Im September 2012 ist die Dokumentation des 17. Kongresses „Prävention wirkt!“ von Gesundheit Berlin-Brandenburg erschienen, mit einem Beitrag von mir unter dem Titel:
„Interkulturelle Öffnung als Qualitätsmerkmal in der Gesundheitsförderung“.
Titel und Inhalt zu diesem Workshop-Input entstanden etwa vor einem ¾ Jahr, als ich im Rahmen meines Masterstudiums „Interkulturelle Kompetenz“ an der Donau Uni Krems bei Gesundheit Berlin – Brandenburg (GBB) ein Praktikum absolvierte. Ich trat mit der Idee, einen Online Fragebogen zum Thema Diversität und Interkulturelle Öffnung zu erarbeiten, an die Organisation heran. MitarbeiterInnen von GBB stellten sich dabei als ExpertInnen zur Verfügung und gaben wertvolle Hinweise zur Entwicklung des Fragebogens, der demnächst im Online Modus verfügbar sein wird. In der Zeit des Praktikums legte ich den Fokus auf „Diversitäts- und interkulturelle Fragestellungen“ und nutzte die Möglichkeit, als externer Berater/Coach die Organisation zu durchleuchten, eine Ist-Stand Analyse durchzuführen, MitarbeiterInnen zu interviewen und mich in die Konzepte und verschiedensten Projekte von GBB einführen zu lassen.
Diese Vorgangsweise – eine Ist-Stand-Analyse durchzuführen – ist ein verallgemeinerbares, taugliches Instrument, um in Organisationsentwicklungsprozessen, die mit dem Thema Interkulturelle Öffnung und Inklusionsstrategien angereichert sind, Organisationen und ihre spezifischen Funktionsweisen, Stärken und Schwächen kennen zu lernen und damit auch einen Eindruck darüber zu erhalten, welche Fragestellungen, Herausforderungen, Probleme und Stärken in der Organisation vorhanden und dringlich sind, bzw. welche kurz-, mittel- und langfristigen Veränderungen auf dem Programm stehen.
Eine zweite Regel, die sich bei der Implementierung von Interkultureller Öffnung/ Inklusionststrategien in der Praxis bewährte, ist es, einen breiten Beteiligungsprozess innerhalb der Organisation anzuregen. Die Erfahrungen und Kompetenzen der MitarbeiterInnen sind ein wichtiger Ressourcenpool für den Veränderungsprozess. Sie wissen oft sehr genau, welche Hindernisse im täglichen Ablauf auftauchen, was hemmt und hinderlich ist, wo es an Regeln und Vorgaben fehlt, wo Stärken ungenützt bleiben und vieles mehr.
Im Rahmen dieser zwei Wochen bei GBB beschäftigte ich mich etwas näher mit der Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten, insbesondere mit der Datenbank der Guten Praxis. Ich ließ mich in die Welt der 12 Kriterien und deren Entstehung und Umsetzung einführen. Die Good Practice Datenbank und die dazugehörige fachliche und evidenzbasierte Fundierung des Themas sehe ich als ein geeignetes – für die Praxis – relevantes Instrument, um in der Präventions- und Gesundheitsförderungsarbeit Qualität und Professionalität zu steigern und als Halt und Anstoß für ProjektbetreiberInnen. Gleichzeitig wird es jedoch auch notwendig sein, die 12 Kritierien immer wieder zu überprüfen, zu adaptieren und wenn nötig auch zu erweitern.
Das gilt insbesondere auch für die Frage der Anpassung von Gesundheitsförderung und Prävention bei Menschen, die sich in schwierigen sozioökonomischen Lagen befinden und Migrationshintergrund aufweisen. Bekanntermaßen – hier sei auf die einschlägige Literatur und praxisnahe Diskussion der Spezialeinrichtungen verwiesen – sind Menschen mit Migrationshintergrund durch Flucht- und Migrationsprozesse erhöhten gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt. Exklusion und ausschließende, diskriminierende, strukturellen Mechanismen, wie fehlende Information oder inadäquate Angebote sind dafür verantwortlich, dass sie von bestehenden Angeboten der Gesundheitsförderung und Prävention nicht profitieren können.
Warum Interkulturelle Öffnung?
In diesem Beitrag gehe ich daher der Frage nach, wie ein 13. Kriterium ausgestaltet sein müsste, also welche inhaltlichen, prozessualen, organisationspolitischen Bedingungen in den Fokus der Überlegungen rücken müssten; und zweitens, was würde es für die Auseinandersetzung und Entwicklung der Gesundheitsförderungspraxis bedeuten, wäre ein solches Kriterium bei Guter Praxis mit zu beachten?
Um zum Kern des Themas zu gelangen, sind einige Vorbemerkungen und Begriffsklärungen notwendig. Ich verwende den Begriff der Interkulturellen Öffnung, weil ich ihn für einen – zumindest in Fachkreisen – eingeführten und etablierten Begriff halte, der trotz aller Vorbehalte und praktischer, wie theoretischer Unschärfen, verwendbar erscheint.
Mit dem Adjektiv „Interkulturell“ bietet er die Möglichkeit der kritischen und selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der kulturellen Spähre und der eigenen Haltung dazu. Dieses Feld zu beackern, würde den Rahmen bei weitem sprengen, so viel sei jedoch gesagt: in der Praxis ist die „Kulturdiskussion“ in vollem Gange und eine Überbetonung des „Kulturellen“ zu vermerken. Damit verbunden ist die Gefahr von „Kulturalisierung“ der Themen, Beziehungen und Konflikte verbunden und die kulturelle Spähren bzw. Politiken können gleichzeitig ja nicht verleugnet oder ignoriert werden, sondern müssen „bearbeitet“ werden.
Im Begriff Öffnung steckt ein struktureller Aspekt, der die Veränderung von politischen, organisationalen Rahmenbedingungen zumindest denkmöglich macht und „das Bestehende“ nicht als absolut versteht. Die Antworten auf die Herausforderungen einer zunehmend heterogenen Gesellschaft kann nicht die individuelle Kompetenzsteigerung sein, wenn diskriminierende, homogenisierende/assimilierende und rassistische Strukturen in der Gesellschaft Inklusion verhindern. Daher gilt es konsequenterweise den Fokus auf Strukturöffnungsmaßnahmen zu legen.
Dem Begriff „Interkulturelle Kompetenz“ ist Skepsis entgegen zu bringen. In der Praxis wurde er fast zu einem Allheilmittel empor gehoben und als individuelle Kompetenzsteigerung, im Umgang mit „multikulturellen, sprachlichen und religiösen Situationen verstanden“. Diese Sicht verstärkt zwei Entwicklungen: Erstens, das Thema der Inklusion und der Integration wird zunehmend auf einer individuellen Ebene abgehandelt, nach dem Motto: „Die MitarbeiterInnen brauchen interkulturelle Kompetenz und die MigrantInnen müssen sich anpassen“. Zweitens, was macht die Besonderheit von Interkulturelle Kompetenz aus, um sie zu einer Sonderdisziplin zu erheben? Sind nicht kulturadäquates Verhalten, Ambiguitätstoleranz, Empathie und Selbstreflexion über die eigenen Vorurteile und ähnliche Fähigkeiten mehr ein wesentlicher Bestandteil von sozialer Kompetenz? Würde dann für die Interkulturelle Kompetenz „nur“ eine spezielle Kulturkompetenz übrig bleiben? Und wenn ja, was hieße diese Fokussierung in Bezug auf das Kulturelle? Würde dies nicht erst recht wieder zu einer kulturalisierten und verengenden Sicht auf politische – gesellschaftliche Prozesse führen?
Diese Fragestellungen werden von zahlreichen ExpertInnen beantwortet und kritisch kommentiert. Ich folge da den KritikerInnen (Sprung, Mecherill, Kalpaka) und bin zur Ansicht gelangt, dass Interkulturelle Kompetenzen ohne soziale Kompetenzen/Fähigkeiten nicht denkbar sind und umgekehrt. Wenn es also eine Erweiterung der sozialen Kompetenzen braucht, dann sind dies Fähigkeiten, die nicht mit dem Adjektiv „Interkulturell“ umschrieben werden sollten, sondern eine strukturelle, politische Zusatzqualifikation erfordern; jene, die etwa Oscar Negt bereits formuliert und als „gesellschaftliche Kompetenzen bzw. gesellschaftliche Schlüsselkompetenzen“ bezeichnet hat.
Kein Randthema
Zweite Vorbemerkung: Es handelt sich bei interkulturellen Öffnungsprozessen längst um kein Randthema mehr. Transnationale Migration und Heterogenisierung der Gesellschaften in all den unterschiedlichen Facetten sind gegenwartsbezogene und zukünftige Fragestellungen, die sich in nahezu allen Politikfeldern der Gesellschaft ausbreiten. „Migrationsgesellschaft“ geht über den Begriff der Einwanderungsgesellschaft hinaus und umfasst die neuen Formen von Wanderung – zeitweilige, kurze und längere Aufenthalte, Flucht gepaart mit wirtschaftlichen Überlegungen, Studium, Pendelmigration zwischen verschiedenen Ländern – alles mittlerweile nebeneinander und gleichzeitig. Diese Formen sind Realität. In vielen Bereichen der Politik ist diese Realität jedoch nicht vorgesehen – weder gesetzlich, noch politisch, noch administrativ.
Der Umbau der „interkulturellen Öffnung“ geht tiefer. Er zielt auf Veränderungen, auf ein Aufbrechen von bestehenden Denkkategorien ab. Ziel von Interkultureller Öffnung ist eine gerechtere/inklusive, demokratischere, rassismussensible und diskriminerungsarme Migrationsgesellschaft zu schaffen. Der Realzustand unserer Gesellschaft stellt die Homogenisierung von Nationalkulturen, die Hierarchie von – großteils überhöhten und konstruierten – Kulturen in Frage. Inklusionsgesellschaften lassen multiple und heterogene Identitäten zu und anerkennen hybride Formen von „Kulturen“. Der Realzustand wird also nicht mehr zugunsten einer ideologischen Vorstellung von Nation oder Nationalkultur bekämpft und auch nicht mühsam toleriert, sondern ist legitimer und geförderter Teil Europas. Davon sind wir jedoch weit entfernt. Wir können uns dabei auch nicht auf Best oder Good Practice Beispiele berufen. Denn bei genauerer Hinsicht gibt es die nicht, weder Großbritannien, noch Canada oder die USA sind solche.
Der notwendige Zwischenschritt
Interkulturelle Öffnung ist „nur“ ein Zwischenschritt – wenngleich ein wichtiger und eine notwendige Vorbedingung für die nächsten Schritte – die zu einer demokratischen, rassismussensiblen Inklusionsgesellschaft führen sollen. Das Interkulturelle deutet das auch schon an. Wir befinden uns in einem Zwischenstadium – in einer Transformationsphase – in einem Prozess „Zwischen den Kulturen“. In diesen dürfen wir jedoch nicht stecken bleiben. Die Dominanz des Kulturellen als Raster für politische Prozesse braucht in Folge eine Brechung. Weil der kulturelle Blick auf die Differenz, auf das Anderssein, auf die Unterschiede, mittel- bis langfristig mehr Probleme macht, als er löst.
Wir benötigen – sowohl kollektiv wie individuell – diese Phase, diese Fokussierung, diese spezielle Hinwendung auf die Bedürfnisse des Anderen, auf die Unterschiede und das Entdecken der Gemeinsamkeiten, um auf spezielle Bedürfnisse eingehen zu können, um sensibel für die eigenen Wertungen, Vorurteile und Rassismen zu sein. Wir können nicht einfach sagen: „Okay, vergessen wir das mit der Kultur und ab jetzt gilt eine universalistische, allgemein gültige Vorstellung von einer gemeinsamen Gesellschaft“. So funktioniert es – wie wir bereits erfahren haben – nicht. Es braucht einen vielschichtigen Prozess, der partizipativ ist, gleichzeitig individuell aber auch kollektiv-gesellschaftlich wirkt, um sich in weiterer Folge globaleren Fragen stellen zu können, die drei Aspekte beinhalten:
- Gerechtigkeit – im Sinne der Arbeiten von Richard Wilkinson – Verminderung struktureller Ungleichheiten und deren Auswirkung auf die gesundheitliche Situation von Menschen.
- Rassismuskritisch und -sensibel – Rassismus als krasses, gewaltvolles System der Ausübung von Herrschaft und Dominanz, das es zu überwinden gilt.
- Anerkennung und Partizipation – als ein machtvolles Mittel der Inklusion, Aufnahme und Teilhabe in und an der Gesellschaft.
Was meint IKÖ?
Interkulturelle Öffnung (IKÖ) zielt nicht auf Einzelmaßnahmen in einer Organisation ab. IKÖ erfordert eine Analyse des Bestehenden und folgt danach den Fragen und Problemstellungen, die in Organisationen zu Tage treten. Diese können höchst unterschiedlich sein. IKÖ bezeichnet kein ausschließliches Managementtool, sondern entwickelt einen organisationspolitischen, umfassenden Blick, leitet einen Veränderungsprozess ein und steuert diesen. Die Erfahrungen zeigen auch, dass die Wirksamkeit höher wird, wenn IKÖ in entsprechende und bereits bestehende Systematiken integriert wird (Organisationsentwicklungsprozess, Change Management, Qualitätsmanagement, udgl.). Denn ein weiteres wichtiges Prinzip bei IKÖ ist, dass nicht die Menschen an die Strukturen angepasst werden, sondern die Strukturen an die Menschen (sei es als MitarbeiterIn, als PatientIn, als KundIn, als KlientIn).
Damit richtet sich in einem nächsten Schritt der Fokus weg von „Problemgruppen“ oder „der Zielgruppe MigrantInnen“, hin zu bestehende Strukturen, die durch formelle und informelle Hindernisse Problemgruppen erst schaffen oder Bedürfnisse von Gruppen ignorieren und damit im- oder explizit aussondern.
„Zeitvorgabe“
Ein kurzes Beispiel aus der Praxis soll das Gesagte veranschaulichen. Ein großer Sozialversicherungsträger in Österreich stimmte einer Analyse der Organisation zu und wollte Antworten auf die Frage finden, wie man mit „MigrantInnen besser umgehen könne.“ Ein Team von interkulturellen externen Coaches wurde daraufhin beauftragt und durchleuchtete die Strukturen. An den Schaltern, an denen Versicherte Arztbestätigungen abgeben, Kostenersätze beantragen usw., kam es häufig zu „Problemen mit MigrantInnen“. Es gab Beschwerden von MigrantInnen, die schlecht Deutsch sprachen, dass sie am Schalter diskriminiert worden seien.
Bei der Befragung von MitarbeiterInnen, die am „Schalter“ tätig waren, berichteten diese, dass sie oft Schwierigkeiten hätten, sich zu verständigen. DolmetscherInnen oder mehrsprachige Informationsblätter standen nicht zur Verfügung. Außerdem kam zu Tage, dass es eine Zeitvorgabe pro KlientIn gab, wieviele Minuten also die MitarbeiterInnen pro KlientIn verwenden durften. Wenn es zu schwierigeren Sachverhalten oder Komplikationen in der Kommunkation kam, war die Zeit rasch überschritten. Die MitarbeiterInnen reagierten unterschiedlich darauf. Die einen hielten sich strikt an die Zeitvorgabe, wenn die Zeit vorüber war, musste der/die KlientIn den Schalter freigeben, wenn nötig mit Einsatz der hauseigenen Sicherheitsdienstes. Die anderen waren großzügiger und überschritten die Zeit, bis der Sachverhalt aufgeklärt werden konnte.
Jene, die „nett waren“, wurden bald gezielt von MigrantInnen konsultiert, da sie in ihrer Wahrnehmung „nicht rassistisch waren“. Das sprach sich herum. Diese MitarbeiterInnen gerieten damit noch mehr in „Zeitnot“. Es stiegen die Beschwerden, diesmal nicht von den Migrantinnen, sondern von den „Einheimischen“, die eine Sonderbehandlung der MigrantInnen witterten. Die „großzügigeren MitarbeiterInnen“ gerieten auch noch von anderer Seite unter Druck. Die KollegInnen, die mit der Zeitvorgabe streng umgingen, beschwerten sich nämlich über die Mehrarbeit, denn KlientInnen wichen zu ihren Schaltern aus, weil sie schneller arbeiteten. So entstand nach und nach „ein mehrfach ungerechtes und diskriminierendes System“ – ausgelöst durch eine Regel (Norm).
Die Führung reagierte erst, als die Beschwerden zunahmen. Die Leitung schickte die MitarbeiterInnen daraufhin zu einer Schulung. „Interkulturelle Kompetenz und Umgang mit Fremden“. Das Seminar, von einer NPO angeboten, war mäßig erfolgreich. Denn die Zwangsbeglückten sahen eigentlich nicht ein, warum sie diese Schulung machen sollten und verstanden diese als Bestrafung.
Wäre die Leitung den zahlreichen Vorschlägen gefolgt, die das Coachingteam mit den MitarbeiterInnen erarbeitet hatten, wären zahlreiche strukturelle, organisatorische und bauliche Änderungen vorgenommen worden. Die SchalterbeamtInnen hätten unter anderen unter besseren Bedingungen gearbeitet und der Zugang von MigrantInnen wäre durch verbesserte Informationen, Kooperationen mit Spezialreichtungen, Dolmetschdienst u.a. erleichtert worden. Alle Beteiligten hätten von dem gemeinsamen Prozess etwas gehabt.
Das Beispiel zeigt, dass das bestehende System (u.a. Zeitvorgabe) die Diskriminierung erst auslöst und vordergründig mit dem Thema Interkulturelle Öffnung und MigrantInnen gar nichts zu tun hat. Die alleinige Fokussierung auf eine „spezielle Zielgruppe“ würde genauso zu unzureichenden Antworten führen, wie die ausschließliche Beachtung der MitarbeiterInnenperspektive. Beides wichtige Aspekte, aber beides für sich allein stehend nicht ausreichend. Der Ist-Stand ist als 360° Rundumsicht zu verstehen.
Führungskräftepotenzial
Dabei fällt ein Umstand auf, auf den ich vorher bereits aufmerksam gemacht habe. Zahlreiche Führungskräfte verstärkten den Eindruck, dass das Thema für sie ein Randthema ist und sie es nicht der Mühe Wert befunden haben, sich näher damit auseinanderzusetzen. Hier sind in der Praxis Defizite, sowohl in der Ausbildung als auch in der Führungsverantwortung vieler Führungskräfte festzustellen.Führungskräfte sind jedoch ein wesentlicher Schlüssel zum Gelingen von interkulturellen Öffnungsprozessen. Nicht nur, dass sie als Vorbild fungieren müssen, sie sind auch diejenigen, die Mission, Vision und Leitbilder mitbestimmen; zumindest jedoch daran beteiligt sind, Missionen der Organisation in die Realität umzusetzen. Leitendes Personal ist für die konkreten Regeln, Umsetzungsschritte und deren Überwachung verantwortlich und hat Regeln und Grundhaltungen zu transportieren bzw. sie zu verändern, wenn sie nicht praktikabel, effektiv und qualitätsfördernd sind. Beobachtet und verfolgt man ein wenig den Diskurs in der Praxis und die Angebote in der Weiterbildung und Erwachsenenbildung, so fällt auf, dass sich viele Angebote des Interkulturellen Managements und/oder der Interkulturellen Kompetenzen zumeist an MitarbeiterInnen der unteren und mittleren Ebenen richten, interkulturelle Öffnungsprozesse als Angebote für die Führungsebene sind rar gesäht.
Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich IKÖ als einen organisationspolitischen Gesamtprozess definieren, der die größte Chance auf nachhaltige und langfristige Veränderungen dann besitzt, wenn er möglichst umfassend die Bedingungen und Strukturen einer Organisation erfassen kann. Er hat am meisten Strahlkraft, wenn er nicht zu einem „Spezialprozess“ wird, sondern in bereits bestehende Organisationsentwicklungs- oder Qualitätsmanagementprozesse integriert werden kann. Ohne das Bekenntnis der Leitung zur Interkulturellen Öffnung ist er zum Scheitern verurteilt. Aber es geht noch darüber hinaus, die Leitung ist angehalten, den Prozess nicht nur zu dulden und zu implementieren, sondern sich auch aktiv daran zu beteiligen. Nicht zuletzt deswegen, weil sie Veränderungen nachhaltig und tiefgehend beeinflussen können.
Auswirkungen?
Damit wäre abschließend die Frage zu stellen, welche Auswirkungen es hätte, wenn IKÖ als Kriterium in den 12 Kriterien der Good Practice Eingang finden würde? Erstens, es würde wohl zu einer „Normalisierung“ der Debatte führen. Es wäre kein Sonderthema und kein Exklusiv-/ ExpertInnenthema mehr, sondern es würde in der sozialen und gesundheitlichen Projektpraxis eine von vielen Fragestellungen darstellen, mit denen sich Führung und ProjektmanagerInnen zu beschäftigen hätten. Das täte dem Thema und der fachlichen Qualität und Quantität gut. Zweitens, IKÖ würde in eine bereits funktionierende und praktikable Struktur integriert werden und nicht einen Sonderstatus erhalten. Man müsste keine eigenen Strukturen aufbauen, sondern könnte es wie die anderen 12 Aspekte auch behandeln. Drittens, Führungskräfte müssten sich auf einer Metaebene inhaltlich fit machen und eine persönliche wie auch organisationspolitische Position erarbeiten.
Die Beschäftigung mit IKÖ im Zuge einer Projektentwicklung, einer Angebotserstellung, des Aufbaus eines gesundheitsfördernden Netzwerkes etwa, würde vielen Organisationen und deren AkteurInnen verdeutlichen, welche formelle und informellen Barrieren vorhanden sind, um MigrantInnen ansprechen zu können und würde daher die strukturellen Bedingungen in Frage stellen.
Das würde dann die Frage nach dem Zugang und den Bedürfnissen der Zielgruppe betreffen und die hinderlichen Faktoren deutlich machen; wie „barrierefrei“ das Haus, das Büro, die Informationen, die Angebote sind und wie sie gestaltet sein müssten; welche neuen Maßnahmen (baulicher, inhaltlicher oder struktureller Natur) und Regelwerke die Organisation braucht, um MigrantInnen gleichberechtigten Zugang zur Organisation zu verschaffen.
Raimund Geene, Mitbegründer und langjährige Führungskraft bei Gesundheit Berlin, hat im Rahmen einer Tagung 2005 in Berlin zum Thema Qualitätsorientierung und Good Practice darauf hingewiesen, dass die Hinwendung zu einer bestimmten gesundheitlichen Problemstellung, die durch Gesundheitsförderprogramme gelöst oder verringert werden soll, auch Fragen des Herangehens an die Zielgruppe, des Settings der Methodik und der Bedingungen nach sich ziehen. Geene verweist dabei auf das Aufkommen von HIV/Aids und dem damaligen Aufbau von Informationskampagnen, Beratungsstellen und Präventionsarbeit der 1980 und 1990er. Zwangsläufig stellen sich Fragen nach der Wirksamkeit von Maßnahmen, nach dem Strukturen und den Zugangsmöglichkeiten zu der oder den Zielgruppen.
Ebenso ist es mit der Hinwendung zum Migrationsphänomen und zur interkulturellen Öffnung. Würde diese Frage im Rahmen der Good Practice Kriterien behandelt werden, würde dies nicht nur die Frage zur Zielgruppe nach sich ziehen, sondern vor allem auch einen fachlichen Diskurs fördern, der die institutionellen Rahmenbedingungen, die sozialpädagogischen, beraterischen und psychologischen Methoden, die Zugangsbedingungen und –beschränkungen sowie die Ziele der Gesundheitsförderung ins Blickfeld rücken.
Denn dass zahlreiche Gruppen von MigrantInnen von Gesundheitsförderung nach wie vor ausgeschlossen sind, ist auch 2012 Faktum. Die Antwort kann und darf nicht sein, dass in Nischen immer ausgeklügeltere Detailprogramme entwickelt werden, sondern dass der Zugang und die Strukturen so geändert werden, dass möglichst viele den Zugang finden. Daher wird es in den nächsten zwanzig Jahren vermutlich weiterhin interkulturelle ExpertInnen und Spezialeinrichtungen brauchen, die sich mit den spezifischen Problemen von MigrantInnen und Migrantinnengruppen beschäftigen und auf Diskriminierung hinweisen. Aber ein Good Practice Kriterium „Interkulturelle Öffnung“ könnte einen erheblichen Teil der Bevölkerung Ziel der Gesundheitsförderung werden und somit die Ottawa Ziele ein Stück näher rücken lassen.