Die Parabel zur Titanic

Am 14. April 2012 jährte sich der 100. Jahrestag des Untergangs der Titanic. Das Ereignis wird wohl als epochale Katastrophe für immer im Menschheitsgedächtnis gespeichert bleiben. Man möchte meinen, dass Thema ist „durch“. Doch was von der Geschichte tatsächlich übrig blieb, ist eine – großteils verzerrte Geschichte, die einiges in Vergessenheit geraten ließ. Dass man es auch als Sinnbild unserer neuzeitlichen Migrationsgesellschaft lesen könnte und als typisches Narrativ einer kapitalistischen, wettbewerbsorientierten Gesellschaft, die Profit um jeden Preis, sowie Ungerechtigkeit und Ungleichheit fördert, davon soll hier die Rede sein.

Die Titanic stieß bei ihrer Jungfernfahrt von Southampton nach New York etwa 300 Kilometer südöstlich von Neufundland kurz vor Mitternacht auf den 15. April 1912 auf einen Eisberg und sank innerhalb von etwas mehr als zwei Stunden. Dabei verloren zwischen 1.490 und 1.517 Menschen ihr Leben[1].

Trotz des großen öffentlichen Wirbels, der um die Jungfernfahrt betrieben wurde, war die Titanic nicht ausgebucht. Statt der 2.400 möglichen Passagiere waren nur etwas über 1.300 Passagen verkauft worden. Ca. 900 Besatzungsmitglieder an Bord kamen hinzu.

Die Titanic firmierte unter dem Titel Luxusliner. Die damaligen Werbestrategen verkauften es als größtes Passagierschiff der Welt. Es sollte ein Triumph für die White Star Line werden, die im steigenden Wettbewerb und Konkurrenzdruck im transatlantischen Schifffahrtwesen, dringend einen Erfolg brauchte. Die zahlreichen Reedereien buhlten mit Superlativen, Exklusivität und Noblesse um die Kundschaft.

In Wahrheit führte die Titanic bei ihrer verhängnisvollen Jungfernfahrt nur einen kleinen Teil Luxuspassagiere mit sich (325), die Mehrheit waren 3. Klasse Passagiere (706) und 2. Klasse (285). Viele arme Auswanderer, die ihr Glück in den USA versuchen mussten, konnten sich eine Passage auf der Titanic mit Mühe leisten. Das billigste Ticket kostete damals 36 US-Dollar, das teuerste immerhin 4.350 US-Dollar. Dass das Schiff ein einfaches und normales „Auswandererboot“ war, wird durch das herrschende, dominante Narrativ über das Schiff – durch Film und Fernsehen begünstigt – völlig zurückgedrängt.

Das Missverhältnis zwischen Schein und Sein wird besonders bei den Opferzahlen deutlich. Die 3. Klasse Passagiere hatten deutlich weniger Chancen, den Untergang zu überleben, als die 1. Klasse. Wurden von den 325 1. Klasse Passagieren immerhin ca. 60% gerettet, so starben in der zweiten Klasse schon mehr als die Hälfte (56%). Dramatisch wurde es in der dritten Klasse. Denn über 75% (528 von 706) starben beim Untergang. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass nur die Mannschaft der Titanic (897) ähnlich hohe Opferzahlen wie die 3. Klasse aufwies. Von den Beschäftigten auf der Titanic starben nicht weniger als 696 Personen, also 76 %. Durchgängig bevorzugt bei der Rettung waren Frauen und Kinder, ihre Überlebenschance war in allen Klassen höher, als die der Männer. Nachvollziehbar, da die Order „Frauen und Kinder zuerst“ auch auf der Titanic galt.  Männer der 1. Klasse hatten immerhin noch eine 40%ige, die der 2. und 3. Klasse nur mehr eine 8 bzw. 16%ige Chance, das Unglück zu überleben. Bei der Besatzung hatten diejenigen am wenigsten Chance, die das vielgepriesene „Wunderwerk der Technik“ am Laufen hielten, also die Heizer, Oberheizer, Elektriker, Zimmerleute, Ingineure für die Turbinen und Dampfkessel.

Warum standen die Chancen schlechter?

Die Antwort ist relativ leicht zu beantworten. Die gesamte Ausrichtung der Titanic war auf die 1. Klasse abgestimmt. An deren Bedürfnisse hatte man gedacht, der Rest wurde diskriminert und nachrangig behandelt. Der Aufbau, die Logistik, die Infrastruktur, der Personalaufwand u.a.m. war für die Luxuspassagiere gedacht und konstruiert, nicht jedoch für die Auswanderer tief unten im Rumpf des Schiffes. Das prunkvolle Stiegenhaus mit der Glaskuppel, das heute noch als imposantes Herzstück der Titanic gepriesen wird, war ausschließlich für die 1. Klasse vorgesehen.

Die schiffsinternen Verbindungen zwischen den Klassen und Decks waren durch verriegelbare Barrieren unterbrochen. Den 3. Klasse Passagieren wurde der Zugang zu den Oberdecks verwehrt. Dafür gab es einen volksgesundheitlichen, wohl aber auch einen schicht- oder klassenspezifischen Grund. Die US-amerikanischen Behörden wollten verhindern, dass durch die Einwanderer Krankheiten eingeschleppt wurden und stellten die 3. Klasse unter Quarantäne. Nach Berichten von Überlebenden blieben diese Sperren auch während der Evakuierung geschlossen. Die Quarantäne hatte aber auch noch den „Nebeneffekt“, dass man während der Überfahrt den „Reichen und Noblen“ den Anblick der „Habenichtse im Unterdeck“ ersparen konnte. Als die Passagiere der unteren Decks mit bekamen, was vor sich ging, mussten sie erst mühsam die Barrieren  – über Außentreppen – überwinden.

Ein weiterer entscheidender Nachteil war, dass die 3. Klasse nicht oder nur unzureichend informiert wurde. Die wußten noch immer von nichts, wohin gegen bei den Luxuspassagieren längst mit der Evakuierung begonnen worden war. Während der große Teil der Mannschaft mit der Rettung der 1. Klasse beschäftigt war, gab es im unteren Teil kein Alarmsystem und viel zuwenig Mannschaft, die die Evakuierung in Gang setzen hätte können. Da viele der Auswanderer nur schlecht Englisch sprachen, lag es auch an der fehlenden Verständigung, um die spärlichen Durchsagen und Anweisungen zu verstehen und richtig deuten zu können.

Als Teile der 3. Klasse Passagiere endlich an Deck gelangten, mussten sie erkennen, dass die meisten Rettungsboote bereits zu Wasser gelassen worden waren. Faktum ist aber auch, dass es Kritik an der viel zu geringen Anzahl von Rettungsbooten – bereits vor der Jungfernfahrt – gab und man der Reederei vorhielt, dass sie auf Kosten der Sicherheit Geld sparen würde. Die 1. Klasse Passagiere hatten die vorhandenen Boote in Beschlag genommen. Laut übereinstimmenden Augenzeugenberichten waren im Chaos der Evakuierung viele Rettungsboote jedoch nur halbvoll. Jene, die es in die Boote geschafft hatten, waren zumeist Überlebende der Katastrophe.

Dass die Nobelgäste den Quarantänebestimmungen der USA nicht unterworfen waren, hatte einen faktischen Grund, denn Armut macht noch immer und machte – insbesondere vor hundert Jahren – krank. Und dass es für 3. Klasse keine „Dolmetscher“ und Informationen gab, erinnert doch frappant an ein modernes Krankenhaus, in dem es nicht an hochspezialisierten Instrumenten und Diagnose-und Analysemethoden mangelt. Auch ausreichend Personal für „Klassepatienten“ ist vorhanden, jedoch flächendeckende Informations- und Dolmetschdienste für die Ambulanzen, die hauptsächlich von MigrantInnen frequentiert werden, werden in der Regel nicht zur Verfügung gestellt, da es angeblich an finanziellen Mitteln mangle, so das häufig vorgebrachte Argument.

Keine Naturgewalt sondern zahlreiche Fehler und Sachzwänge

Im Narrativ ist die Titanic den Naturgewalten – ihrem Schicksal – zum Opfer gefallen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung und Fachliteratur kommt zu einem anderen Ergebnis. Ein Bündel an Fakten, Sachzwängen und Entscheidungen führte dazu, dass die Titanic trotz zahlreicher Warnungen unvermindert schnell – zu schnell, um ein erfolgreiches Ausweichmanöver durchzuführen – durch jene gefährliche Passage fuhr, in der bereits andere Schiffe Eisberge gesichtet und dies auch weiter gemeldet hatten. Zahlreiche Spekulationen ranken sich darum.

Ein Argumentation geht davon aus, dass die Informationen über Eisberge, die bereits von anderen Schiffen gesichtet wurden, nicht oder nicht ausreichend zur Brücke gelangten bzw. dort nicht richtig eingeordnet wurden. Möglicherweise deswegen, weil die Offizierscrew mit Führungen und Besichtigungen für die 1. Klasse beschäftigt waren. Ein anderer Erklärungsansatz lautet, dass der Funkverkehr insgesamt gestört gewesen wäre, weil die damals noch in den Kinderschuhen steckenden Funksysteme durch private Grußbotschaften von Passagieren blockiert wurden, die mit ihren Liebsten draußen in der Welt korrespondieren wollten. Man muss auch mit bedenken, dass damals Funksysteme zur Navigation und Steuerung von Schiffen noch nicht vorgesehen waren.

Eine dritte Meinung lautet, dass der Kapitän von seiten seines Arbeitgebers unter Druck gesetzt wurde, der nicht wollte, dass die Titanic – ausgerechnet auf ihrer Erstfahrt – mit Verspätung in New York eintreffen sollte.

Nachdem es beim Auslaufen schon eine kleine Panne gegeben hatte und die Ausfahrt mit einer Stunde Verspätung startete, könnte das durchaus eine Rolle gespielt haben. Nicht zuletzt wird immer wieder unterstellt, dass die Titanic auch im Wettrennen um das sogenannte „Blaue Band“ gestanden sei. Das blaue Band war ein Ehrung für die schnellste Atlantik Überquerung. Es gibt erhebliche Zweifel darüber, ob dies der Grund für die hohe Geschwindigkeit war, denn auf Schnelligkeit war das Schiff nicht ausgelegt. Aber dass die Konkurrenzsituation, die Befürchtung von Imageschäden und das Toppen von anderen Schiffen ein Konglomerat an Außenbedingungen darstellte, das den erfahrenen Kapitän dazu brachte, die Warnungen zu ignorieren und unvermindert schnell die gefährliche Passage zu durchfahren, kann nicht von der Hand gewiesen werden.

Wieder einmal steckt das Geschäft dahinter!

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich das Transatlantik Geschäft erheblich verändert. Der US-Bankier J.P. Morgan begann eine Reederei nach der anderen aufzukaufen. Die britische White Star Line war darunter und wurde dem IMMC Trust einverleibt. Eine der Konkurrenten im großen Geschäft war die Cunard Line. Sie widersetzte sich der Übernahme und hatte zu dieser Zeit die Nase insoferne vorne, als dass sie mit der Lusitania und der Mauretania zwei Schiffe besaß, die das Blaue Band holten und den Rekord bis 1929 inne haben sollten.

Der gesamte IMMC Trust war also gefordert, darauf entsprechend zu antworten und da dies im „Geschwindigkeitswettrennen“ nicht unbedingt gelang, baute man die Olympic Klasse – Olympic,Titanic und Britannic. Schiffe, die nicht die schnellsten, jedoch die schönsten, teuersten und luxuriösesten werden sollten. Es ging ums Geschäft und insoferne sehr wohl um ein Wettrennen, welches sich allerdings nicht allein auf die Geschwindigkeit bezog.

Die Titanic Parabel kann noch immer herangezogen werden. Unser Gesundheitssystem etwa, das zwar eines der teuersten und hochentwickeltsten Systeme ist, verliert zunehmend den sozialen Sinn und moralischen Halt. Es entwickelt sich zu einem „Titanic Luxusliner“, der eigentlich alle Menschen möglichst schnell und umfassend gesund machen sollte, jedoch immer umfassender dem Markt und dessen Prinzipien unterworfen wird. Es werden Wellness Tempel errichtet, Life Style gepredigt und immer spezialisiertere Apparaturen für jene zur Verfügung gestellt, die es sich leisten können. Effizienz, Kostenwahrheit und andere betriebswirtschaftliche Indikatoren beherrschen die Entwicklung des Gesundheitssystems.

Dabei bleibt die große Masse der „normalen PatientInnen/Pasagiere“ ebenso auf der Strecke wie der gesunde Hausverstand, der einem eigentlich sagen müsste, dass im Gesundheitssystem die Menschen und deren Wohlbefinden im Mittelpunkt stehen müssten. Diejenigen, an die nicht mehr gedacht wird, sind jene, die „auf den billigen Plätzen unter Deck“ die Überfahrt mitmachen oder dafür arbeiten dürfen, dass das Schiff funktioniert. Obwohl von ihnen ein großer Teil des Geldes für den Erhalt des Systems kommt, wird auf sie einfach vergessen, wenn es brenzlig wird. Und dann gibt es noch vergessenen Helden, wie die Elektriker und Heizer auf der Titanic, die bis zum buchstäblichen Untergang und Versinken Licht verschafft haben und so die Evakuierung möglich gemacht haben, denn wenn das Licht frühzeitig ausgefallen wäre, wären die Opferzahlen in der stockdunklen mondlosen Nacht wohl noch höher gewesen.

Zu empfehlende Literatur:

Linda Maria Koldau, „Titanic. Das Schiff, der Untergang, die Legenden.“ C.H. Beck Verlag, München 2012.

Metin Tolan, „Titanic. Mit Physik in den Untergang. Piper Sachbuch, München 2011


[1] Die genauen Passagier- und Opferzahlen der Titanic variieren je nach Quellen geringfügig. Im folgenden beziehe ich mich auf die Zahlen, die in http://de.wikipedia.org/wiki/RMS_Titanic veröffentlicht wurden.