Serie Rassismus:

The never ending story, Part One

Die Legitimationslegende[1]


Rassismus – eine Geisel der Menschheit! Ihn auszurotten, vielfach versucht, zumeist gescheitert. Gelungen ist, ihn global einzudämmen, durch Völkerrecht, durch Gerichtshöfe, durch Parlamente und Politische Leitlinien von demokratisch verfassten Gesellschaften; aber auch das ist nicht selbstverständlich, immer wieder neu zu erarbeiten.

Im Rahmen der mehrteiligen Serie „Die Legitimationslegende“ wird Rassismus aus mehreren – zumeist zu kurz kommenden – Seiten beleuchtet und analysiert. Auch die Gegenstrategien und antirassistischen Aktivitäten und Maßnahmen sowie die öffentlichen Diskurse über Rassismus werden einer kritischen Betrachtung unterzogen[2].  

Was ist Rassismus?

Viele mögen sich fragen, warum so eine Frage überhaupt am Beginn stehen muss? Was das ist, ist doch eigentlich klar, oder? Okay, bei den alltagsrassistischen Beschimpfungen, Übergriffen auf der Straße, bei denen zumeist Black, Indiginous and People of color (BiPoC) die Opfer sind, funktioniert die Zuordnung „rassistisch“ wohl noch an einfachsten. Aber da der Rassismus anpassungsfähig ist und war, wird die unmenschliche Ideologie und das grausame Prinzip bei vielen anderen Gruppen, die andere äußerliche Merkmale tragen, ebenso angewandt, geschweige denn von den strukturellen und institutionellen Rassismusformen, die viel schwieriger zu durchblicken und zu erkennen sind.

Analysiert man die rassistischen Übergriffe (Postings, Reden, Aussagen, Angriffe etc.), die bei den diversen Anlaufstellen[3] gemeldet und die als rassistisch eingestuft werden und nimmt man schließlich noch die politischen – öffentlichen Aussagen zu Rassismus, Migration, Diskriminierung mit in die Analyse, so wird rasch deutlich, dass wenig Konsens darüber herrscht, was der Begriff Rassismus tatsächlich alles umfasst und wie weit er geht.

Was wir wissen ist, Rassismus wirkt auf fatale Weise, sowohl auf der individuellen, auf der organisationalen, gesellschaftlichen aber auch auf der politischen Ebene; und er hat sich als wandlungsfähig erwiesen. Allen wissenschaftlichen, faktenbasierten Angriffen hat er getrotzt und blieb dennoch ein wichtiges, zerstörerisches, gesellschaftliches Kontinuum. Dem gehen wir nun eingehender auf den Grund.

  1. Rassismus ist eine Erfindung, die besagt, es gäbe bei Menschen unterschiedliche Rassen. Dass, was als äußerliche und physisch-sichtbare Merkmale – wie etwa Hautfarbe oder Haarstruktur – ausgewählt wurde und wird, sind willkürlich Kategorien.

Diese Aussage ist wissenschaftlich unumstritten, bestätigt und erhärtet. Es gibt keinen Zweifel darüber, denn die biologischen Unterschiede zwischen allen heute lebenden Menschen sind winzig, das haben weltweit angelegte, genetische Studien gezeigt.

Im menschlichen Erbgut gibt es 3,2 Milliarden Basenpaare – aber bei keinem einzigen Basenpaar gibt es einen einzigen fixierten Unterschied, der zum Beispiel Afrikaner* von Nichtafrikaner*innen trennt. Es gibt also nicht nur kein einziges Gen, das solche angeblichen „rassischen“ Unterschiede begründet, sondern noch nicht mal ein einziges Basenpaar. Eine Einteilung in „Rassen“ ist daher willkürlich und unwissenschaftlich.[4]

2. Rassismus ist daneben die Mär, dass diese „Rassen“ eine Ordnung und Hierarchie hätten.

Die Wahrnehmung eines äußerlichen Unterschiedes wäre an sich noch nicht problematisch. Die vermeintliche Vielfalt im Aussehen des Menschen und seiner Verhaltensweisen ist ja tatsächlich groß. Der wahrgenommene Unterschied im Aussehen oder ein bestimmtes Verhalten wird jedoch immer auch mit unserer eigenen „kulturellen Brille“ angesehen und sofort bewertet. Unser Aussehen, unser Verhalten, unsere Rituale sind immer besser, höherwertiger, als dass der „Anderen“.[5] Damit wird eine Norm gesetzt, eine Normalität[6].

Daraus entstehen Gegensatzpaare, wie etwa „entwickelt“ vs. unterentwickelt“, „zivilisiert vs. unzivilisiert“, „Ungläubige vs. Gläubige“. Biologisch wahrnehmbare Unterschiede werden zu sozialen Eigenschaften bzw. Praktiken umgewandelt. Äußeres wird mit innerem Ausdruck, Charakter, Gefühlen, Intelligenz etc. verschmolzen[7].

Weil es keine „Rassen“ gibt …

Nun finden wir das seltsame Paradoxon vor, dass es keine Rassen gibt, aber sehr wohl Rassismus. Die Erklärung dafür ist wohl, dass Rassismus eine soziale Praxis ist, die Unterscheidung und Bewertung bestimmter Gruppen ermöglicht.[8] Es braucht den Begriff „Rasse“ nur als Vorwand, um bestimmte Diskurse und öffentliche Kommunikationsstränge durchzusetzen, die von anderem ablenken sollen.

«Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers.»[9]

Wen über das „Wir und die Anderen“ gesprochen wird, dann wird über andere Missstände in der Gesellschaft nicht oder weniger gesprochen; etwa über das Gegensatzpaar „Reiche und Arme, Städter* vs. Landbewohner*innen, Bildungschancen etc.“. Diesen Entfremdungsprozess nennt man auch Othering.[10]

Fußnoten:

[1] Der Titel der Serie ist den Ausführungen von Birgit Rommelspacher entnommen, die im Beitrag: „Was ist eigentlich Rassismus?“ im Band: Rassismuskritik. 1. Rassismustheorie und -forschung den Begriff erläutert; siehe auch Melter/Mecheril 2009.

[2] Anlass zu dieser mehrteiligen Artikelserie war die am 20. März 2024 im Grazer Rathaus stattfindenden Tagung unter dem Titel: „Rassismus – Quo Vadis?“ von der Antidiskriminierungsstelle Steiermark (https://adss.at/veranstaltungen/rassismus-quo-vadis/).

[3] Siehe etwa Antidiskriminierungsstelle Steiermark (https://adss.at/) und ZARA (https://www.zara.or.at/de)

[4] https://www.quarks.de/gesellschaft/darum-ist-die-rassentheorie-schwachsinn/

[5]https://igkultur.at/theorie/des-kaisers-tiere. Hakan Gürses.

[6] Siehe auch die aktuelle Debatte über Leitkultur, Anpassung und Staatsbürgerschaft, wie etwa im Grundsatzprogramm von BM Karl Nehammer (ÖVP) https://www.deroesterreichplan.at/

[7] Vgl. Kalpaka, Annita; Räthzel, Nora: Wirkungsweisen von Rassismus und Ethnozentrismus. In: Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Argument Verlag. Neuauflage 2017. Hamburg.

[8] Hall, Stuart: Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Was ist Rassismus. Kritische Texte. Reclam 2016.

[9] Albert Memmi, Rassismus, Frankfurt a.M. 1987

[10] Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani Of Sirmur. In: Barker, F. et al. (1985): Europe and its others. Vol. 1: Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature July 1984. Essex.

Wie sonst könnte Rassismus überall anzutreffen sein? Es ist ja kein Privileg der „weißen Rasse“ – der Europäer/Nordamerikaner, wie dies gerne, etwas vereinfacht „postkolonial konstruiert“ dargestellt wird, rassistisch zu sein und Rassismus umzusetzen. Wir finden in der Menschheitsgeschichte in allen Teilen des Globus ähnlich Prozesse des Rassismus, ob in Afrika, Asien, Lateinamerika, im Mittlere Osten oder in Ozeanien und dies auch ohne „weiße Rasse“. Immer schwingt sich dabei eine „Gruppe = Volk/Nation/Rasse“ über einen andere und legitimiert seine Überlegenheit für Gräuel, Verfolgung, Ausbeutung und Sklaverei.

Die klassische Form des Rassismus lebt dennoch fort, unabhängig davon, ob es eine „Rasse“ gibt oder nicht. Das Konstrukt ist hartnäckig und erfolgreich, auch und insbesondere unter wirtschaftlichen und Nützlichkeitsüberlegungen betrachtet. Davon aber später noch mehr.

Aber da die Legitimation immer wieder auch neu herausgefordert ist und bewiesen werden muss, wurde der Rassismus auch wandlungsfähig. Da die Definition von „Rassen“ diskreditiert wurden – neben den Beweisführungen durch die Wissenschaft, war vor allem der Widerstand gegen die Sklaverei in den USA mit verantwortlich, die Verwerflichkeit der Ideologie in breite Schichten zu tragen. Später wurde gerade der vernichtende Siegeszug unter dem totalitären Nationalsozialismus, der zur Ausrottung der jüdischen Bevölkerung aufrief und ihn massenweise umsetzte, mit verantwortlich, dass Rassismus diskreditiert war und sich das Konzept erneuern musste.

Dies tat es dadurch, dass die Definition der Rasse von der biologischen Auffassung der „Rasse“ auf alle Arten von Abstammungsgruppen, die als andersartig dargestellt werden können, insbesondere auf die «ethnischen Gruppen» oder «Völker» oder auch als kulturell oder religiös definierte Eigenschaften, abgewandelt und erweitert wurde.

Dies ist insbesondere in der „westlichen Welt“ (USA/Europa) erfolgt, wo im Windschatten der Polarisierungen[11] auch der Islam als „Feindbild“ herangezogen worden ist. Dies unter dem Label des antimuslimischen Rassismus.[12] Aber auch in Indien ist antimuslimischer Rassismus stark im Aufwind, insbesondere seit Narendra Modi [13] mit seiner religiös-fanatischen und nationalischen Partei BJP [14] an die Macht gelangt und Indien zunehmend in einen Gotteststaat verwandelte, ebenso in Myannmar, in der die autoritären Militärs nach einem Putsch 2021 [15] noch schärfer gegen die muslimische Minderheit der Rohingya[16] vorging.

…ersetzt eben Kultur den Begriff

Ein weiteres Element der Rassismusdebatte und -praxis war die Substitution des inkriminierten Begriffes durch den Begriff der Kultur. Bereits Theodor Adorno bemerkte diesen Wandel im Jahre 1955[17], ausgedrückt in seinem Zitat:

„Das vornehme Wort Kultur tritt an die Stelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“

Damit etablierte sich der Begriff „kultureller oder kulturalistischer Rassismus“. Der Einsatz des Begriffes „Kultur“ in seinem Absolutheitsanspruch und seiner vermeintlichen ideologischen Reinheit in der Definition (was Kultur ist und wie Kultur zu sein hat) kann als synonyme Verwendung zu „Rasse“ verstanden werden. Damit eröffnet sich ein neues, breites Feld für Rassismen und Rassismus, der politisch-gesellschaftlich eingesetzt werden konnte und kann.

Fortan können in der gleichen Systematik des Rassismus auch in den 1960er ff als „Gastarbeiter*innen“ bezeichnete Migrationsbewegung zu „Anderen“ gemacht werden, indem sie eben eine andere Kultur hätten, in dem sie als unzivilisiert tituliert wurden, indem sie als dümmer und zu höheren Aufgaben nicht fähig befunden wurden.

Bestätigt wurde das Stereotyp schließlich durch die hohe Anzahl von „Gastarbeiterkinder“ in Sonderschulen, in die sie vom herrschenden System „ausgesondert wurden“ [18]. Von Rasse war da selten die Rede, sehr wohl aber von Kultur. Vielfache Beispiele ließen sich hier anführen, insbesondere in der politischen Debatte aktuell (Leitkultur und Staatsbürgerschaft) zeugen von dieser Wandlung hin zum kulturalistischen Rassismus. Die Systematik indes bleibt die gleiche.

An dieser Stelle müsste man näher auf den Begriff und die Verwendung von Kultur eingehen, was den Rahmen dieses Beitrages erheblich sprengen würde. Fakt ist aber, dass Kultur ein sehr häufig und weit aufgefächerter, sogenannter „Containerbegriff“ geworden ist, der – je nach Kontext und Sprechendem – alles Mögliche heißen und bedeuten kann[19].  

Sehr trivial aber häufig wird Kultur etwas mit Nationalstaaten („die Türken“) verbunden und wie ein Rucksack verstanden wird, den jede/r mit sich trägt und nicht abgelegt aber auch nicht verändert werden kann[20].


Im Teil II der Serie wird es um Rassismus als Spurenelement im Recht, in Politik und Alltag sowie als Kontinuum unserer Menschheitsgeschichte gehen; folgt in Kürze; stay tuned.

Fußnoten:

[11] Wesentliche Bestandteile dafür war die Eskalation nach den Anschlägen 9/11 und das Pamphlet „Kampf der Kulturen“ von Samuel Huntington.

[12] Siehe zu antimuslimischer Rassismus auch: Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/themen/infodienst/302514/was-ist-antimuslimischer-rassismus/

[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Narendra_Modi

[14] https://en.wikipedia.org/wiki/Bharatiya_Janata_Party

[15] https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/327681/militaerputsch-in-myanmar/

[16] https://www.unicef.de/informieren/projekte/asien-4300/bangladesch-19362/wer-sind-die-rohingya-/256276

[17]Adorno, Theodor W. (1975): Schuld und Abwehr, in: Gesammelte Schriften Band 9/2, S. 276f.

[18] Siehe: Rana, Sabina, Laksmi. Migrantenkinder in Sonderschulen. Der Zusammenhang zwischen mangelnder Deutschkenntnisse und sonderpädagogischem Förderbedarf. Diplomarbeit, Pädagogik, Universität Wien, 2012

[19] https://kulturshaker.de/kultur/

[20] Siehe auch: https://gulis.at/schreiben/das-kreuz-mit-der-kultur/, der Beitrag liefert eine ausführlichere Beschäftigung mit dem Begriff und den politischen Konzepten.