Die geografische Widerherstellung eines kurzen Eindrucks im Gehirn nimmt Zeit in Anspruch. Denn wir waren nur kurz im Zimmer, abladen, Toilettengang, Hände waschen. Dann wieder runter, in die Küche, sind am Tisch gesessen, haben einen Snack zu Abend gegessen, getrunken und mit meinem Schwager geplaudert. Doch jetzt plagt mich schon der Jetlag, es ist 3 Uhr morgens. Ich stehe neben dem Bett, ein Stück noch, dann müsste die Bank beginnen: Autsch, das war sie, kniehoch. Ein fahler Schein dringt unter die Tür durch. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die fremde Dunkelheit. Schemenhaft sehe ich die Bank am Fußende des Bettes. Ich quere den schmalen Gang zur Tür, öffne sie leise. Da ist ein Vorraum, rechts geht es zur Toilette. Das Notlicht aus dem Stiegenaufgang reicht. Die Tür quietscht. Jetzt brauche ich aber ein Licht. Ich suche an den üblichen Stellen nach dem Lichtschalter. Es blendet. Die Fliesen am Boden sind kalt. Das Wasser fließt lange und laut ab. Schaue mir in den großen Spiegel ins Gesicht. Ich finde nichts Außergewöhnliches. Der Bauch wölbt sich wie immer. Stelle mir meinen Darm vor, der sich kilometerlang dahin schlängelt, der schlaff pulsiert und kaum arbeitet.

Sie schläft, sie hat einen tiefen, vertrauensvollen und durch nichts zu erschütternden Schlaf. Ich biege nach links ab, auf ihre Seite, zum Fenster, ziehe an den schweren Vorhängen, stelle mich in den Spalt der beiden Vorhänge ans Fenster. Mein Vorderteil wird vom schwachen, orangen Licht der Scheinwerfer beschienen. Die Haut erhält einen sonderbaren, schwer zu beschreibenden Farbton. Langsam kriecht die Kälte an mir hoch. Ich schaue mir beim Atmen zu. Vogellaute dringen zu mir vor, die ich noch nie gehört habe. Dass ist schon mal was Neues. Vor dem Fenster, eine 3 Meter hohe Mauer, die um das Gebäude gezogen ist. Darauf der Stacheldraht und die Strahler, die das seltsame Licht erzeugen. Ich schau aus der Höhe des Stacheldrahtes darauf. Muss ich hier so viel Angst haben, dass an der Tür Security steht, dass die Mauern beleuchtet werden müssen, dass Stacheldraht notwendig ist?
Ein Gefühl krabbelt an meinem Rücken hoch. Mein Gehirn suggeriert mir, wie ich mich im Stacheldraht verfange, festhänge. Das Gefühl ganz nah, mir stellen sich die Nackenhaare auf. Das Ganze kommt aus der Vergangenheit, aus einer schon lange nicht mehr geöffneten Schublade. Ich hantiere mit Handschuhen, versuche das spröde Geflecht der Rollen auseinander zu ziehen, in Reihe zu bringen. Irgendwo schreit wer Befehle. Durch die Bewegung, die Versuche sich daraus zu befreien, gerät man immer mehr hinein; Kleider zerfetzen, die Haut darunter auch. Die ergreifende Art des Stacheldrahtes wird dadurch erst aktiviert. Da ist er in seinem Element, mit seinen trapezartigen Klingen, der die alten klassischen Stacheln, die man in alten Filmen sieht, längst abgelöst hat. Bravo, tolles Produkt.
Wir pressten Stirnen und Nasen an die Plexiglasscheiben. Wir wollten vom neuen Kontinent Blicke erhaschen. Wir waren erleichtert. Elf Stunden waren gleich ausgestanden, Anflug auf Bogota. Die Stadt liegt auf einer Hochebene in den Anden – 2.600 Meter hoch. Das Klima in Bogota ist mild für die Region. Lebenswert, nicht aufregend. Es gibt keinen Frühling, keinen Sommer, keinen Herbst, keinen Winter. Es gibt, so ganz grob gesagt, zwei Jahreszeiten. Eine in der es mehr regnet und eine mit weniger Regen. In Bogota klettert die Temperatur fast nie auf mehr als 20 Grad und hat selten weniger als 10°. Die einzige Schwierigkeit ist, wenn man die dünne Luft schlecht aushält, die hier in der Höhe herrscht, die noch dazu durch Stadtverkehr und Heizungen schwer in Mitleidenschaft gezogen ist, dann würde man sich auch wieder verkriechen müssen und absteigen, nicht in den Schatten, sondern in eine wärmere, aber dafür atembarer Höhe; Medellin vielleicht. Das liegt tiefer. Bei der Höhe geht es mir noch ganz gut, über 3.500 Meter wird’s dann schwieriger. Hab ich schon erlebt.
Langweilig sagen sie? Kann schon sein. Aber wer das feucht-heiße Klima in Leticia am Amazonas oder die brennend trockene Hitze in Santa Fe de Antiquocha erlebt hat, versteht, warum man den Eroberer Gonzalo Jimenez de Quesada – Gründer von Bogota – als etwas weitsichtiger bezeichnen muss, als Jorge Robledo, der Santa Fe de Antioquia in einer immer gleichen, brennheißen Tiefebene auf 500 Meter über dem Meeresspiegel gründete. Der im Übrigen glaubte, er sei in unmittelbarer Nähe zum Meer, so zumindest die Mär. Betrachtet man die Landkarte, dann muss man wohl über die grandiose Fehleinschätzung lächeln. Der Weg zum Pazifik erweist sich als ziemlich weit und was noch schwerer wiegt; als ziemlich unwegsam, wenn nicht sogar unmöglich. Auch heute gibt es noch keine Straße direkt von Santa Fe durch den Chocó zum Pazifik.
Wir flogen die Stadt von Süden an. In der Kurve, die der Flieger nahm, sahen wir kurz die Stadt und einen hohen Berg, an dem sich die Stadt anschmiegte. Aber dann war schon wieder alles aus dem Blickfeld. Der weitere Anflug war wenig spektakulär. Der Flughafen „El Dorado“ ist für eine 8 Millionen und mehr Bewohner*innen Stadt klein; Marke unbedeutender Regionalflughafen, nichts Auffälliges, nichts Glitzerndes, nichts Prunkvolles, nichts Gewagtes. Einfach nur zweckmäßige, unansehnliche Betongebäude stehen herum.
Ich gehe zurück ins Bett. Es ist mir zu kalt geworden. Vielleicht war nicht nur der Stacheldrahtzaun Grund für das Kribbeln am Rücken? Die Kälte ist absurd. Erinnert mich an die leere Wohnung meines Schwagers in Wien, die wir vor dem Abflug als Zwischenbasis benutzten. Sind wir nicht in ein Land geflogen, das am Äquator liegt, eine Karibik Küste und immergrünen Regenwald besitzt? Da muss es doch heiß sein? Glücklicherweise hat mein Schwager uns vorgewarnt, dementsprechend haben wir eingepackt. Langsam werden die Zehen wieder warm unter der Decke.
Alles lief wie ein Film an mir vorüber. Der Impuls – als der Wecker um 4:20 Uhr läutete – die Augen nicht zu öffnen, einfach liegen zu bleiben, die Decke über den Kopf, weiterschlafen, das Leben und das was auf uns wartete, weiterziehen zu lassen, war überwältigend und kurz. Die Erstarrung, das Scheitern, das Ängstliche übermächtig werden lassen und in Wien bleiben, unerkannt, inkognito in einer vertrauten Umgebung und doch nicht zu Hause, flackerte auf. Wo ginge das wohl besser als in Wien? So wie in meiner Jugend, als wir einmal – fünf spätpubertierende Jungs – nach Italien gefahren und einen ganzen Tag zu früh am Busbahnhof gestanden sind. Darauf waren wir nicht eingestellt. Wir hatten nichts Besseres zu tun, als uns bei Sam in der Wohnung einzuquartieren und einen Tag in Graz Party zu feiern. Wobei so viel Party war da gar nicht; ja trinken schon, aber es war eher herumlungern, irgendwas einkaufen zum Essen, am Balkon im 10. Stock stehen, rauchen und Graz beobachten. Runter schauen auf ein Puff, das in bewegter Leuchtschrift eine Frau zeigte, die saß und dann lag, die saß und dann wieder lag. Selten erwischten wir einen Passanten, der auch rein ging.
Doch die Nachdenkzentrale wurde wenige Momente später ausgeklickt, die Routinen eingeschaltet, um voranzukommen, um den Gang der Operationen nicht zu stören. Aufstehen, aufs WC wanken, unter die Dusche kriechen, anziehen, die Koffer zusammenpacken, kontrollieren, ob wir alles mithatten, was wir die nächsten sechs Wochen brauchten. Nur wer konnte das wissen, was uns erwartete? Egal, weiter! Es funktioniert, dass man funktioniert, aber es funktioniert nicht, dass man die ganze Tragweite des Funktionierens ins Bewusstsein kriegt und somit auch das Bewusstsein so funktioniert, dass man es glaubt. Man lässt es einfach, man stört sich selbst nicht. Man steht vor der Türe und wartet auf das Taxi zum Flughafen. Es war eine bitterkalte Winternacht. Minus 8° Grad. Das Taxi kam, drinnen war es warm, letzte Nachrichten im Radio: Ein Baugerüst in Meidling war eingestürzt.
Der Verkehr ist draußen lauter geworden, zwar weit entfernt aber doch deutlich. Die Streifen Licht unter der Tür und durch den Spalt bei den Vorhängen, sind heller als zuvor. Konturen im Zimmer sind ausmachbar. Nebenan wird englisch gesprochen. Falsche Sprache, hier. Aber es ist eindeutig, wenn ich mich konzentriere, verstehe ich sie sogar. Gedächtnis trainieren, darüber bin ich eingeschlafen. Sie schläft nicht, dreht sich und atmet unregelmäßig. Sollen wir reden? Die Magie des ersten Morgens wäre damit wohl zu Ende! Wir halten uns an der Hand. Ich konzentriere mich auf das nächste Kapitel meiner Reisedokumentation. Gehirntätigkeit trainieren, weiter in der Chronologie. Nicht rasten und verschieben. Die Abfolge für die Nachwelt im Gedächtnis behalten; für welche Nachwelt? Die ersten drei Stunden. Flughafen, warten, boarden – wie es so schön heißt: Flug nach Paris.
Die Bilder verschwimmen schon ein wenig, da helfen Fotos. Heutzutage brauche ich keine staubigen Alben herausholen, die eingeklebten Fotos, die nach all der Zeit bereits schlecht halten und vom Albumpapier abstehen, neu einsortieren. Ich suche mir den Ordner am PC. Ich habe – im Unterschied zu vielen – ein Ordnungssystem, in dem ich auch das finde, was ich will. Ordner öffnen, durchklicken und schon nach wenigen Fotos spulen sich die Erinnerungen wie von selbst ab. Manche galoppieren davon, dorthin wo man im Moment nicht hinwollte, aber andere rufen Erinnerungen, zum Erzählstrang passend, ab.
Die furchtbare Busfahrt aus der Kaffeezone, steigt von meinem geistigen Auge hoch. Wir werden nach Pereira gebracht, verabschieden uns herzlich von unserer Begleiterin, die uns in den letzten Tagen ans Herz gewachsen war. Wir waren mit ihr in Salento, von dort ging es in das Cocora Tal, einem Naturschutzgebiet in einer Höhe von 1.800 bis 2.400 Meter, ein tropisch grüner Talkessel, in dem es neben Kolibris auch alleinstehende Palmen gibt, was angesichts der Höhe eine Besonderheit ist. Sie schleuste uns, als sie erfuhr, dass zufällig heute die kitschige Show „10 Jahre Kaffee Park National“ mit feierlichem Festakt und vielen Ehrengästen anstand, hinein. Mit dem Argument, dass wir wichtige Gäste aus Österreich und Verwandte des Botschafters seien. Es klappte.

Die Geschichte des Kaffees wurde erzählt, farbenprächtig, lächelnde Gesichter, tolle Gewänder und elegante Ballettbewegungen, von der Pflanzung bis zur Verschiffung nach Europa: Cafe do Colombia. „Ein Markenprodukt“, wie der ortsansässige Vorsitzende der Cafeteros betont, „denn nicht so wie die brasilianischen Marken, die einfach alles reinhauen, sortieren wir hier in Kolumbien aus und das machte das besondere Aroma unseres Kaffees aus“. Klar, die Konkurrenz muss schlecht geredet werden, ber sonst ein freundlicher Mann. Die Cafeteros sind eine mächtige Gruppe in Kolumbien. Der Staatssekretär für Landwirtschaft ist bei der Feier anbei. Großes Gedränge um ihn. Während der Tanzeinlage interessiert sich fast niemand für die Aktivitäten auf der Bühne. Selbst bei der Hymne, die stehend deklamiert wird, ist das neueste Gerücht des Nachbarn oder das eigene Handy interessanter. Der glühende Patriotismus und die Ehre Cafetero zu sein, wie in den Reden überall beschworen wird, reicht nicht soweit, dass man das Handy für ein paar Minuten weglegen würde.
Bei der Rückfahrt zur Finca, in der wir inmitten von Kaffee und Bananenpflanzen einige Tage wohnten, sehen wir viele müde, zerlumpte und barfüßige Campesinos die Straßen entlang gehen; alle auf dem Weg nach Hause, nach der Arbeit. Solche, die in der Tanzvorstellung als lächelnde und tänzelnde glückliche Menschen vorkamen. Es dämmert bereits. Wir hingegen sind hier wirklich glücklich: Kaffee um uns, dazwischen Bananen Stauden, mildes Klima, grüne Oasen, hügelig und relaxte Stimmung.
Schon der zweite Abschied, der schwer fällt, zuerst von der Karibik, jetzt aus der Kaffee Zone. Die gefährlichsten Situationen auf der ganzen Reise waren immer die Busfahrten. Das war schon von Cartagena nach Medellin so und setzte sich fort, egal wohin wir fuhren. Die Buschauffeure rasten ausnahmslos alle wie Berserker, als wären sie auf der Flucht. Im Bus spielte laute Musik, abwechselnd zu hyperbrutalen Videos auf den Bildschirmen. Dass diese Gemetzel auch kleine Kinder sahen, schien niemanden zu stören.
Mir wurde auf der Fahrt schlecht, das war nicht den Filmen, sondern meinem empfindlichen Magen geschuldet, der bei kurvigen Straßen schnell mal rebellierte. Glücklicherweise führte der Bus ein WC im hinteren Teil mit. Bei einer Raststation in einem engen, nasskalten Tal – hätte ein Teil der Weiz-Klamm sein können – erleichterte ich mich ein zweites Mal. Danach war ich erschöpft und apathisch. Die Busfahrer kennen nur eine Stellung des Gaspedals, durchgedrückt und nur wenn es absolut nicht mehr geht, bremsen; hupen, ganz nahe ans zu überholende Auto ranfahren, einfach ausscheren, zum Überholen ansetzen, obwohl sie absolut nix sehen konnten. Einige Male schafften sie es gerade noch, den Bus wieder nach rechts, hinter das zu überholende Auto, zu reißen. Links geht es 400 Meter den Berg hinunter. Darüber regt sich aber außer uns sonst niemand auf.
Wir wohnen in der Residenz der österreichischen Botschaft, bei meinem Schwager, der österreichischer Botschafter in Kolumbien ist. Das ist nicht das Büro der Botschaft, sondern das Domizil des Botschafters und geeignet für offizielle Empfänge und Essen, etwa für die Treffen der Exilösterreicher*innen in Kolumbien, für Kulturaustausch und ähnlichem. Es ist ein einstöckig quadratischer Ziegelbau, mit der Wohnung des Botschafters und mehreren Gästezimmern, wenn offizieller Besuch aus Österreich in Kolumbien verweilt. Zwei Haushälterinnen halten das Haus in Schuss, kochen, putzen, waschen, bügeln, gehen einkaufen und alles was so anfällt und bereiten im Übrigen wunderbare exotische Säfte zu; aus vorher noch nie gesehenen und gehörten Früchten, die uns bei unserem ersten Frühstück überwältigten. Ein Chauffeur steht für die Botschaft zur Verfügung, der sich neben den Fahrten für den Botschafter und den Angestellten auch um Besorgungen aller Art, Reparaturen am Auto und Haus kümmert und immer weiß, wo es gerade was besonders Gutes oder Günstiges gibt. Wir kamen in den Genuss mit Diego fahren zu dürfen, der wie ein Kapitän sein Boot durch die raue See führte.

Eine marmorne Treppe führt in den Vorraum hinunter, auf der wir, nachdem wir aufgestanden waren, unsicher und staunend umherblickend, hinunter gehen, ja schreiten. Im Parterre angekommen, stehen wir vor einem großen Salon, mit mehreren Sofas, Bilder mit Goldrahmen an den Wänden, vielen Teppichen und einen Kamin. Ich stelle mir diplomatische Gespräche nach dem Festessen bei Kognak und Zigarre, in gemütlicher Atmosphäre vor. Vom Salon führt eine breite Glastür in eine überdachte Terrasse und einige Stufen abwärts in einen Garten, der überwiegend aus einer Wiese besteht, am Rande einige Bäume. Das ganze Areal ist von einer drei Meter hohen Mauer umgeben, auf der – wie schon erwähnt – der Stacheldraht sitzt. In der Nacht ist alles mit Strahlern in orangem Licht gehüllt. Am Eingang zur Residenz gibt es ein Wachhäuschen, in dem immer ein Sicherheitswachmann sitzt.
Wir sitzen beim Frühstück, hinten im „normalen“ Arbeits- und Wohnbereich, dort wo die beiden Haushälterinnen ihr Regiment führen. Beim Abschied machen wir ein Foto vor der Residenz und den beiden Frauen. Da fällt uns erst der Größenunterschied auf. Wir beide und auch mein Schwager sind gegen die beiden wahre „weiße“ Ries*innen. Eine in Kolumbien gemachte neue Erfahrung für mich, der ich für einen Mann eher klein geraten bin. Aber als ich im berühmten Transmilenio von Bogota stehe – einem öffentlichen Bussystem, das die Stadt überzieht – der Bus ist ziemlich voll, kommt mir etwas „spanisch“ vor. Ich sah über einen Großteil der Leute hinweg, was mir in Österreich nie passiert. So geht es also großen Menschen, dachte ich mir. Auch nicht schlecht, vor allem für Konzerte. Konnte den grauen Haaransatz der gefärbten Haare der Frauen begutachten. Darauf bin ich konditioniert, als Sohn einer Friseurin.
Der Transmilenio ist ein interessantes Verkehrskonzept für Großstädte. Es besteht aus Gelenksbussen, die auf eigenen Spuren durch die Stadt gelotst werden. Die Stationen sind ähnlich den U-Bahnstationen konzipiert, erhöht, man gelangt also ohne Stufen in den Bus. Sie befinden sich in der Mitte der Straßen, mit Überführungen, so dass man vom Autoverkehr unbehelligt ist. Sie können damit den ständigen Staus auf den Straßen Bogotas entkommen und fassen bis 270 Personen pro Bus.
Die Residenz lag in einem besseren Viertel, nördlich vom Zentrum, gleich neben dem British Council; aha, daher also die englische Sprache. Im Übrigen ebenso streng bewacht. Es war eine Ausgehzone, viele Hotels in der Gegend, Bars, Restaurants. Aber die Residencia war damals schon eine kleine Oase inmitten des hektischen Trubels der Großstadt. Ringsum standen Hochhäuser, viele Büros und Geschäfte. Die wenigen alten Gebäude, die es noch gab, sahen eher nieder gekommen aus und warteten auf die Abrissbirne. Ein Viertel, wie geschaffen für Gentrifizierung.
Und trotzdem war es keine Gegend, an dem man abends einfach so rumspazieren sollte. Alle, die wir trafen, warnten uns davor. Das sei einfach zu gefährlich. Man müsse auch bei den Taxis aufpassen, vor allem abends. Wir sollten uns nur an Offizielle mit Taxameter halten und uns auf keine Spielchen einlassen. Trotzdem sind wir mit meinem Schwager eines Abends von einem Lokal, das nicht ganz nahe zur Residenz lag, nach dem Essen gemütlich heimmarschiert und haben die Avancen der Taxis alle abgeschlagen. Der Spaziergang war auch notwendig geworden, denn die kolumbianische Version einer Schlachtenplatte war fast ebenso üppig, wie unsere. Doch je länger es dauerte, desto mulmiger wurde uns, denn die Gegend war menschenleer. Selten zogen dunkle Gestalten mit Pferdefuhrwerken vorüber und eben Taxis oder Sportwagen, die die leeren Straßen für Rennen nutzten. Der mehr als 30minütige nächtliche Spaziergang hätte für uns Gringos auch anders ausgehen können. Einige Tage nachdem wir aus Kolumbien abgeflogen waren, vermeldete mein Schwager, dass eine Botschaftsangehörige in ihrer Wohnung überfallen worden ist. Ein traumatisches Ereignis, für alle in ihrem Umkreis.
Kolumbien war damals kein Land, in dem man so ohne weiters eine Reise machte. Wenn mein Schwager nicht dort Botschafter gewesen wäre, wären wir wohl nicht auf die Idee gekommen, nach Kolumbien zu fliegen. Es herrschte Krieg gegen die Drogen, der vor allem von den USA ausgerufen worden ist und die verschiedenen Guerillabewegungen waren aktiv. Insbesondere die größte Guerilla Organisation FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) trieb ihr Unwesen. Sie waren militärisch hochgerüstet, tief in den Drogenhandel und das Entführungs- sowie Erpressungsgeschäft verstrickt. Manche Regionen Kolumbiens waren damals nicht befahrbar, weil die FARC die Gebiete kontrollierte. Im Norden an der karibischen Küste, Richtung Venezuela hielt die zweite größere Gruppe ELN (Ejército de Liberación Nacional) zum Zeitpunkt unserer Reise Gebiete unter ihrer Kontrolle. Und dann mussten wir uns noch vor den AUC (Autodefensa Unidas de Colombia) fürchten. Rechte Paramilitärs, die von Großgrundbesitzer, konservativ-reaktionären und rechtsextremen Parteien sowie von den Militärs gesponsert und unterstützt wurden, die sich als Beschützer der Heimat aufspielten und alles umbrachten, meuchelten, vergewaltigten und entführten, was im Verdacht stand oder geriet, links, regierungskritisch oder Sympathisant der Guerilla zu sein. Das schloss alle mit ein, die sich für ein Ende der Gewaltspirale und für ein Ende des Krieges gegen Drogen einsetzten.
Es fuhr immer ein mulmiges Gefühl mit, wenn wir im Land unterwegs waren. Ist Kolumbien doch ein unbeschreiblich schönes, abwechslungsreiches, intensives Land. Wir kamen bei unserer Reise aus dem Staunen nicht raus. Und wäre da nicht der mörderische Bürgerkrieg gewesen, wäre Kolumbien wohl damals schon eine vielbereiste Tourismusdestination gewesen. So waren wir eher Exoten. Neben uns gab es wenige, meist Individualtouristen, die einem speziellen Hobby frönten: Wandern/Bergsteigen, Radtouren, Sportarten, die mit dem Meer zu tun hatte, Dschungelexpeditionen und vieles mehr. An der nördlichen Karibik Küste rund um Cartagena gab es so etwas wie Tourismus. Dort legten – wenn auch nur vereinzelt – große Kreuzfahrschiffe an. Denn Cartagena, insbesondere die karibisch geprägte, koloniale Altstadt zu sehen, war allein schon eine Reise wert.
Unsere zweite größere Station war Medellin – die Stadt mit einem ganz schlechten Image. Stand sie doch für all das schlechte, was Kolumbien zu bieten hatte. Drogenkartelle, Korruption, Morde, Entführungen, Banden, die ganze Viertel beherrschten oder terrorisierten, je nach Standpunkt. Medellin liegt auf 1.500 Meter Höhe im Aburra Tal im mittleren Bergzug der Anden. Die rund 1000 Meter tiefer als Bogota, merkte man sogleich. Nicht nur war die Luft etwas leichter zu atmen, auch die Temperaturen waren wesentlich höher als in Bogota. Die Stadt des ewigen Frühlings wird sie genannt.
Zum damaligen Zeitpunkt unserer Reise musste man von Norden kommend zahlreiche Berge überqueren, um in die Stadt zu kommen. Waghalsige Verkehrsmanöver einerseits, daraus resultierten ständig Unfälle und endlos verkeilte Staus. Mitten in der Nacht, an irgendeiner Bergkuppe und Kreuzung stehen wir rum, hupende und blinkende Autos überall, wo wir hinsehen. Wir schauen zwar raus aus den beschlagenen Scheiben des Busses, aber wissen überhaupt nicht, was da eigentlich los ist. Von Aussteigen und nachsehen hat man uns dringend gebeten, Abstand zu nehmen. Wir kommen 8 Stunden später an, als der Fahrplan es uns sagte. Mittlerweile wird der damals gebaute Tunnel, er uns stolz gezeigt wurde, wohl fertig und Medellin daher leichter zu erreichen sein. Vermutlich staut es sicher aber trotzdem bereits wieder an allen Zufahrtstrassen.
Die Residenz hatte etwas burgenähnliches, in den Tagen, in der wir in ihr lebten und langsam heimisch wurden, war es unser Rückzugsort, unser Heim, unsere Festung. Beschützt, umschlossen, umsorgt. Das Land war selbst für uns Touristen anstrengend. Es wirkte immer alles so „normal“ und doch war es das nicht. Wir durchstreiften Bogota, soweit das ging. Immer übermittelte uns der Schwager die aktuellsten Infos, wo wir bedenkenlos hin konnten, welche Busse, Taxis wir benutzen durften, und wo wir auf keinen Fall hin sollten. Und der Unterschied offenbarte sich oft zwischen wenigen Straßenzügen. Da waren wir gerade noch in einer belebten Innenstadtzone, bogen zweimal ab, gingen in die falsche Richtung und waren unvermittelt in einem Armenviertel, in dem kaum Weiße unterwegs waren und die Zahl der Bettler exorbitant anstieg. Gruppen von jungen Männern lungerten an der Ecke und beäugten uns auffällig. Wir suchten rasch das Weite und hofften, uns nicht nochmal zu verirren.
Da war die Rückkehr in die Residencia immer eine Heimkehr, in den sicheren Hafen. Die beiden Frauen bemutterten uns mit gutem Essen und Säften, wuschen unsere Wäsche und nahmen uns zum Blumenmarkt mit.
Unsere Rundreise endete vorerst einmal in Popayan, südlich von Cali, Richtung Ecuador, die Panamericana weiter. Eine Provinz – Kleinstadt, die berühmt für ihre ausufernden, üppigen und bombastischen Weihnachts- und Osterfeiern ist. Eigentlich wollten wir weiter nach Süden, nach Pasto, aber da ereilte uns der Ruf aus Bogota. Der Schwager riet davon ab, wir sollten zurückkommen. Es gebe Unruhen und die Strecke Popayan – Pasto sei nicht sicher. Kein Risiko, Flieger gecheckt und mit einer kleinen Inlandfluglinie ging es zurück nach Bogota. Nach einem Tag Ausruhzeit, in der ich in der Residencia umsorgt worden bin, weil ich ein wenig Fieber hatte, hatten wir schon einen neuen Plan. Wieder in den Flieger in das Amazonas Gebiet. Was nämlich die wenigsten wissen, Kolumbien nennt einen schmalen Keil an Land, der durch den Urwald direkt zum Amazonas führt und an Brasilien und Peru grenzt, sein Eigen.
In Leticia angekommen, erschlägt uns die heiße, nasse Luft. Wir gehen durch die Straßen, deren Schlaglöcher mit rot-braunem Wasser gefüllt, weil sie nicht asphaltiert sind. Alles tropft und ist nass. Es wirkt wie ein grauer nebliger regenverhängender November Tag, doch hat es 30 Grad. Am Morgen regnet es, nein, es schüttet. Überall sitzen riesige schwarze Vogel, die vom Regen zerrupft aussehen, am Straßenrand und trocknen mit gespreizten Federn und ausgebreiteten Flügeln ihr Gefieder. In einem großen alten Baum, unweit des Zentrums von Leticia sitzen abertausende kleine, bunte Vögel, die einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalten und richtig Betrieb machen in der Umgebung.
Nach zehn Minuten Aufenthalt im Freien ist dein Hemd oder T-Shirt sowohl von innen aus auch von außen nass. Der Schweiß und das Wasser rinnen dir von der Stirn übers Gesicht. Im trübel Nebelwetter gehen wir in den Swimming Pool, um Abkühlung zu erfahren, doch das ist eine Illusion. Es dauert nur drei Minuten, dann ist der Effekt aufgesogen. Die Haut an meinen Fingern ist ständig runzlig, ob der Nässe.

Am nächsten Tag machen wir einen Ausflug mit dem Boot, tuckern am Amazonas entlang; machen halt in Brasilien und Peru und fahren flussaufwärts, besuchen Familien, die noch Kautschuk aus den Bäumen gewinnen und am Amazonas direkt in Pfahlbauten leben.
Als wir unsere Heimreise antreten müssen und die Residencia verlassen, begleitet uns ein wehmütiges Gefühl. Wir hatten uns an das alles gerade gewöhnt und es liebgewonnen. So als hätten wir es geahnt, dass wir die Residencia nie wiedersehen würden.
Zwei Jahre nach unserem Urlaub verließ auch mein Schwager Kolumbien und trat seinen neuen Posten in Brasilien an. Schon damals gab es das Gerücht, dass die Residencia in Bogota aufgelassen und verkauft werden würde, was mittlerweile auch geschehen ist. Das Gebäude gibt es heute nicht mehr, es ist der Gentrifizierung des Viertels und den Verlockungen des großen Geldes der Investoren zum Opfer gefallen.