Folgendes Interview mit Wolfgang Gulis erschien im Zebratl 4/2012:
Entsteht eine Migrationsgesellschaft?
Analyse des Migrationsdiskurses in Österreich
Dieser Frage ging Wolfgang Gulis[1] in seiner Master Arbeit nach, die er im Rahmen seines Studiums „Interkulturelle Kompetenzen“[2] an der Donau Uni Krems vorlegte. Die Zebratl Redaktion bat ihn zum Interview.
Zebratl: Du hast in Deiner Arbeit einen diskursanalytisch-historischen Blickwinkel gewählt. Warum?
Gulis: Aus meiner Zeit bei Zebra hatte ich oft den frustrierenden Verdacht, dass sich in der Asyl- und Migrationspolitik fast nichts ändert und wir uns im Kreise bewegen und immer über das gleiche diskutieren…
Zebratl: … und dem ist nicht so?
Gulis: Nein, wenngleich alles viel länger dauert und das nicht so linear verläuft, wie man es sich erhofft. Aber es hat sich viel verändert.
Zebratl: Wie bist du bei der Arbeit vorgegangen?
Gulis: Zum Ersten, ich habe mich auf die Suche nach markanten, historisch bedeutsamen Situationen gemacht; große Veränderungen, Gesetze, öffentlich-brisante Auseinandersetzungen. Dann bin ich der Frage nachgegangen, ob es innerhalb dieser Marksteine Ähnlichkeiten gibt und man damit Anfang und Ende markieren kann.
Zebratl: Und gibt es die?
Gulis: Ja, ich habe vier ausgemacht. Wobei die letzte Phase, noch nicht abgeschlossen ist und man nicht sagen kann, wann sie abgeschlossen sein wird.
Zebratl: Was kennzeichnet sie?
Gulis: Von Phase zu Phase kommen immer mehr Akteure und Akteurinnen hinzu, die an den Diskursen teilnehmen, dadurch mehr Positionen, Kritik und Vorschläge einbringen und damit auch immer mehr Themenfelder erschlossen werden.
Zebratl: Also ist demnach am Anfang nicht darüber debattiert worden?
Gulis: Genau, 1961 als das Sozialpartnerabkommen[3], ein so ein Meilenstein, vereinbart wurde, waren nur die Spitzen der Sozialpartner damit befasst. Sie haben nicht nur geregelt, dass Arbeitskräfte nach Österreich kommen sollten, sie haben auch gleich das „Wie“ organisiert. Damit waren die sogenannten Gastarbeiter geboren! Diese erste Phase habe ich mit „die Unsichtbaren“ betitelt, weil es nahezu keinen öffentlichen Diskurs über die „Gastarbeiter“ gab und nicht einmal die Politik darüber sprach. Dass dies Gastarbeiter vielleicht auch Rechte haben, daran dachte damals keiner. Die Phase dauerte bis 1974[4]. Da kam die Politik drauf, da brauchen wir ein Gesetz: das Ausländerbeschäftigungsgesetz, das uns ja unsäglicherweise bis heute begleitet.
Zebratl: Danach wurde etwas anders?
Gulis: Mit den Ausländerbeschäftigungsgesetz (1975) geht eine Ära des Stillschweigens zu Ende, der Gesetzlosigkeit möchte man fast sagen. Die Phase zwei ist davon geprägt, dass die „GastarbeiterInnen“ in der Gesellschaft – in Schule, am Arbeitsmarkt, beim Wohnen usw. – wahrgenommen werden; allerdings auch zum Problem gemacht werden. Also nicht die Strukturen, sondern die anwesenden Menschen wurden problematisiert. Daraus enstanden in den 1980er neue AkteurInnen, wie etwa Hilfsorganisationen, Ausländerberatungsstellen und die ersten Selbstorganisationen.
Zebratl: Wann endet die Phase 2?
Gulis: Mit einer weltpolitischen Umwälzung 1989/90. Der Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks stellte alles auf den Kopf, was bisher so einigermassen funktionierte. Ab 1990 ist die dritte Phase „Der Integrationsclash“ auszumachen, in dieser Phase geht es hoch her und Weltgeschichte verdichtet sich mit lokalen, nationalen Ereignissen und Österreich ist da mittendrin.
Zebratl: Gerade aus deiner aktiven Zeit bei Zebra betrachtet, ist das doch eine düstere Zeit; Haiders Anti-Ausländervolksbegehren, Briefbombenterror, Gesetzesverschärfungen, Asylabwehr usw.?
Gulis: Stimmt, das war eine gruselige Zeit. Doch nüchtern betrachtet, war es eine Phase, in der hart um Positionen gerungen wurde, in der gegen all das, was du richtigerweise aufzählst, dagegen gehalten wurde: Das Lichtermeer, die politischen Plattformen, die Aufklärungskampagnen, die Unzahl an Veranstaltungen/ Konferenzen. Österreich ist in dieser Zeit auch der EU beigetreten. Der Rahmen und die Diskussionen haben sich damit nachhaltig verändert. Neue AkteurInnen kommen hinzu, verschiedene wissenschaftliche Disziplinen beginnen sich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen. Der Begriff der Integration wird eingeführt und sehr kontroversiell und zeitweise exzessiv benutzt und manchmal mißbraucht. Aber das ist gleichzeitig auch ein deutliches Zeichen, dass wiederum neue Werte und Rechte geschaffen werden.
Zebratl: Welche?
Gulis: In Phase 1 ging es noch um das Recht auf Existenz, mittlerweile wird der Diskurs darüber kaum mehr geführt. Das ist eine rechtsradikale Minderheitenposition, jetzt geht es um das Recht auf Bildung, auf Teilhabe und auf Chancengerechtigkeit.
Zebratl: Und auch aus dieser Phase sind wir deiner Meinung mittlerweile heraussen?
Gulis: Ja, ab Mitte der 2000er Jahre ist der Strom der Teildiskurse so breit, dass es eine ausdifferenzierte Sicht auf das Thema gibt. Die makropolitischen Veränderungen spielen dabei auch eine große Rolle. Antidiskriminierung, Anerkennungspolitik, Diversitätsansätze sind heute – zwar noch nicht Mainstream – aber diskursfähig und politikwirksam, siehe etwa die Leitbildentwicklungen, Passagen des Charta Dokuments der Steirischen Landesregierung oder einige Teile des NAPI[5]. Das sind immerhin offiziell beschlossene Regierungsdokumente. Und in manchen Bereichen – man denke ans Bleiberecht –, ist die Bundesregierung gezwungen, Angebote jenseits von polizeilichen Zwangsmaßnahmen anzubieten.
Zebratl: Besteht bei so einem Phasenmodell nicht die Gefahr, dass man sich die Geschichte schönredet und dem Mythos einer beständig voranschreitenden Entwicklung das Wort redet?
Gulis: Natürlich, die Gefahr besteht. Daher habe ich auch ExpertInnen interviewt und meine Analyse kritisch beleuchten und reflektieren lassen. Was KritikerInnen betonen und wo ich völlig überein stimme, ist, dass wie in allen Wissenschaften Kategorisierungen grobe Einteilungen sind, die Unschärfen, Auslassungen haben; und daher muss man vorsichtig sein, etwa zu denken, dass mit der neuen Phase die Alte einfach verschwunden sei. Das ist natürlich nicht der Fall. All das, was für die Phasen 1-3 typisch war, gibt es heute auch noch. Staatssekretär Kurz etwa wollte kürzlich Ausländerklassen errichten. Ein Modell, das in Phase zwei als „Ausländerpädagogik“ aufgetaucht ist. Aber der Unterschied ist, dass vor zwanzig Jahren das einfach umgesetzt worden ist, heute regt sich breiter fachlicher Protest.
Zebratl: Wer sind deiner Meinung nach die wichtigsten AkteurInnen, von denen du so oft sprichst?
Gulis: Der Migrationsdiskurs ist durch Vielstimmigkeit und Differenziertheit gekennzeichnet, was ja in Phase 1, 2 und teilweise 3 schmerzlich abging. Besonders wichtig ist dabei die Rolle der NGOs und MigrantInnenorganisationen, denn sie nehmen mitunter zukunftsweisende Positionen ein. 1992 etwa wurde in einem Buch[6] bereits ein Staatssekretariat eingefordert. Es dauerte zwar lange, aber heute haben wir es. Diese Avantgarde Funktion nimmt auch die Wissenschaft ein, die heute ein breites Diskurselement darstellt und Positionen der Politik hinterfragt und kritisch beleuchtet.
Zebratl: Eine Abschlußfrage, was heisst das für die Zukunft?
Gulis: Wir haben eine breite Beteiligung von Wissenschaft am Migrationsdiskurs, aber es besteht zunehmend die Gefahr, dass dieser sich auf wenige Personen konzentriert, das ist hegemonial. Daher ist der alternative ExpertInnenrat[7] eine gute Sache, weil er als zusätzlicher Player auftritt. Wir haben ein Staatssekretariat, das wichtig ist und einiges verändert hat, aber das auch kritische Begleitung und Korrektur braucht. Es gibt Grundsatzpapiere, die wir noch in der Phase 3 nicht hatten, aber es bedarf eine Aneignung und strategische Nutzung der Papiere für die Praxis, das würde auch eine Repolitisierung von kritischen Stimmen bedeuten, die mitunter ziemlich leise geworden sind; um die Aneignung der Werte voranzutreiben und ich hoffe, dass die Partizipation und Selbstäußerung von MigrantInnen und Selbstorganistionen voranschreitet und sie sich von den paternalistischen Stellvertreterdiskurs befreien können. Dieser Player fehlt noch weitgehend.
Zebratl: Wir danken für das Gespräch!
[2] Gulis, Wolfgang: Migrationsdiskurs in Österreich. Analyse der Entstehung des Migrationsdiskurses in der zweiten Republik mithilfe eines Phasenmodell, Master These zum Studium „Interkulturelle Kompetenzen“ an der Donau Uni Kems, Graz 2012.
[3] Das sogenannte Raab-Olah Abkommen, benannt nach den Präsidenten der Wirtschaftskammer und des Gewerkschaftsbundes legte die Anwerbung von „Gastarbeitern“ fest.
[4] Durch den Ölschock wuchs die Wirtschaft nicht mehr und Gastarbeiter – so wie ursprünglich geplant – wurden abgebaut.
[5] Nationaler Aktionsplan für Integration
[6] „Moderne Sklaven“ – Thomas Prader, Promedia Verlag
[7] Ende Oktober 2012 wurde von SOS Mitmensch ein neugegründeter unabhängiger ExpertInnenrat präsentiert, der ein alternatives Maßnahmenpapier vorlegte. www.sos.mitmensch.at/stories/6811/