In der aktuellen Grazer Wandzeitung Ausreisser #71/16 erschienen, der Artikel „Mit Verve und Dringlichkeit“ Plädoyer für eine neue Bewegung – europaweit.
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Plädoyer für eine neue Bewegung – europaweit
Die Autokraten, Antidemokrat_innen, Rechtspopulist_innen und Rechtsextremen (1) sind auf dem Vormarsch, kollektive Antiaufklärung greift um sich. Wenn nicht bald eine glaubwürdige Gegenbewegung entsteht, wird es eng – sehr eng.
Rechtspopulistische, und -extreme Bewegungen – die nebenbei bemerkt klar unterschieden werden müssen (2) – wachsen in den letzten Jahren rasch. Unter anderem, weil die Zerrkräfte innerhalb der europäischen Gesellschaften immer stärker werden. Zusammenhalt, breit verteilter Wohlstand und sozialer Ausgleich durch den – früher als Errungenschaft gepriesenen – Sozialstaat werden massiv in Frage gestellt. Demokratische Grundpositionen und -werte sind für Reden und Staatsempfänge kostbare Rhetorikware, in der Praxis genießen jedoch Machtpolitik und wirtschaftliches Kalkül fast immer Vorrang. Dies kennzeichnet im Speziellen noch keine rechtsextreme Politik, doch deren Vertreter_innen sind die „Abstauber_innen“, die Nutznießer_innen und Ausnutzer_innen dieser Zustände.
Nach den Ursachen fragen
Ein Merkmal der aktuellen Lage besteht darin, Ursachen nicht in den Fokus zu nehmen. Strukturelle Zusammenhänge werden selten offen gelegt und Fragen nicht gestellt. Das bleibt elitären Zirkeln und kritischen Wissenschaftler_innen vorbehalten. Ursache und Wirkung werden in öffentlichen Debatten vertauscht oder zumindest verschleiert. Leicht hingegen fällt es, auf aktuelle Phänomene zu reagieren und individuelle Antworten zu geben, also zu personalisieren. Hierin sind große Teile der Gesellschaft völlig konform. Aktion-Reaktion, in diesen Schemata kann die Lösung von Problemen oder eine alternative Sicht auf Ursachen nur in den engen Grenzen des Denk-Erlaubten erfolgen. Es gelingt nicht, jenen Stimmen Gewicht zu verleihen, die einen Perspektivenwechsel versuchen, die vor dem Handeln das Nachdenken und die Analyse einfordern, damit wir nicht losrennen, ohne überhaupt zu wissen wohin.
Diese Entwicklungen sind nicht neu. Bisher sind allerdings keine wirksamen Gegenbewegungen (3) erkennbar, die eine neue, andere Erzählung der herrschenden Bedingungen dauerhaft sichtbar gemacht hätten. Quer durch die europäischen Länder artikulieren empörte, kritische, bewusste Bürger_innen ihr Unbehagen und ihren Widerstand. Doch Empörung über die Zustände und Empathie mit den Betroffenen allein reicht nicht aus. Sie bleibt punktuell, zeitlich begrenzt, isoliert, Initiativen stecken rasch in nationalen, politischen Verschleißprozessen fest (4).
Doch nur wenn die großen gesellschaftlichen Erzählungen und beherrschenden Doktrine (5) in der EU eine schnelle und radikale Wende nehmen, sich diese in einer umfassenden, europaweiten Bewegung artikulieren und weiters in politisches Handeln umsetzen, besteht Hoffnung auf einen tatsächlichen Kurswechsel.
Dass hieße aber Ursachen-, und nicht Symptombekämpfung. Dass hieße, die Makrobedingungen und wesentliche (wirtschaftliche) Ziele der EU schleunigst zu verändern und dem Siegeszug neoliberaler Gesellschaftsideen (6) mit einem wirksamen alternativen Modell entgegen zu treten.
Kapitalismus schafft Faschismus schafft…
Um den einen, entscheidenden Zusammenhang zu verdeutlichen, soll der denkwürdige Satz von Max Horkheimer in Erinnerung gerufen werden, der meinte: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der möge auch vom Faschismus schweigen.“ (7) Horkheimer kritisierte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, die er als eine von politischen wie ökonomischen Gegensätzen und sozialen Ungerechtigkeiten geprägte analysierte.
Mit der Entfesselung der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, dem Primat der Ökonomie über die Politik (8) und den daraus folgenden sozialen Verwerfungen, beobachten wir aktuell die beklemmende Bestätigung des Horkheimer‘schen Diktums. Durch die konsequente Desavouierung der Idee eines Staates an sich und der eines sozialen Wohlfahrtsstaates im Besonderen – der wesentlich für den Ausgleich von Ungleichheit und für Gerechtigkeit sorgt, Sicherheit bietet, sowie solidarische Prinzipien in der Gesellschaft fördert und aufrecht erhält – werden die Wirkmechanismen des leistungsorientierten, entsolidarisierten, enthemmten Kapitalismus immer deutlicher und dramatischer offenbar.
Die Selbstfesselung und -marginalisierung der Politik hat in der Folge beängstigende Dimensionen angenommen. (9) Denn was bedeutet Politik? Die Verhandlung der öffentlichen Sache, des öffentlichen Gemeingutes. Die Diskussion um Belange des Gemeinwesens in der Öffentlichkeit und mit der Bevölkerung. Die Suche nach Lösungen zugunsten aller, statt das Streben nach höchstmöglichen Profiten einiger weniger. Das Politische verkommt mittlerweile oft jedoch lediglich zu einem Schauspiel, zu einer Farce (10). Die neoliberale Ideologie hält von alldem ohnehin nichts, hier steht ausschließlich das Individuum im Mittelpunkt des Denkens. Es zeigt sich: Wahlen alleine machen noch keine Demokratie aus. Dazu gehört die Lebendigkeit von öffentlicher Debatte, der bewusste Machtausgleich zwischen Gruppen. Dazu gehört auch eine anti-diskriminatorische Grundhaltung, die Zugang und Repräsentanz schafft (11).
Auf der halbherzigen und schlampigen Basis – Demokratie als Mittel zum Zweck – und in unsauberen Grenzbereichen zu Antidemokratie und Autokratie können rechtsextreme und andere extremistische Bewegungen ihre Erfolge feiern – ein Spiegel für die Pseudo- und Halbdemokrat_innen.
Neue Narrative?
Dringlich ist demgegenüber, eine geordnete, eigenständige Idee von der Zukunft der europäischen Staaten und der Europäischen Union, ein neues Narrativ, zu entwickeln. Dieses darf jedoch nicht in den staatstragenden Formeln und erstarrten Ritualen einer Politik enden, die längst keine mehr ist, sondern muss für alle EuropäerInnen (12) sicht- und spürbar im täglichen Leben werden.
Zu beobachten ist hingegen vielmehr eine „Anti- Haltung“, die aus einer grundsätzlichen Opposition geboren ist. Aus dieser heraus wird reaktiv agiert und argumentiert. Da muss dann sogar das Bestehende verteidigt werden, um zu verhindern, dass es noch schlechter wird. Die öffentlichen Diskurse, die mittlerweile immer stärker über „Social-Media“ Kanäle geführt werden, sind von akuter Aufgeregtheit geprägt. Große Verbissenheit tritt zu Tage, wenn es darum geht, auf die Aktivitäten der FPÖ und ihr nahen Organisationen zu rekurrieren. Da wird viel Aufwand betrieben, recherchiert, kommentiert, weitergeleitet, verbreitet und empört. Dabei fällt aber offensichtlich den wenigsten auf, dass man sich der Themen, die die FPÖ und andere rechte Gruppierungen vorgeben, selbst bedient und damit zu Handlangern genau jener Kräfte und Inhalte wird, die man ablehnt und zu bekämpfen vermeint. So verharrt man in einem (werte)-konservativen (neoliberalen) -rechten Narrativ, das gebannt der FPÖ beim Politik machen zusieht. „Das Boot ist voll“ und „Grenzen zu“ sind derlei hegemonial durchgesetzte Narrative von FPÖ, AfD & Co. In der Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Politikwissenschaft spricht man dabei von „Frames“ (13) und von „agenda setting“ (14). Selbst gute Gegenargumente nützen demgegenüber nichts. Es bleibt der Diskurs der Rechten. „Das Boot ist nicht voll“, ist also keine adäquate Antwort. Viel stärker wirken hingegen eigene Frames (15). Diese sind allerdings weitaus seltener auszumachen. So kommt es nicht von ungefähr, dass sich in zahlreichen Bereichen rechts-konservativ-extreme Positionen Bahn brechen und in den Köpfen der Menschen zu einem Bild (=Frame) verfestigen, das trotz sämtlicher inhaltlichen und eigeninteresslichen Widersprüche viel wirkmächtiger ist, als all die aufklärerischen und an die Logik appellierenden Versuche der Widerlegung.
Medien als Bildermacher
Die großen Medienkonzerne und deren Produkte, die im Einfluss herrschender, gesellschaftlicher Strömungen stehen und Nutznießer_innen, Beschleuniger_innen und Entwickler_innen dieser sind, tun ihr übriges dazu, bestimmte Frames und Wertigkeiten zu verankern. Und wiederum sind es politische Entscheidungen, die jene Lage schaffen und die nötigen ökonomischen und machtpolitischen Akzente setzen, die in erster Linie darauf abzielen, für sich maximalen Profit zu erzielen (16).
Der Sommer 2015 hingegen bewies, dass die öffentliche Debatte auch anders beeinflusst und neue Frames und Narrative wirkmächtig werden können. Tausende Flüchtlinge kamen nach und zogen durch Österreich. Angesichts der riesigen Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft musste zwischenzeitlich sogar der Boulevard umschwenken und war voll von positiven Nachrichten zu Flüchtlingen. Der Moment, aus dieser Kerbe eine Schneise zu schlagen und die Richtung zu ändern? Ja – vielleicht.
Es braucht mehr als kurze Impulse
Das Hilfsnarrativ ist nicht die Alternative, das sei hier dezidiert festgehalten. Wir müssen schon strukturell und politischer denkend, also noch mal einen Schritt weiter gehen. Das Beispiel soll jedoch verdeutlichen, dass ein anderer öffentlicher Diskurs möglich ist. Soll dieses andere Narrativ keine zeitlich, begrenzte Anomalie sein, bedarf es aber eines Plans, einer konzertierten und gemeinsamen Strategie, die gezielt an bestimmten Frames und Agendas/Themen dran bleibt und somit dem neoliberalen, konservativen, rechten Duktus wirksam entgegen tritt.
Ein Dilemma dabei ist, dass es „die Zivilgesellschaft“ nicht gibt, dass aus einer Facebook-Freund_innen- oder Twitter Follower-Gemeinde noch keine gemeinsame Bewegung und aus einer ehrenamtlichen Flüchtlingsinitiative nicht automatisch eine Organisation entsteht. Die Empörungskultur und die aktuellen Formen des Social Media Aktivismus ersetzen nicht reales, politisches Handeln. Sie ersetzen nicht dauerhafte Organisation, strategische Überlegungen und Zielsetzungen (17), die abseits von selbst wichtigsten Detailinteressen wie Minderheitenschutz oder Anti-Diskriminierung das große Ganze im Auge behalten und zur Verteidigung ansetzen.
Es geht schlicht um unsere Grundlagen, die zur Disposition gestellt werden.
Es bedarf einer breiten Reformbewegung, die sich mit Verve und Hingabe, mit grundsätzlichen, radikalen Zielen (18) und neuen strategischen, kommunikativen Mitteln dem Projekt Demokratie und öko-sozialer-gemeinwesenorientierter Europäischen Union (19) widmet.
Ob uns das in kurzer Zeit gelingt? Neben rationalem Vorgehen und effektivem Umsetzen ist dafür eben auch ein großes Ziel – eine Begeisterung für die Idee der Demokratie und einer sozialen EU – die dringlichste Voraussetzung.
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(1) Ja es gibt sie und nicht in geringer Zahl. Die Führungsfiguren der Rechtsextremen: Marie Le Pen, Alessandra Mussolini, Pia Kjaersgaard, Frauke Petry u.a.
(2) Siehe dazu u.a.: http://www.boell.de/de/2016/06/30/zehn-thesen-zum-rechtspopulismus-der-gegenwart
(3) Das heißt nicht, dass es nicht viele einzelne Stimmen dagegen gäbe, nur sind diese nicht als eine gemeinsame organisationale Einheit wahrnehmbar.
(4) Hier zu erwähnen sind beispielsweise Syriza (Griechenland) oder Podemos (Spanien)
(5) Das sind (um einige zu nennen): Wirtschaftswachstum, Deregulierung/Privatisierung, Freihandel, Ausbeutung der anderen Kontinente, Leistungsgesellschaft, neoliberale Vorstellungen von Staat und Individuum, Jeder ist seines Glückes Schmied…
(6) Zwar versteht man darunter ganz unterschiedliche Schulen, etwa die „Chicagoer Boys“, mit Hayek und Friedman, oder auch ordoliberale Strömungen, aber dennoch kann damit eine gemeinsame Linie von Politik bezeichnet werden. Siehe Fußnote 5.
(7) Max Horkheimer: Die Juden und Europa. In: Gesammelte Werke. Band 4, Frankfurt am Main 1988, S. 308 f. Erstveröffentlichung in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. VIII/1939.
(8) Siehe auch: Althaler, Karl, S. (Hg.) Primat der Ökonomie. Über Handlungsspielräume sozialer Politik im Zeichen der Globalisierung, Metropolis Verlag, 1999.
(9) Siehe etwa aktuelle Entwicklungen rund um US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump oder den gewählten philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte.
(10) Einen Beitrag und einen Teil der Analyse liefert dazu Colin Crouch, der titelgebend den Begriff von Jacques Rancière übernahm und mit seinem Buch „Postdemokratie“ (Frankfurt a.M., 2008) popularisierte.
(11) Wie einseitig diese immer noch beschaffen ist, zeigt auch die Dominanz der „Androkratie“ – der Beherrschung der Politik durch Männer, siehe dazu u.a.: http://www.bpb.de/apuz/33575/die-allgegenwart-der-androkratie-feministische-anmerkungen-zur-postdemokratie von Birgit Sauer.
(12) Und das schließt alle mit ein, die hier leben und wohnen!
(13) Siehe auch Interview in ORF-FM4 mit Elisabeth Wehling unter http://fm4.orf.at/stories/1693813/
(14) Siehe auch Analyse von Christoph Hofinger in Falter 21/16. „Der Kampf um die Mitte“
(15) Frames entstehen im Kopf und sind mit Bildern gefüllt, die wir mit einzelnen Wörtern verbinden, über die wir Sprache wahrnehmen und die unser Denken strukturieren. Jeder Frame beinhaltet eine Reihe von Konzepten und unbewussten Schlussfolgerungen, die nicht im Wort selbst vorhanden sind. Jedes Wort, das wir hören, erweckt einen Frame. (vgl. Elisabeth Wehling)
(16) Gerade in Österreich ist die eingeschränkte Medienvielfalt fast schon legendär, ebenso wie durch Presseförderung und Inseratenaufkommen jene Medienkonzentration, Boulevardisierung und politische Einflussnahmen nicht verhindert werden, im Gegenteil. Dazu siehe auch: Studie zur Medienkonzentration: http://www.medien-vielfalt.at/download/mv_wn_2013-05.pdf, sowie Evaluierung der Presseförderung https://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId=50443
(17) Siehe auch Astra Taylor: Aktivist. Geschichte eines Kampfbegriffes. http://monde-diplomatique.de/artikel/!5302540
(18) Im Sinne von Lösungen, die die anstehenden Probleme an der Wurzel packen.
(19) Mit diesem Begriff ist die Richtung des Projektes skizziert, jedoch bei weitem nicht hinlänglich erklärt.