Ragnitzbad !

Am Nachmittag, wenn die Sonne schräg über die Wasserfläche des Ragnitzbadbeckens zu scheinen pflegte, war es auf der gekachelten Plattform vor dem Bungalow, der nur zwei hohe Stufen über dem Kinderbecken gebaut worden war, besonders heiß. Alles brannte, glitzerte und gleiste. Wir lehnten mit unseren nassen Rücken an der heissen Hauswand und ließen uns grillen. Dementsprechend sahen wir alle gegen Ende des Sommers aus: Dunkelbraune Haut, strohblonde, helle Haare.

 Wir sprachen wenig, beobachteten die Mädchen hinter unseren Sonnenbrillen und spürten dem Begriff cool nach; was das so bedeuten könnte und übten Machoattitüden, die wir von den Großen kannten. Manchmal raunten wir uns etwas zu, abgehackt, aus dem Zusammenhang gerissen, unseren eigenen Gedanken folgend. Die anderen verstanden schon oder auch nicht. Blicke folgten unauffällig jenen Mädchen, die uns rot werden ließen, wenn wir neben ihnen bei der Kantine, auf die Ausgabe von Eis wartend, standen. Jene, die ebenso überheblich taten wie wir und sich scheinbar nicht um uns kümmerten. Jene, die brav ihre Längen schwammen und dann im Becken am Rand lehnten, mit beiden Armen heraussen, leise tuschelten und warteten, dass etwas passierte. In Zeiten in denen es noch keine Handys, geschweige denn Smartphones, gab, war Kontakt herstellen mit viel mehr Mut, weil direkter, verbunden.

 Manchmal sprangen die Mutigen, also wir, die rotzfrechen Halbwüchsigen, also wir,  von dort oben hinunter in das etwa 1 Meter tiefe Kinderbecken, um die Mütter zu verärgern und die Kleinen zu erschrecken. Dann ging es wieder rauf zum trocknen. Unsere Rücken hinterließen einen Abdruck auf der Hausmauer.

 Der Bungalow auf dem Grundstück war nicht die einzige Besonderheit des Bades. Das Becken grenzte an der hinteren Längsseite, direkt an den Ragnitzbach. Zwei hohe betonierte Stufen vom Becken weg, dann der Maschendrahtzaun, dahinter in drei Meter Tiefe das kühle Bachbeet, haufenweise Gelsen und Mücken. Von dort oben – auf der zweiten Stufe waren es sicher 1 ½ Meter Sprunghöhe – zu springen, erzeugte ein wenig erhöhten Puls. Manche versuchten auf den Zaun auch noch zu klettern und von dort ab zu springen. Dann waren es immerhin 2 ½ Meter Sprunghöhe. Aber das war schwierig und wehe, wenn uns der Besitzer, der Kantineur und Bademeister in einem, dabei erwischte. Dann gab es Lärm und nicht selten musste einer von uns nach Hause.

 Das Becken ist für ein öffentliches Bad jedenfalls klein. 25 Meter lang vielleicht und zehn Meter breit. Das Kinderbecken ist nur durch eine unter Wasser liegende Mauer getrennt. Das Erwachsenenbecken fängt bei 1,40 an und geht bis – ich schätze mal – 2,20 Meter Tiefe. Ich hab dort als ungefähr 6 jähriger – oder war es ein wenig mehr? – schwimmen  gelernt; im Kinderbecken. Zuerst gings mit Tauchen und schwimmen. Da hatte ich schnell raus, da konnte ich das Kinderbecken rasch durchtauchen. Aber bis ich es schaffte, den Kopf über Wasser zu halten, sollte es eine Weile dauern.

 Eine weitere Besonderheit des Ragnitzbades ist auch, dass entsprechen der Größe es auch keine großen Liegeflächen gibt, sondern alles sehr kompakt und überschaubar bleibt. Besonders ins Auge stechen die bunten Umkleidekabinen, die die Liegewiese von drei Seiten umzäunt. Ergibt ein schönes Bild, was uns jedoch damals weniger interessierte. Umkleidekabinen war was für alte Leute. Bis wir drauf kamen, was man darin sonst noch alles tun konnte. Das war aber erst später.

 Spiel und Spass

 Am Becken entlang gab es einige Holzpritschen, dann eine Ablaufrinne, schließlich ein betonierter Weg und der etwas breitere Beckenrand. Eine Zeitlang waren die Pritschen bei uns modern, weil sie als Basislager für allerlei Aktivitäten – wie Eckengangerl, Mädchen hineinschupfen, Köpflerweitsprünge, Staffeltauchgänge quer durchs Becken usw. – hervorragend geeignet waren. Aber meistens lagen wir in einem dichten Knäuel auf der kleinen Liegewiese beieinander. Wir hatten keinen fixen Platz, unser Rudelplatz hing von Sonnenstand, Tagesverfassung, Mädchenanwesenheit und dementsprechenden Hormonspiegel ab.

 Die Eckengangerln gingen im Ragnitzbad über beide Ecken des Beckens. Ich möchte nicht wissen, welchen Lärm wir dabei gemacht haben und wie lästig wir für die anderen Badegäste waren, aber das war uns egal. Das Bad gehörte uns. Der Bademeister duldete es, schritt nur ein, wenn es gar zu wild und laut wurde. Aufgeschürfte Knie, angeschlagene Schienbeine, blutende Zehen waren üblich. Aber eigentlich ist fast nix passiert. Irgendeiner ist einmal am Beckenrand in einer Wasserpfütze ausgerutscht und in die Abflussrinne gefallen. Da kam dann die Rettung, war aber nix schlimmes; Platzwunde, die genäht werden musste. Und eines muss man sagen, die Mädchen waren da voll dabei!

 Ernst und Herzklopfen

 Dann veränderte sich das Ragnitzbad und aus dem ganzen Gehabe und den Träumereien wurde langsam Ernst: Experimentierfeld für die erwachende Sexualität. Mein erster – richtig langer – Zungenkuss fand mit einem älteren Mädchen – ich 14 sie 16 – im Bad statt. Im Rahmen von Flaschendrehen – das am Nachmittag zentraler Tagesordnungspunkt wurde – war ich auch einmal Gewinner. Sie hatte schon richtig was von einer Frau. Ich habe noch vage die Erinnerung, die vielleicht aber auch falsch sein kann, dass ich eines Sommers sogar so etwas wie eine Freundin hatte oder waren es nur einige Wochen oder gar nur… ? Egal, es war die ältere der Windisch Schwestern, die auch im Stiftingtal wohnten. Wir lagen auf der Holzpritsche, schmierten uns gegenseitig ein, redeten nur miteinander, hielten Händchen – und wenn mich nicht alles täuscht – lernte ich das Küssen mit und bei ihr. Und was es vor allem ausmachte, wir kamen ins Bad und gingen auch wieder gemeinsam. Wie das dann genau aus war, weiß ich nicht mehr; kann also nicht so schlimm gewesen sein, wenn ich an die späteren Schmerzen, die Trennungen hinterließen, denke.

 Ich rieche noch heute den Duft des Chlorwassers, das verdampfende Wasser auf den Fließen und die Sonnencreme auf der Haut, die stinkende Toilette, in der nie wer war, den Duft der Pommes, der aus dem Kantinenhäuschen waberte, an die Tischtennismarathons und die immer gleichen älteren Herrenrunden, die den ganzen Tag auf Sesseln und Tischen unter Sonnenschirmen Karten spielten, aßen und tranken und nie im Wasser zu sehen waren. Die Erzählung ging, dass sie ganz in der Früh und spät Abends reinsprangen.

 In unserer Runde wurde es exzessiver. Die Fahrräder wurden durch die ersten Mopeds ersetzt und Gerhard, der zwei Jahre älter war, schaffte es sogar in eine der legendären Umkleidekabine zu gelangen. Mit einem Mädchen versteht sich. Ich war in sie auch ein wenig verliebt. Aber die waren halt alle schon älter. Ich war ja da immer der jüngste. Da ging es schon richtig zur Sache. Ich war schockiert, dass dieses fabelhafte, unantastbare, großartige, hübsche Wesen bei so niedrigen Dingen wie Sex mit machte und es auch wollte. Sehr vielsagend, mein Gefühlshaushalt!

 Um 18:00 wurde der Badeschluss ausgerufen. Es kamen die Abendbader, die nach der Arbeit sich ein paar Längen gönnten. Es wurde ruhiger im Bad, die Wiese leerte sich langsam; Zeit zum heimfahren. Die körperliche Müdigkeit, die brennenenden Augen vom Chlor und der rote, erhitzte Kopf bleiben in Erinnerung. Als ich an kam, war es meist Schluß mit dem schönen Tag. Die Eltern waren gerade zu Hause eingelangt, von der Arbeit. Erschöpft, müde, verschwitzt standen sie vor mir und begannen mit ihren Vorhaltungen. Was ich nicht alles getan hätte, was sie mir aufgetragen hatten, ob ich für die Nachprüfung etwas gelernt hätte usw. usf. Mit ihren übellaunigen Gesichtern und ihren schneidenden Stimmen zerstörten sie meine heile Ferienwelt.

 Der Anfang vom Ende

 Irgendwann wurde es dann irgendwie anders – ziemlich anders! Die Clique war nicht mehr so regelmäßig da. Manche gingen schon miteinander, unternahmen etwas zu zweit, wollten nicht mehr mit der ganzen Meute rumhängen. Die meisten verließen sich auch bald wieder und der Liebeskummer und die Wut auf sie oder ihn, begann sich in unser Idyll zu schleichen. Die schönen, heißen Sommer waren plötzlich nicht mehr so schön und manchmal auch ziemlich verregnet. „Wenn der kommt, komm ich sicher nicht.“ Und bevor ich noch was erwidern konnte, hatte sie schon aufgelegt.  Ich habe sie nie mehr gesehen. Ich hätte doch auch trösten können!

 Man fuhr noch hin, aber die Clique war nicht mehr. Manche gingen offensichtlich „fremd“, lagen mit anderen, fremden Leuten auf der Liegewiese zusammen. Manche kamen gar nicht mehr. Die noch übrig geblieben waren, fühlten sich deplaziert, verraten und allein. Was blieb, war das Tischtennisspielen, wofür es sich noch lohnte. Es blieb das insgeheime Hoffen, dass es wieder so werden würde wie früher und eine Sehnsucht. Ragnitz war seltener geworden. Und irgendwann fuhr ich allein im strömenden Regen auf meinem Rad heim und wußte, es war aus. Unwiderruflich.

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