Selbst – Behauptung

Schreibkraft # 32 „Durchlesen“

Ein Suchttagebuch.
Prolog:

Donauland!

Die Buchgemeinschaft Donauland ist schuld oder verantwortlich, je nach Sichtweise. Da bin ich mir ganz sicher. Anders kann ich mir es nicht erklären, dass Bücher in die Regale des Wohnzimmerverbaus meiner Eltern gekommen sind. Durch Besuch einer Buchhandlung sicher nicht! Mein Vater hat nie eine Buchhandlung von innen gesehen.

Manche fragen sich vielleicht, what the hell is Donauland? Das ist eine sogenannte Buchgemeinschaft. Man wurde Mitglied und konnte zu günstigen Konditionen Bücher kaufen. Dafür gab es eine persönliche Betreuung. Die uns zugeteilte Betreuerin kam einmal im Quartal, erhielt einen Kaffee, blätterte mit meiner Mutter den Katalog durch, dann wurde bestellt. Beim nächsten Besuch brachte sie die Bücher mit.

Märchen- und Sagenbücher waren die einzigen, die meine Mutter nachweislich las, die hatte sie mir als Kind vorgelesen. Aber das ist wirklich schon lange her.

Foucaultsches Pendel – Kefalonia, 1992

Es ist heiß. Der alte Bus, mit dem wir durch Griechenland rumpeln, hat keine Klimaanlage. „Das einzige was hilft, ist draußen schlafen“, sagt Thomas. Andrea will das nicht, wegen der Viecher und so. Mitten in der Wildnis hat sie nicht ganz unrecht. Ich beschließe, den beiden den Fond zu überlassen und begebe mich mit der Luftmatratze auf das Dach. Es riecht wunderbar, nach Zypressen, Pinien – Süden; eine leichte Prise kühlt die Haut. Ich schalte die Taschenlampe ein, lese weiter: „Das Foucaultsche Pendel“ von Umberto Eco.

Wir landen am Strand von Xi. Bizarr ist der rechte Ausdruck dafür. Der Sand der Bucht ist dunkelrotbraun. Dahinter erhebt sich eine weiß-graue Wand. Aus der kann man mit den Händen, Lehmstücke raus reißen. Davor liegt ein türkises Meer. Es sind noch 40 Seiten, die ich absolvieren muss. Da ist ein Sog, dagegen ankämpfen ist sinnlos. Es muss weiter gehen, immer weiter.

Ich bin süchtig, glaube ich. Obwohl ich weiß, dass das Buch zu Ende sein wird, wenn ich jetzt weiter lese. Ich habe es mir vorgenommen, ich wollte einteilen. Aber es gelingt nicht. Ich sehe das Ende. Gestern, in der Nacht, da dachte ich: 100 Seiten, jetzt hör ich auf! Dann waren es 60. Aber nein, es ging weiter, noch 40. Irgendwann bin ich doch eingeschlafen. Und jetzt das gleiche wieder. Weiter: Tempo, Ekstase, Orgasmus. Bis es aus ist und jetzt ist es aus, vorbei. Ich schaue auf, bemerke Xi, sitze nutzlos herum. Warte auf den Sonnenuntergang. Und danach? Es ist vorbei! Und eine große Leere. Die Postlesedepression.

Die besagten Sagen und Märchen, waren ein Einstieg. Denn Mutter schlief während des Lesens oft ein und ich konnte sie bald auswendig und dann – mit dem Schuleinstieg – las ich sie ihr vor, damit sie zu Mittag ein Nickerchen halten konnte.

Dann entdeckte ich Karl May. Ein Klassiker für damals. Kennt den heute noch ein Jugendlicher? Und da kommt wieder Donauland ins Spiel. Die hatten nämlich die Bücher von Eric Malpass im Sortiment und solange es die „Gaylord Romane“ gab, konnte Mutter auch ohne Betreuerin bestellen. Die Fortsetzungsromane hielten einige Zeit. Biedere Jugendliteratur: brave Mittelstandsfamilie mit zwei Kindern, Haus mit Garten, in einer englischen Grafschaft. „Aufregende Abenteuer“ passierten – der Hamster ging stiften und alle suchten ihn. So was in der Art, aber für ein Kind von damals, reichte es.

Mit den Jahren füllte sich das Wohnzimmerregal bei den Eltern, was leicht war, weil nicht sonderlich viel zu füllen war. Bücher von Harold Robbins und Johannes Mario Simmel und ähnliches. Ersterer hatte pro Roman so alle 60-70 Seiten mal Sex zu bieten, was sie für mich, eine pubertäre Zeit lang, interessant machten. Zum Titel „Sex“ gab es auch noch „Lady Chatterly“ und „Fanny Hill“, zwei gekrönte Erotikbestseller der Zeit. Stimmt, die hat mein Vater wahrscheinlich gelesen. Ein Must Have würde man heute sagen. Später füllten fette Wälzer, Lexika und Enzyklopädien das Regal auf; mehr zur Fassade, als für den Lesegenuss. Mit denen konnte man ordentlich Meter machen.

Als mir dieser Zustand zum ersten Mal passierte, dachte ich zuerst, dass würde jetzt immer so sein. Also machte ich mich auf, den speziellen Buchheroin-Kick zu finden. Damals in Kefalonia war ich schon im fortgeschrittenen Stadium, haltlos dem ausgeliefert. Alles andere war nur Methadon Programm.

Sprung vorwärts

Der Sprung, der dann folgte, war weit. Ich stolperte direkt in die Literatur der 1970-80er. Borchert bekam ich in die Hand gedrückt; von einem Freund, der mir zuraunte, das müsse ich unbedingt lesen. Fast so, als wäre es illegal. Gut, dann halt Borchert. Das war dann doch ordentlich was Neues; was anderes, gänzlich anderes. Dann Böll: „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Wahnsinn. Frischmuth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht, Handke folgten. Wow. Ab diesen Zeitpunkt war debattieren in unserem Kreis in, politisch aktiv werden Pflicht. Neben Literatur, wurden ab sofort auch politische Schriften gelesen. Das Entdecken kannte keine Grenzen.

Episode 1: Keine Entführung

 Wir sind seit mehr als drei Wochen in den Bergen versteckt, als Geiseln. Es gab große Aufregung um uns, wurde uns gesagt. Sie zeigten uns eine Zeitung, wir auf dem Titelblatt. Ein Minister wurde interviewt, der Botschafter aus Österreich auch. Internationale Aufregung, wie die Zeitung schrieb. Wir wurden zur Weltmeldung.

Wir saßen im Bus. Als die Straße vom Meer wegführte und das flache Land zerschnitt, hielten wir nach etwa einer Stunde an. Zwei Soldaten kamen rein. Zumindest dachten wir, dass es Soldaten waren. Sehen alle gleich aus. Zusammengestückelte Uniformen – wer kennt sie schon auseinander? Alle raus aus dem Bus. Gepäck kontrollieren. Die Gewehre machten nervös. Es tauchten noch mehr auf. Im Bus war es angenehm kühl, doch am Straßenrand herrscht brütende, schwere, staubige Hitze. Wir standen angespannt daneben, während die in unserer Wäsche wühlten. Dokumentenkontrolle. Gespräche, laut, abgehackt, aggressiv. Stimmen lauter, die Stimmung änderte sich. Man spürte die Anspannung. Das war keine normale Straßenkontrolle mehr. Woher wir kommen, wohin wir wollen, wer wir sind! Heimliches Reden, Getuschel. Telefonate. Wieder Fragen, wir sagen die Wahrheit. Dass wir Touristen sind und nach Medellin wollen. Gepäck von uns bleibt im Staub liegen. Der Bus fährt weiter. Blicke hinter den Scheiben. Ich schrecke auf, orientiere mich. Nur ein Traum, der Bus steht noch immer im Stau.

Auch wenn es echt schwer war, es ging mit mir durch. Meine Lesekurve raste nach oben, wie der Dow Jones Index bei einer Rallye. Aber in all der steigenden Sucht und der fortwährenden Gier nach Bücher, zum „durch-lesen“, waren da Werke, die nicht rein passten ins Schema. Es gab eine zweite, eine andere Art. Ich war dem auf der Spur. Nicht die Verschling-Bücher, nicht der Lese-Heroin-Kick, sondern jene, bei denen es langsam ging, die spröde, zäh und unnahbar waren, begannen mich zu faszinieren. Bücher, die etwas Unbekanntes in sich trugen, erobert werden mussten. Das dauerte, manchmal 60 Seiten, bis es gelang. Irgendwann kippte ich in den Stil, das Tempo und die Realität des Autors, der Autorin hinein und war drinnen. Der Trip war ein gänzlich anderer, ein Trip blieb es.

 Ulysses – Kolumbien, 2005

 Ich führe nur den Ulysses von James Joyce mit. Auf Reisen, bei denen man viel unterwegs ist und neues kennen lernt, komme ich wenig zum Lesen. Solche Reisen fordern, nicht nur körperlich, weil man dauernd auf Achse ist, kaum Zeit zum Ausrasten hat, auch geistig, mental. Man ist mit fremdartigen Situationen konfrontiert, lernt wieder staunen und muss sich in einer fremdkulturellen Umgebung behaupten. Am Abend bin ich meist so müde, dass ich nur wenige Seiten schaffe, zäh, mühsam. Dementsprechend ambitioniert ist ein tägliches Kontingent von 40 Seiten. Flugzeiten und 2 Tage Fieber helfen mir, den Rückstand etwas aufzuholen. Aber der Joyce ist mein Wegbegleiter. Hängt schwer in meiner Tasche und ich schleppe ihn durch Bogota, Medellin, Cali und Cartagena.

In der Kaffeezone lese ich ihn im Schaukelstuhl am Balkon der Finca. Ich kann endlich wieder einmal das Tageskontingent erfüllen. Wird – wie sollte es anders sein – mit einem vergossenen Kaffee bräunlich eingefärbt und liegt einen Tag im Fenster zum Trocknen. Wellt sich aufgrund der Feuchtigkeit am Amazonas um ein Drittel auf und nimmt 100 Seiten später in Bogota wieder Normalformen an. Wenn ich ihn jetzt so ansehe, dann sieht man ihm die Reise an.

Schluss ist mit dem Joyce dann im Zug zurück, nach Graz. Bis Wiener Neustadt stehen wir, draußen ein tief verschneites Österreich. Der Kampf um die letzten Seiten beginnt. Zwischen Mürzzuschlag und Kapfenberg erfülle ich das Plansoll, endlich. Ich kann eh nicht mehr. Was sich gut trifft, denn die Reise ist ja auch zu Ende.

Ich wusste, an solche Bücher musste ich anders ran. Ich begann einzuteilen, eine Kontingentierung vorzunehmen. Pro Tag 20, 60 oder 100 Seiten, je nachdem. Bei Ulysses waren es 40; bei Pynchons Enden der Parabel und bei Danielewski´s Haus 30. Anstrengend genug. Dazwischen führte ich Evaluationen durch. Die Zielkontingente werden dann je nach Nicht- oder Erreichung angepasst. Klingt bürokratisch, klingt nach Fünfjahresplan, sagen sie? Ja, Sie haben Recht! Aber es geht nicht darum, den Kick zu kriegen, den Flash, sondern sich eine beständige, konstante Dosis zu zuführen, mit der man in einen Flow hinein gerät, in einen Sog. Spiegeltrinker statt Koma Saufen!

 Der Zauberberg – Portugal, 2006

Im Oktober 2006 waren wir in Portugal unterwegs. Gestartet sind wir in Lissabon, durchstreiften bald das Barrios, besuchten ein Spiel von Benfica, das sie 4:1 gewannen, gegen Deportivo Aves. Gingen in der österreichischen Botschaft wählen. Das „Zauberberg Ambiente“ von Thomas Mann, der morbide Charme der schweizerischen Kuranstalt, der antiquierte Erzählstil und die philosophischen Diskussionen, würden nicht zum maritimen Flair Portugals passen, dachte ich.

Wir liehen uns ein Auto, fuhren Richtung Norden, streiften Ericeria. Standen am westlichen Zipfel des Festlandes in Peniche, wohnten direkt an einer Steilklippe mit Blick auf eine große Bucht – großartig zum Lesen – und tauchten wenig später in das mittelalterliche Flair von Coimbra ein. Da hatte ich schon ein gutes Stück zurückgelegt und war ab Ericeria im Flow. Als wir in Porto landeten und uns dort am Vinho Verde erfreuten, hatte ich schon über 2/3 geschafft.

Reiseeindrücke und Buchseiten gerieten in Einklang. Nach ein paar dutzend Seiten war ich eines Besseren belehrt, das passte. Hans Castorp und seine Kumpanen, allen voran der Herr Settembrini waren mit uns unterwegs. Als die Geschichte zu Ende erzählt, war nicht nur das Buch aus, sondern auch die Reise. Es kam also wieder einmal alles zusammen.

Episode 2: Eingefrorene Masse

Das Schiff kommt mit einem letzten Knirschen und Zucken endgültig zum Stillstand. Eine kurze gebieterische Bewegung des Uniformierten reicht aus, um die eingefrorene Masse aufzutauen. Die Menschen hasten vom Schiff, zwischen den, sich bereits in Bewegung befindlichen, Autos und Motorrädern, stürzen auf das Häuschen der Zollkontrolle zu, schleifen ihre Koffer und Taschen und Kinder hinter sich her.

Sein Abgang kommt in Bewegung. Die Familie vor ihm, beginnt sich zu bewegen. Er steigt hinterher, bemüht sich, das Tempo zu halten, das vorgegeben wird. Er geht über die Laderampe. Hinter sich hört er die Hafenarbeiter mit den Autofahrern schreien, die sich mühsam und angsterfüllt aus dem dicken Bauch des Schiffes herausbewegen. Stinkend, heulend, lärmend. Vor Aufregung gerötete Mitteleuropäer, die mit den Anweisungen des Schiffpersonals und den verlangten Fahrkünsten hoffnungslos überfordert sind. Dicke Rauchschwaden steigen hoch. Diese Schlange dampft.

Die Strudlhofstiege liegt in Bischkek, 2009

Monika war ein Jahr in Kirgisien, Auslandsaufenthalt für ihre Ausbildung, unterrichtete Deutsch an der Universität in Bischkek. Ein fremdes und unübersichtliches Land, trägt schwer am sowjetischen Erbe. Eine riesige Lenin Statue stand in Bischkek herum. Wir halfen ihr ein wenig dabei, es zu ertragen und besuchten sie. An einem Wochenende machten wir „Urlaub auf dem Bauernhof“, einige Kilometer von Bischkek entfernt. Eine kleine, rotbäckige und sehr freundliche Frau mit asiatischen Gesichtszügen bewirtete uns u.a. mit rohen Karotten-Leber Salat. Frisch zubereitet ging das gerade noch. Aber am dritten Tag stand der gleiche Salat noch immer da. Ich wurde grün im Gesicht, passte mich den Leberstückchen an.

Es war Pflicht, das man als Gäste ritt. Das Gelächter war schon mal laut, als die Familie und die Kinder – mehrere von 4 bis 10 standen  mit Zahnlücken, alten Hosen und zerrissenen Schlapfen vor uns – erfuhren, dass wir nicht reiten konnten. In Kirgisien kann jedes Kind ab 3 Jahre reiten. Also setzten sie uns kopfschüttelnd und lachend eines dieser Kinder mit aufs Pferd und die pilotierten die Gäule für uns. Für die Jungs war das ein Riesenspaß, uns durch die hügelige Gegend zu manövrieren. Sie machten das sehr gut.

Wir fuhren zum Songkul, ein Gebirgssee auf über 3.000 Meter. Die Halbnomaden verbringen den Sommer mit ihren Tieren dort oben. Nebenbei bewirten sie ein paar Touristen, kein schlechtes Konzept. Wir schlafen in Jurten. Es war eine Hochebene, die einer Wok Pfanne nachempfunden war, oder eher umgekehrt? Der See inmitten. Nur ohne Deckel. Als ich morgens zum Plumpsklo stapfte, dass einige hundert Meter von den Jurten entfernt stand, lag Raureif auf der Wiese und etwa 50 Meter höher hatte es geschneit, man konnte die Grenze genau sehen. Es war Anfang Juli.

So toll es am großen Issyk Kul-See war, dort konnte ich lesen und am See liegen, so unmöglich war es in den Jurten am Songkul „die Strudlhofstiege“ weiter zu erklimmen. Das Nichtlesen können, machte mich kribbelig, typische Symptome eines Süchtigen, mit beginnendem Entzug; oder war es doch die beginnende Höhenkrankheit? Auf jeden Fall war meine Tagesquote in Gefahr. Aber es half nichts, der Amtsrat Melzer musste warten, bis es mir wieder besser ging.

In der Nachbarsjurte hatte sich eine Bischkeker Partygesellschaft eingenistet. Junge Burschen, die eigentlich ganz nett waren, nur etwas exaltiert und mit zunehmendem Wodka Genuss immer lauter wurden und Party feiern wollten. Wir waren eingeladen. Da sie meinen Namen nicht aussprechen konnten, wurde ich kurzerhand zu Volkswagen umgetauft. Wir zogen uns trotzdem bald zurück. Kurz bevor es wirklich – auch bei ihnen drüben ruhig wurde – hörte ich noch: Good Night Volkswagen.

Und erst als wir wieder in Bischkek waren und uns auf die Reise nach Usbekistan vorbereiteten, wurde der Unfall, bei dem der Mary K. eines ihrer sehr schönen Beine von der Straßenbahn abgefahren wurde, verhandelt. Das war aber schon weit drinnen – mitten irgendwo im Buch.

Obwohl so ziemlich alles schief lief, was schief laufen konnte; eigentlich von Anfang an, vom ersten Tag in der Volksschule weg. Ich wollt kein zweites Mal hingehen, wurde ich trotzdem zum Leser. Kompliment. Am dritten Tag lag meine Mutter im Kreissaal und gebar unter Komplikationen am vierten Tag meine Schwester. Sie konnte mich nicht mehr abholen. Mein Opa übernahm das. Der musste extra von der Firma weg und durch die Stadt auf die Ries fahren, wo meine Schule lag und natürlich verspätete er sich.

Ich stand da und wartete. Alle anderen Kinder waren schon abgeholt, waren in die Autos der Papas eingestiegen oder wurden von ihren Mamas an der Hand nach Hause gebracht. Nur ich stand allein vor der Schule. Die Autos brausten an mir vorbei. Opa´s war nicht darunter. Ich war verzweifelt, hätte nicht einmal gewusst, wo ich hin hätte gehen sollen, denn ich wohnte erst seit ein paar Tagen bei Mama und Papa. Irgendwann kam er doch, nach Tagen, Wochen, Monaten. Das Malheur war passiert. Er packte mich heulendes Elend ein, tröstete mich. Aber für mich stand fest, dort wollte ich nicht mehr hin. Am nächsten Morgen führte mich Opa wieder hin, ohne mich zu fragen. Ich war schwer enttäuscht.

„Europe Central“ – Polen, 2014

Wir reisen in Polen. Vergleichsweise nahe zum aktuellen Krieg in der Ukraine. Den Rucksack beschwert William T. Vollmanns „Europe Central“. Zuckeln mit dem Auto durch Tschechien und Südpolen, stecken bei Łódź in einem Stau und lassen unseren ersten Tag gemütlich in Toruń bei Bier und Gegrilltem ausklingen. In der Nacht flattert eine Fledermaus durchs Zimmer. Die Geschichte spielt im 2. Weltkrieg und erzählt 37 Episoden u.a. von Dimitria Schostakowitsch, von General Wlassow, von Käthe Kollwitz.

Angesichts der aktuellen Weltlage fühlen wir uns nicht gut – so generell. Was soll aus all dem noch werden! Wir fühlten uns ohnmächtig. Bilder aus Lugansk schwirrten durch unsere Köpfe und wir hofften, wir würden das im Urlaub ein wenig bei Seite schieben können.

General Wlassow war ein hochrangiger russischer General der roten Armee. Nach der Gefangennahme durch die Deutschen wechselte er die Seiten. Er wollte gegen Stalin kämpfen und bewaffnet werden. Hitler war anfangs dagegen, Himmler überredete ihn jedoch und so stellte Wlassow eine „russische Befreiungsarmee“ (ROA) auf. Wie wir wissen, scheiterte das Unternehmen. 1946 wurde er von den Russen zum Tode verurteilt und 2 Tage später hingerichtet. Diese Geschichte kannte ich nicht, Sie?

Episode 3: Verängstigtes Tier

Seh´ die Bilder aus Luhansk,

zerschossene Häuser, ein Schuh am Straßenrand.

Kinder mit Kanistern suchen Schutz,

hinter der Bretterwand.

 Auf der Suche nach dem Geräusch,

finde ich ein verängstigtes Tier.

Bin schon sechs Tage da.

Und es ist immer noch schön.

Bin schon sechs Tage da.

Und es ist immer noch schön.

 Wir strandeten in Elbląg, trieben uns auf dem schmalen Küstenstreifen herum, gondelten nach Frauenburg. Ich hatte Fußschmerzen, humpelte durch Danzig, war überrascht über die Schönheit der Stadt. Vollmann schreibt eine große, exaltierte und chaotische Liebesgeschichte zwischen Dimitri Schostakowitsch und Elena Konstantinowskaja in den Roman ein. In echt, hatten sie eine Affäre, das ist gesichert, aber ob es tatsächlich die große Liebe war, wie Vollmann suggeriert, weiß man nicht. Ist auch nicht wichtig, es ist schön und wahr.

Wir waren schon über Danzig hinaus in Łeba am Meer. Fanden uns sozusagen im Bibione der Polen wieder. Kamen in einem alten, ziemlich renovierungsbedürftigen Palais unter, inmitten eines großen Parks und nahe am Meer. Ich war bei der Belagerung von Leningrad angelangt. Schostakowitsch erlebte als Flakhelfer die Belagerung mit. Seine 7. Sinfonie zeugt davon. Was ich nicht gewusst habe, die Leningrader Belagerung, durch die Deutschen, dauerte 2 ½ Jahre. Mehr als 1 Million Menschen verhungerten in Leningrad.

Schostakowitsch war ein Künstler, der am Rande des Wahnsinns im Wahnsinn der Umstände versuchte, zu überleben, nicht nur als Individuum, sondern auch als Künstler. Zwischen revolutionärem Eifer und opportunistischer Ernüchterung über die Entwicklung der Bolschewiki, machte er sich keine Illusionen darüber, dass er der nächste sein könnte, der abgeholt würde.

Als wir in der Region Stettin landeten, arbeite ich mich am Ende von „Europe Central“ ab. Wir suchen das Dorf meiner Großmutter, wo sie aufwuchs und meinen Großvater, der auf Montage in Vorpommern war, kennen lernte. Damit schließt sich der Kreis. Das Buch ist fertig, die Reise geht zu Ende und ich bin dort angelangt, wo ich immer mit meiner Großmutter hin wollte, als sie noch lebte. Aber sie verweigerte sich, dürfte wohl zu schmerzhaft gewesen sein.

Epilog: 

Seit 2003 trage ich jedes Buch, das ich lese, in eine Excel Tabelle ein. Damit weiß ich, was ich und wieviel ich pro Jahr lese. Fragen Sie mich was? Das wissen, die wenigsten, müssen sich auf Schätzungen verlassen, die – wie wir wissen – falsch sein können. Ich kann lesen und verstehe das allermeiste davon, was gemeint ist. Und das ist nicht wenig, behaupte ich einmal.