende über die Felsen, eine Bugwelle rauscht in die Enge und drückt mich zum Felsen hinter mir. Ich gleiche aus, um nicht auf dem Felsen zu prallen. Ich lasse mich hinaustreiben, verliere den Boden unter meinen Füßen und beginne zu schwimmen.

In all den Jahren, in dem ich an diesen Ort komme, hat sich schon was verändert, in der Gegend; nicht viel, aber doch beständig. Zu beobachten war der Drang der Tourist*innen, die regelmäßig in die Gegend kamen, etwas zu besitzen. Ich schwimme hinaus, aber ich bin nicht entspannt. Vom Meer aus tritt in den grünen Hügeln über der Bucht eine Betonruine zutage. Das Fundament, vier Säulen an den Ecken, die Decke für einen ersten Stock und die typischen Stahlenden, sind zu sehen. Ein Haus war gedacht, mit einem schönen Blick über die Bucht und auf das Meer.

Mein Blick schweift unruhig hin und her, über die Wasseroberfläche, um nicht eine große, braune Qualle zu übersehen. Aktuell hat das Wasser über 30°, aus dem Marmarameer breitet sich der Schleim aus. Große, braune Quallen sind die Vorboten. Zwar sind sie ungefährlich, sie brennen nicht, aber ekelig, wenn man in eine hineinschwimmt, sind sie trotzdem. Seitdem setze ich auch keine Taucherbrillen mehr auf. Ich will das alles gar nicht mehr sehen.

Ich drehe mich auf den Rücken. Die Ruine kommt ins Blickfeld. Aus dem Traum wurde nichts. Die Beziehung ging den Bach hinunter, sie trennten sich. Er hasste fortan den Rohbau, wollte damit nichts mehr zu tun haben. Das war vor 30 Jahren oder mehr. Seitdem ragt das Betongerüst aus dem grünen und dicht verwucherten Hang heraus. Ich schwimme langsam zurück. Die Sonne brennt mir ins Gesicht. Sie bewegt sich auf den Hügelkamm zu. Von Abkühlung ist nichts zu merken.

Hinter der Truhe, direkt an der Mauer, werde ich die Trockenhaube finden, die Mutter in der Küche aufgestellt hatte, wenn am Mittwoch die „Damen“ zum Frisieren kamen. Da hatte sie eh nur einen Tag frei, weil Samstag war bis 14 Uhr offen und dann arbeitete sie genauso viel und lange wie im Laden auch noch zu Hause. Verrückt. Pfusch nennt man das. Kavaliersdelikt, wie man so schön sagt, aber sie rechtfertigte das immer, dass sie eh so wenig verdient und wir das Geld dringend brauchen konnten. Mit beiden Argumenten hatte sie recht. Ihr Lohn als Friseurin war ein „Arbeiterinnenlohn“ und da eine schwache Gewerkschaft hinter ihnen stand, ein Hungerlohn. Obwohl Mutter mehr als genug offizielle Arbeitsmonate für die Pension zusammengebracht hatte, war sie dennoch nur knapp über dem Mindestpensionssatz gelandet.

Auf jeden Fall arbeitete sie sich die Beine, die Arme und den Rücken kaputt und das auch am Mittwoch. „Mittel-ältliche“ und an Jahren alte „Kundschaften“ saßen dann in „unserer Küche“ und blätterten in Klatschblättern oder schrien sich gegenseitig an, weil sie unter den Trockenhauben – Mutter besaß zwei – schlecht hörten. Neben dem Zwiebelduft, den sie in der Früh für das Gulasch anbriet, das es zu Mittag geben wird, mischte sich der penetrante Duft von Dauerwellenpräparaten und Haarspray. Wenn ich morgens in die Küche musste, den Blicken und Kommentaren der Damen ausgesetzt war und den Geruch einsog, war mir danach regelmäßig übel.

Punkt 3: Aussortieren

Ich werde zur zweiten Etappe des Aussortiervorganges gekommen sein. Ich werde die Truhe angegangen und mich ausschließlich auf Dinge konzentriert haben, die ich ganz sicher aufbewahren werde: Eine Schachtel mit Kinderfotos von uns, Familienschnappschüsse. Ich werde ein bisschen herumwühlen und Trauer wird mich überkommen. Auf einem Foto, offensichtlich eine Feier mit Omas, Opas, Tanten und Onkeln werde ich in Gesichter blicken, die alle nicht mehr leben.

Eine Mappe, die ich nicht kenne, wird am Boden der Truhe zum Vorschein kommen. Ich werde die Mappe aufschlagen und alte Dokumente finden; die Geburtsurkunde meines Vaters, einen Meldezettel, seinen Lehrabschluss, die Bankkontokarte der BAWAG, seinen fast zerfallenden rosaroten Führerschein und ein Kuvert.

Ich lass mich im seichten Wasser von den Wellen bewegen und meine Gedanken fliehen zurück in die Vergangenheit; als ich das erste Mal hierhergekommen bin. Das liegt Jahrzehnte zurück. Abenteuerlich war die erste Anreise. Es war schon dämmrig, fast dunkel. Zuerst waren wir noch an der Hafenstadt vorbei, am Meer entlang, die Sonne verschwand grad auf der anderen Seite der Bucht, hinter den Hügeln.

Dann ging es in die Berge und wieder runter ans Meer, anschließend wieder rauf, weg vom Meer, bis wir eine große Abzweigung fanden, die wir nahmen. Wir fühlten uns schon ganz nahe, rechts unten sah man wieder das Meer. Dann kamen wir in ein Dorf. Da war viel los, hektische Betriebsamkeit, überall Tavernen. Wir fanden die Abzweigung nach links und es ging wieder bergan und hinunter, eine Abfolge von Links- und Rechtskurven. Schließlich lag links unter uns ein noch etwas kleineres Dorf. Die Straße führte herum, bog ab und führte uns steil abwärts. Aber es war noch asphaltiert. Dann plötzlich meinte Max: „hier links geht’s runter“.

Es folgte eine staubige, steinige, unbefestigte Straße mit tiefen Spurrillen in Serpentinen, hinunter in ein bereits dunkles, kleines Tal. Wir schaukelten uns durch eine mit Wasser gefüllte Furt und eine Brücke. Dann ging´s wieder aufwärts, in schmalen Kurven am links von uns liegenden Hügel entlang. Die Straße wurde zu einem von Steinen und Löchern übersäten Weg, von links und rechts streifte Gestrüpp am Lack entlang und machte ein unangenehmes Geräusch. Jeder fragte Max im Laufe der Fahrt mindestens einmal, ob er sich sicher sei, dass wir hier richtig seien. Er blieb unerschütterlich und er hatte recht. Plötzlich kamen wieder vereinzelt Häuser, es brannte eine Straßenlaterne und wir waren auf Asphalt. Dann standen wir vor einem Strand und hörten das Rauschen des Meeres. Bevor wir unser Nachtlager im einem Pinienhai aufschlugen, stürzten wir ins Meer. Erst am nächsten Tag sahen wir, wo wir eigentlich gelandet waren, wie schön es hier war.

Punkt 4: Zurück zur Tagesordnung

Inzwischen gibt es eine andere – ausgebaute – Straße, die zum Meer führt. Der kleine Laden, bei dem man die Notwendigkeiten des täglichen Lebens bekam, ist ein Supermarkt, mit Vollkorndinkelbrot Sortiment. Mittlerweile weiß ich, wo man sich hinstellen sollte, um Wellen zu reiten, wenn das Meer tost und braust und der gesamte Strand überschwemmt ist. Ich weiß, wo und wie ich hier mit den „Wellen springen“ kann, ohne auf einem Stein zu landen.

Ich kenne die feinen Linien, an die man sich ran pirschen muss, um die Welle richtig zu erwischen, denn wenn die Wellen hoch sind und man sie richtig erwischt, manchmal gehört da schon auch Mut dazu, dann segelt man auf dem Kamm dahin, hoch oben, kann sich tragen lassen, setzt sich auf die brodelnde Gischt unter einem und gleitet mit tollem Blick auf den Strand hinaus. Wenn das gelingt, dann bricht die Welle draußen am Strand unter einem zusammen und man kommt auf die Füße hinter der Gischt zu stehen; den Kopf immer über dem Wasser. Höchstnote 10.

Wenn wir die Hügel der Hafenstadt passierten und auf die unter uns liegende Stadt zufuhren, spielt laut unsere Lieblingsmusik und wir achteten auf jedes Detail und sagen uns, dass sie die Kulisse heuer etwas anders aufgebaut hätten. Das Meer wäre etwas mehr rechts gelegen. Wir lachten und fanden noch andere „Fehler“. Alles nur für uns aufgebaut. Wenn wir wieder weg sind, existiert die Welt hier auch nicht. Wird das Meer wieder zusammengerollt, die Stadt in Kisten verstaut und die Landschaft flach gedrückt und in die Ablage gelegt.  

Punkt 5: Meine Verantwortung

Markus hingegen ist sich sicher, dass wir die Auslöser von Katastrophen, Revolutionen und Umstürzen sind und ich muss sagen, er hat leider recht. Dass das System hat, wurde ihm bewusst, als wir Fotos aus Istanbul posteten, als die Gezi-Proteste[1] begannen und wir mitten drinnen steckten – zu unserer Schande, ohne zu wissen, was da jetzt genau los war – wir aber gerne in der fröhlichen und enthusiastischen Masse gegen Erdogan mit demonstrierten und uns treiben ließen und warteten, das uns Tränengas erwischen würde.  

Das erste Mal war es in Kirgisien[2], das wir im Sommer 2009 besuchten. Unmittelbar nach unserer Abreise begannen die Unruhen. Als wir vor Ort waren, brodelte es bereits in der Region um Osch. Im April 2010 führte das schließlich zum Sturz von Präsident Bakijew. Rosa Otunbajewa, die Außenministerin übernahm die Führung und führte ein Verfassungsreferendum durch. 2021 wurde die Reform wieder zurückgenommen.

Es folgte Indien, wir bereisten es im Winter 2014/2015. Modi – der die klerikal-faschistische Hindu Partei PJP anführte – übernahm die Macht, mit einem radikal hinduistisch-nationalistischen Programm, das wieder aggressiv gegen alle Minderheiten vorging, insbesondere gegen die Muslime im Land. 2018 reisten wir nach Beirut in den Libanon.

Zu dem Zeitpunkt unseres Kurzaufenthaltes war alles ruhig. Wir waren überrascht über die prachtvollen Bars und Cafés an der Corniche, der Flaniermeile am Meer; sahen auf großen TV-Screens die Fußballweltmeisterschaft und genossen das großartige, vielfältige Essen. Keine zwanzig Kilometer von den Hochburgen der Hisbollah, die ja bekanntermaßen eher radikal sind. Wir hatten zu wenig Zeit und beschlossen, wieder zu kommen. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Der Niedergang des Libanons begann unmittelbar darauf.

Markus zuckte nur die Schultern und sagte: Na eh klar, wenn ihr dort seid!“, als ich ihm vom heurigen Katastrophensommer in Griechenland erzähle. Extreme Hitzeperiode, langanhaltende Dürre, großflächige Waldbrände, überhitztes Meerwasser in der Nordägäis.

Ich beschließe, aus dem Wasser zu gehen. Als ich meine Schlapfen anziehe, um über den glühenden Strand zu meinem Liegeplatz zu kommen, höre ich mein Telefon klingeln.

Punkt 6: Weitere Vorgangsweise

Ich werde doch einigermaßen überrascht sein. Es wird wie in einem der Filme sein, mir fällt jetzt „Die Brücken am Fluss“ (The Bridges of Madison County) ein, mit Clint Eastwood und Meryl Streep aus dem Jahr 1995, bei dem nach dem Tod der Eltern, die Nachkommen den Nachlass durchforsten und auf eine Liebesgeschichte der Mutter stoßen. In dem Kuvert, welches ich finden werde, liegen einige, alte abgegriffene Seiten von Briefen, schwer zu lesen. Es ist keine bekannte Schrift, weder Mutters noch Vaters. Die Briefe sind nicht vollständig. Auf einem – aus einem Notizbuch herausgerissenen – Zettel steht eine Adresse, eine Telefonnummer und eine grobe, gekritzelte Skizze ist beigelegt. Ich werde alle Zettel auf den Boden ausbreiten.

Ein kleines Passfoto wird auf den Boden fallen, alt, abgegriffen und brüchig. Eine mir unbekannte Frau, mittleren Alters, scharfkantiges Gesicht, helle Augen und Rot-braune Haare; gefärbt, würde ich als Sohn einer Friseurin sagen, wird darauf zu sehen sein. Die Größe, Figur und sonstige Attribute erschließen sich aus dem Foto nicht. Auf der Rückseite wird etwas mit Handschrift stehen, was aber verwischt sein wird; könnte ein Name gewesen sein! Anita? Adele? Anna? Der Anfangsbuchstabe A ist noch erkennbar.

Ein kleines Passfoto wird auf den Boden fallen, alt, abgegriffen und brüchig. Eine mir unbekannte Frau, mittleren Alters, scharfkantiges Gesicht, helle Augen und Rot-braune Haare; gefärbt, würde ich als Sohn einer Friseurin sagen, wird darauf zu sehen sein. Die Größe, Figur und sonstige Attribute erschließen sich aus dem Foto nicht. Auf der Rückseite wird etwas mit Handschrift stehen, was aber verwischt sein wird; könnte ein Name gewesen sein! Anita? Adele? Anna? Der Anfangsbuchstabe A ist noch erkennbar.

Zwei Stunden später, werde ich im mittlerweile halbleeren Wohnzimmer meiner Eltern am Boden sitzen und das Rätsel gelöst haben. Mein Vater hatte eine zweite Frau. Eine, die in Wien lebte. Die Skizze werde ich entziffert haben. Und wie aus den Briefen hervor gehen wird, erhielt sie von ihm einiges an Barschaften, denn sie war eine alleinerziehende, teilzeitbeschäftigte Verkäuferin in einem Konsumladen in Wien und hatte zwei Kinder aus erster Ehe. Vater war – als er noch arbeitete – des Öfteren auf Schulung in Wien. Bei einer solchen Gelegenheit wird er sie wohl kennengelernt haben.

Es wird auch erklären, dass von seinem, am Ende der Konsumkarriere, doch guten Gehalt wenig übriggeblieben war. Anita hieß sie und sie wusste von seiner Ehe in Graz. Was sie jedoch nicht daran hinderte, gerade im letzten Teil ihrer Beziehung erhebliche Forderungen an ihn zu stellen. Es wird ein paar Andeutungen in den Briefen geben, dass – wenn er sie nicht weiter unterstütze – sie das alles auffliegen lassen wolle.

Als die Konsumgenossenschaft und alles was daran hing, von der BAWAG 1995 in den Konkurs geschickt wurde und Vater mit 54 Jahren arbeitslos wurde, endete das „Pantscherl“ endgültig. Er kam geschäftlich nie mehr nach Wien, es gab keinen Anlass einer Schulung oder Sitzung mehr. Sie kam auch zur Einsicht, das schrieb sie ihm sogar recht offen in einem der Briefe, dass er jetzt – da arbeitslos und in einer Arbeitsstiftung – bei ihm auch nichts mehr zu holen war. Sie war über den Verlauf der Beziehung enttäuscht gewesen, Ihre Briefe klangen verbittert. Sie erhoffte sich – dass schrieb sie immer wieder – dass er seine Frau verlassen würde. Was er aber nie vorhatte.

Wir werden das Jahr 2024 schreiben. Vor etwas mehr als drei Jahr wird er gestorben sein. Mich erreichte die Nachricht damals am Strand. Schweren Herzens brach ich den Urlaub ab und fuhr nach Hause, um Mutter bei den Erledigungen, die in so einem Fall anfielen, zu helfen und jetzt wird in wenigen Tagen die Wohnung meiner Eltern Geschichte sein. Sie waren fast ihre ganze gemeinsame Zeit in dieser Wohnung zu Hause, immer in Miete. Vera, die bis zu ihrem Tod das obere Haus bewohnte, wird vor sechs Monaten gestorben sein. Das Gericht wird die Nachlassangelegenheiten übernommen haben. Der Mietvertrag meiner Eltern wird damit seine Gültigkeit verlieren, weil das Haus verkauft werden wird.

Da meine Mutter seit etwa einem halben Jahr in einem Pflegeheim untergebracht sein wird, aber sie bis zuletzt die Hoffnung hatte, wieder zurückzukehren, haben wir den Mietvertrag noch aufrechterhalten. Das wird aber jetzt mit dem Bescheid des Gerichtes nicht mehr gehen; endgültig aus und vorbei. Mutter wird sich mit den Tatsachen abfinden müssen. Das Pflegeheim wird ihr endgültiges und gleichzeitig letztes Zuhause werden. Sie war es, die sich um ihn kümmerte, den Alltag „schupfte“, ihn pflegte und versorgte und sich dafür beschimpfen lassen durfte. „Gut, nützt nichts, es ist vorbei“, werde ich mir selbst zuraunen. „Ich muss mich aufmachen, sonst werde ich hier noch zu sentimental“, werde ich zu mir sagen.

Punkt 7: Allfälliges

Wehmut wird mich erfassen, es war ja viele Jahre auch mein Zuhause. Ich werde mit hallenden Schritten durch die leere Wohnung ins Badezimmer gehen. Dort wird das Waschbecken noch angebracht und das Wasser noch aufgedreht sein. Ich werde mich unter den Hahn beugen, um direkt daraus zu trinken. Gläser wird es keine mehr geben. Ich werde mich ins Wohnzimmer stellen und die nahezu leere Wohnung betrachten, die Umrisse auf dem Boden und den Wänden bemerken, wo die Kästen gestanden hatten, der Tisch und der Ofen. Und es wird schon nicht mehr ganz die Wohnung meiner Eltern sein.

„Viel bleibt nicht über von ihrem Leben“, werde ich mir denken, werde mich noch einmal umsehen, die Wohnungstür zum letzten Mal zusperren und das Haus verlassen.

Schweißgebadet komme ich an der Anhöhe an. Von hier aus hat man einen großartigen Blick auf die Bucht und das Meer. Ich sehe mich nochmal um, auch um zu Atem zu kommen. Mir ist schwer ums Herz. Morgen mache ich mich auf den Weg zurück, um die Dinge zu regeln und das Haus zu entrümpeln. Im Auto, das teilweise in der Sonne stand, zeigt das Thermometer 46° Grad an. Ich suche ein passendes Lied auf dem Smartphone für den Weg zum Appartment. Ich freue mich schon auf die Außendusche.

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Proteste_in_der_T%C3%BCrkei_2013

[2] Oder Kirgistan oder Kirgisistan siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Kirgisistan