Ottawa Charta

Das Papier voll wert, auf dem es geschrieben ward

Die Ottawa Charta feiert still und abseits der Öffentlichkeit Geburtstag.
Wir schreiben das Jahr 1986, die Tage bis zum 21. November. Kapazunder aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich aus der ganzen Welt sitzen zusammen, disputieren und brüten einen Text aus. Es herrscht eine intensive, ausgelassene und konstruktive Stimmung, es rauchen die Köpfe.  Am Ende, es war besagter 21. November, wird ein Text akklamiert, der als zukunftsweisend anzusehen ist.  Die erste internationale Konferenz zur Gesundheitsförderung gebar die „Ottawa Charta“[1]

30 Jahre später ist die Anzahl der Erklärungen[2] und Chartas nicht weniger geworden. Sie alle bestätigen und ergänzen die Ottawa Charta. Der Inhalt und der Ansatz der Charta blieben so aktuell wie damals. Vieles wurde vorweggenommen, auf Probleme, die es heute zu bewältigen gilt, eine plausible Antwort gegeben. In zahlreichen Bereichen (Gesundheitsförderung) sowie für eine Unzahl von Organisationen (etwa WHO) ist sie Richtschnur für das konkrete Handeln.

Doch alles in allem? Die Welt hat sich nicht zu dem entwickelt, was in der Ottawa Charta skizziert wurde. Damals rief man zum aktiven Handeln für das Ziel „Gesundheit für alle“ bis zum Jahr 2000 auf. Davon ist die Welt weiter entfernt, als je zuvor. Also gibt es anläßlich des 30 Jährigen Jubiläums weniger zu feiern, sondern vielmehr die Ottawa Charta wieder ins Gedächtnis zu rufen, weil sie im Furor der neoliberalen Offensiven und des expandierenden, gewinnorientierten Gesundheitssektors die adäquate Korrektur und Antwort bieten könnte!

Worum geht’s in der Charta?

Zum einen prägte die Ottawa Charta einen – für damalige Verhältnisse – durchaus frischen und neuen Blick auf das Thema Gesundheit. Dieser ist – kurz zusammengefasst – von politischen, sozioökonomischen und individuell-persönlichen Entwicklungen geprägt und positiv formuliert. Die Abwesenheit von Krankheit wird als nicht ausreichend gesehen. Dem Thema Gesundheit wird ein anderer Dreh verliehen, als den bis dahin üblichen; vom biomedizinischen Modell[3] geprägten. Äußere Umstände wie „Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Ökosystem, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturresourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit“ sind grundlegende Bedingungen für Gesundheit.

Zum zweiten, dafür ist nicht ausschließlich das Individuum selbst verantwortlich, sondern insbesondere die Politik und darin alle Politikbereiche, die zu dieser positiven Veränderung beitragen können. „In diesem Sinn ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als ein vorrangiges Lebensziel“. Dieses Zusammenspiel von Entwicklung und Fähigmachen des Individuums, seine eigene Verantwortung bei Gesundheit wahrnehmen zu können und das Herstellen von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Gesundheit fördern, zeichnet das Dokument bis heute aus.

Beide Aspekte sind mittlerweile in der Fachwelt unbestrittene Grundlagen für die Gesundheitsförderung. Nicht umsonst gibt es im Bereich der öffentlichen Gesundheit (public Health) immer wieder und zahlreich Forderungen nach einer „health in all policies“ bzw. nach „Gesundheit für alle (GFA)“. Es wäre auch nicht so, dass keine Erfolge erzielt worden sind. So hat die WHO das Programm  „Gesundheit für alle“ bereits 1991 auf der Basis der Ottawa Charta[4] weiter entwickelt. Aus dieser ist das WHO Rahmenkonzept „Gesundheit 21“, als Vision für das 21. Jahrhundert formuliert worden. „Bis zum Jahr 2010 sollten in allen Mitgliedsstaaten … GFA Konzepte formuliert und umgesetzt werden.“ (WHO 1999, 201)

Die „Health in all policies“ Strategie könnte als dritte Komponente der Ottawa Gedankenwelt bezeichnet werden. Das Verständnis von strukturell vernetzten Systemen, die miteinander korrespondieren und sich gegenseitig beeinflussen, wird in dieser Strategie betont. Gesellschaftliche Gesundheitsentwicklung betrifft also nicht ausschließlich den Gesundheitsbereich sondern vielmehr und oft Bereiche, die auf den ersten Blick mit Gesundheitspolitik wenig bis gar nichts zu tun haben. Pointiert brachte das Manuel Carballo, Direktor des internationalen Zentrums für Migration und Gesundheit (ICMH) anläßlich einer Konferenz des Netzwerkes über Gesundheit in der Stadt (ICUH) zum Ausdruck, der meinte, die besten Public Health Träger könnten die ArchitektInnen und StädteplanerInnen sein, weil sie infrastrukturelle Gegebenheiten vor Ort festlegen und umsetzen, die wesentlichen Einfluß auf die Gesundheit der Menschen haben.  Aber das gilt bis heute eben auch für andere Entscheidungsträger_innen, die in Bürokratie und Verwaltung infrastrukturelle Bedingungen schaffen und Ressourcen verteilen.  is erhebliche Auswirkungen zeitigen. Man denke nur an städtebauliche Maßnahmen, die noch immer dem Prinzip des Vorrangs des Individualverkehrs folgen und dem – insbesondere – sozialen Wohnbau, der zumeist unter Billigstbieter  – also strikt ökonomischen Bedingungen – gebaut wird.

Bestimmende Faktoren

Das Zauberwort in der Gesundheitsdebatte sind die sogenannten Gesundheitsdeterminaten, also bestimmende Faktoren für Gesundheit. Diese bestehen aus Persönlichkeitsmerkmalen[5], Faktoren individueller Lebensweisen[6], soziale und kommunale Netzwerke[7], Lebens- und Arbeitsbedingungen[8], ökologische und kulturelle physische Faktoren[9].  Auf sie sollte Gesundheitspolitik und -förderung eingreifen und einwirken, so die stringente Analyse, aus der Ottawa Charta heraus.

Immerhin sind zwei Länder bei der Aufrechterhaltung der Ottawa Ideen explizit und positiv hervorzuheben, Kanada und Schweden. Beide haben diese Konzepte und Vorhaben in eine eigene nationale Gesundheitsstrategie  integriert und ihre gesundheitspolitischen Ziele und Handlungen danach ausgerichtet. In beiden Ländern geht die Entwicklung seit mehr als 20 Jahre voran, endet also nicht in Zielen und Grundsatzerklärungen sondern die Strategie richtet sich auf strukturell implementierte Vorhaben, die den Zielen dienen. Der Paradigmenwechsel ist also nicht nur inhaltlich, sondern in weiterer Folge auch strukturell und finanziell gesichert worden. In Schweden gibt es ein eigenes Institut – das Swedish National Institute of public health (SNIPH)[10].

[11]

Und Österreich?

In Österreich werden die Ottawa Ideen – also die Strategien auf Gesundheistdeterminanten zu richten und eine „health in all policies“ Strategie zu verfolgen – vorrangig von Fond Gesundes Österreich (FGÖ) und dem Österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG) sowie dem Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen (BIQG) getragen. Auf der konzeptuellen Ebene haben sich die Ottawa Leitideen in den Fachstellen der Länder und in den Expert_innenzirkeln durchaus festgesetzt. Der gesamtgesellschaftliche Output und die Umsetzung der Strategien blieben in Österreich jedoch eher in den Kinderschuhen stecken.

Hier fällt auf, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen dem Leitlinien und Zielen und der konkreten Umsetzung große Lücken klaffen. Verschafft man sich einen Überblick über die  verschiedenen Programme und Fördermaßnahmen, so kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, das überwiegend klassische Formen der Präventionsarbeit, die unter dem Titel Gesundheitsförderung firmieren, hauptsächlich individuelle Förderung und Befähigung des/der Einzelnen darstellen und auf den Lebensstil eingreifen. Übergeordnete Strategien und infratsrukturelle Veränderungsprogramme sind selten zu finden; das beginnt bei der unzureichenden Koordination und Vernetzung,  geht zu den fehlenden Rahmenbedingungen und strukturellen Bedingungen und endet bei der konkreten Ausführung von Gesundheitsprogrammen.  Dabei schleicht sich das Gefühl ein, dass der neoliberale Individualisierungsdiskurs dominiert und der Einfluß von mächtigen AkteurInnen (Ärzteschaft, Pharmaindustrie, Wellnesseinrichtungen) konservativ- stabilisierend wirkt. Ökonomische Hintergründe spielen eine große Rolle.

Dies ist keine wesentlich neue Erkenntnis – gerade der Gesundheitsmarkt in all seiner Breite – ist ein Zukunftsmarkt, mit hohen Steigerungsraten und Profiten. Die Individualisierungstendenz in unserer Gesellschaft, die gepaart mit einer Politik der Privatisierung einhergeht, widerspricht der „Public Health“ und der „Gesundheit für Alle“ Idee. Und so ist es nicht verwunderlich, dass viel Geld im System steckt, aber kaum für öffentliche, gemeinwesenorientierte Steuerung. Berechnungen haben ergeben, dass grundsätzlich strukturelle und langfristige Veränderungen und politische Steuerungen auf die Gesundheit der Bevölkerung  wesentlich mehr und besseren Einfluß hat, als etwa Gesundheitsförderungsprogramme, die meist erst dann eingreifen, wenn die Auswirkungen der Gefährdung  durch soziale und politische Strukturen schon virulent wurden. Wie dies etwa bei Burnoutprogrammen deutlich wird. Der bessere Schutz der Arbeitnehmer_innen, rechtliche Regelungen gegen Prekarisierun g und Billigjobs, Erhöhung der Mindestlöhne u.v.m., wären Teil der Gegenstrategien, die effizienter wären, als Personen, die von Burn Out betroffen sind, zu „kurieren“.

Beseitigung von Ungleichheit – beste Gesundheitspolitik

Diesem in der Ottawa Charta angelegten Gedankengang eindrucksvoll untermauert, hat wohl der englische Wirtschaftswissenschafter und Epidemologe Richard Wilkinson gemeinsam mit Kate Pickett[12]. Wilkinson/Pickett konnten mittels Metaanalyse von Studien aus verschiedenen Staaten beweisen, dass die Beseitigung von Ungleicheit die weitaus größten Gesundheitsverbesserungen erzielen würde. Nämlich nicht nur für die arme Bevölkerung sondern auch für alle anderen Schichten. Und dass dies sich nicht nur an den harten, offensichtlichen Fakten ablesen lässt – Morde, Drogentote u.ä.  – sondern auch an allgemeinen Gesundheitsparametern, wie etwa bei Herz-Kreislauferkrankungen, Schlaganfällen und Krebsdiagnosen. Klar wird aus den Wilkinson Erkenntnissen aber auch, dass die alleinige durchschnittliche Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes nicht ausreicht. Übrigens eine These, die sich lange aufrecht halten ließ. Man müsse nur die Arbeiter am Wohlstand teilhaben lassen, dann würde es ihnen besser gehen und sie gesünder sein.

Die Daten von Wilkinson/Pickett zeigen, dass es nicht ausreicht, Wohlstand zu erzeugen, es bedarf auch des Ausbaus eines Sozial-/ Wohlfahrtsstaates, der die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft zu minimieren imstande ist. Krasse Beispiele sind etwa die USA oder auch Großbritannien (GB), die als reiche Staaten bezeichnet werden können, aber in nahezu allen Detailkategorien (etwa im Wohlergehen der Kinder oder gesundheitlichen Problemen) eher an einen failed State – einem unterentwickelten, von Korruption und Armut zerfressenen Staat – erinnern, bei dem die Sozial- und Gesundheitssysteme kaum oder nicht mehr funktionieren, als an reiche und entwickelte westliche Industrienationen.  Das liegt nicht am Wohlstand sondern an der Ungleichheit in den genannten Ländern.

Es bedarf aber auch eines Ausbau von Demokratie, die nicht nur als repräsentatives Staatslenkungssystem und Ausgleichinstrument für gesellschaftliche Widersprüche verstanden werden darf, sondern als Basisinitiative, als Grundströmung in einer Gesellschaft implementiert werden muss, welche auf Freundschaft, Solidarität, Nachbarschaftshilfe und Zusammenhalt basiert. Hierarchische Organisationen (Verwaltung, Firmen, Institutionen) hingegen erzeugen Ohnmacht, erzeugen Subordination, Fremdbestimmung, das Gegenteil von Demokratie. Wilkinson Daten und Zahlen belegen das eindrucksvoll. Leute, die subaltern arbeiten, strengen Hierarchien untergeordnet sind, wenig Selbstbestimmung in ihrem Leben erfahren, die sich selbst nicht als politische Subjekte sondern als Objekte wahrnehmen „denen geschieht“, sind anfälliger für Krankheiten, sind vulnerabler und haben eine geringere Lebenserwartung.

Fazit:

Die 30 Jahre, die seit der Verabschiedung der Ottawa Charta vergangen sind, haben eine sprunghafte Bestätigung der damals postulierten Thesen und den damit verbundenen Schlüssen und Vorhaben gebracht. Die Daten, die gesammelt und ausgewertet wurden, haben eindrucksvoll bewiesen, dass nicht die Individualisierung, der Neoliberalismus und der Abbau von Leistungen des Staates uns Menschen gesünder macht und uns länger leben lässt, sondern ausschließlich Formen des solidarischen Miteinander, des Ausgleichs von Ungleichheit, der Erhöhung von Chancengerechtigkeit  und Partizipation (Demokratie in allen Bereichen). Alles in allem ein Pädoyer für den sozialen Wohlfahrstaat. Insoferne sind aber die letzten 30 Jahre aber auch vergebens gewesen. Der Wohlfahrtsstaat wurde desavouiert. Höchste Zeit die nächsten 30 Jahre anzugehen, um das wieder rückgängig zu machen.

Fußnoten:

[1] Ottawa Charta im Wortlaut. http://www.fgoe.org/hidden/downloads/Ottawa_Charta.pdf

[2] Etwa die Jakarta Erklärung 1997. http://www.who.int/healthpromotion/conferences/previous/jakarta/en/hpr_jakarta_declaration_german.pdf

[3] Das biomedizinische System wird von einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Herangehensweise geprägt, fokussiert auf die Krankheit und sucht nach Faktoren auf deren Verhinderung. Arzt/Ärztin sind darin die AkteurInnen, PatientInnen werden in eine passive Rolle (Objekt) gedrängt.

[4] Zu erwähnen sei hier, dass es auch vor der Ottawa Charta bereits zahlreiche Vorarbeiten gab (etwa Alma Ata Deklaration, 1978, u.a.)

[5] Alter, Geschlecht, Vererbung, körperliche und psychische Besonderheiten

[6] Essen, Rauchen, Trinken, Bewegung, Schlaf…

[7] Nachbarschaft, Freundschafen, kommunale Einrichtungen, Partnerschaft…

[8] Arbeitsbedingungen, Beschäftigung bzw. Arbeitslosigkeit, Wohnort und –verhältnisse, Zugang zu Qualität von Gesundheitsdiensten, Theater, Kunst, Sport….

[9] Umwelt, Funktionieren staatlicher Einrichtungen, Rechtsstaat, Stabile Verhältnisse,  Einkommen,

[10] Näheres zum Thema: Soffried, Jürgen Peter: Die Entwicklung nationaler Gesundheitsziele in Kanada und Schweden. Masterarbeit an der Medizinischen Universität Graz, Graz 2006.

[11] Abb. : Fonds Gesundes Österreich, nach Dahlgren, G., Whitehead M. (1991) Policies and strategies to promote social equity in health. Stockholm: Institute for future studies.

[12] Wilkinson/Pickett: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Deutsche Ausgabe, HaffmansTolkemitt, Berlin, 2010. Eine komprimierte Zusammenfassung der Erkenntnisse von Wilkinson/Pickett finden Sie hier: Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Forum 1, 8. Armutskonferenz, 2010.